Allgemeines
Der Workshop zu Tom McCarthys Roman Satin Island (2015) hat am 9. Februar 2018 an der Friedrich Schlegel-Graduiertenschule für literaturwissenschaftliche Studien an der Freien Universität Berlin stattgefunden.
Konzeption: Eva Murašov (FU Berlin), Jan Lietz (FU Berlin)
Ankündigung
Als Anthropologe in einer Unternehmensberatung und Kommunikationsagentur ist ‚U.‘ mit der Aufgabe betraut, einen ‚Great Report‘ über die Gegenwart zu verfassen. In Auseinandersetzung u.a. mit Claude Lévi-Strauss und Paul Rabinow stellt er sich dabei Fragen nach den Bedingungen eines produktiven Umgangs mit der Kontingenz sowohl der beobachteten Welt als auch der eigenen Beobachterposition in dieser Welt. Jede Erarbeitung eines narrativen ‚Sinns‘ (seines Berichts, aber auch des Romans) scheint von hier aus geradezu unmöglich, wird dieser schließlich immer wieder aufs Neue unterbrochen oder aufgeschoben. In einer Verbindung aus einer (post-)strukturalistisch informierten, narratologischen Metareflexion und narrativen Verfahren der Akkumulation, Wiederholung, Serialisierung und Generalisierung, reflektiert Tom McCarthys jüngster Roman Satin Island (2015) die Frage nach der Form und den Möglichkeiten des Romans.
Am 09. Februar 2018 fand unser Workshop zu Tom McCarthys Roman Satin Island (2015) an der Friedrich Schlegel Graduiertenschule für literaturwissenschaftliche Studien an der Freien Universität Berlin statt. Der Workshop ist Teil der Reihe Unform, die sich mit der Form des modernen Romans auseinandersetzt.
Den Ausgangspunkt unserer Reihe bildet die Beobachtung, dass dem Roman in der Geschichte der Gattungstheorie wiederholt eine Sonderstellung zugewiesen wurde. Insbesondere im deutschen Sprachraum erscheint der moderne Roman seit dem 18. Jahrhundert als ein Ausnahmefall literarischer Formbildung, da er keinen der rhetorischen und regelpoetischen Schemata aus der Antike, dem Mittelalter oder der Frühen Neuzeit folgt. In der spezifischen Tradition des deutschen ‚Bildungsromans‘ ist diese Formbildung – so etwa in Friedrich von Blanckenburgs Versuch über den Roman (1774) – vom ‚inneren Leben‘ des Protagonisten her gedacht: Die Individuation des Helden und die jeweilige formale Ausgestaltung des Romans können als analoge Instanzen eines nunmehr als morphologisch oder als „endogen“[1] aufzufassenden Formbegriffs verstanden werden. Zunehmend entsteht auch ein poetologisches Bewusstsein dafür, dass die Fülle an Varianten des Romans ebenjener Fülle des „Lebens“ selbst entspricht.[2] Obwohl der moderne Roman sich damit durch einen genuinen Formreichtum auszeichnet, wurde er aufgrund dieser Unbestimmtheit und Offenheit wiederholt negativ als ‚Unform‘ (Clemens Lugowski), ‚dissonant‘ (Georg Lukács) oder ‚amorph‘ (Hans Blumenberg) beschrieben. Aus dieser Spannung heraus verstehen wir den Begriff der ‚Unform‘ nicht als Negation der Möglichkeit von ‚Form‘, sondern als Bestimmung eines produktiven Formsinns jenseits der klassischen Gattungs- und Regelpoetik: als Unform. Verfolgt werden kann diese auf verschiedenen Ebenen: sei es in Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Gegenstand des Romans, seinem Verhältnis zu ‚kleinen Formen‘ wie der Novelle, Gedichten oder Liedern oder seinem produktiven Bezug auf Formbegriffe aus anderen epistemischen Feldern wie den Naturwissenschaften, der Ökonomie oder der Informatik.
Tom McCarthys Roman SI nimmt auf diese gattungstheoretische Frage auf vielfältige Weise Bezug. Bereits auf seinem Cover finden sich die Gattungsbezeichnungen „A treatise, An essay, A report, A confession, A Manifesto“ allesamt durchgestrichen, allein die Bezeichnung „A novel“ bleibt stehen. Angezeigt scheint damit kein Ausschlussverfahren, sondern vielmehr die spezifische Form, in der SI zugleich treatise, essay, report, confession und manifesto ist – als Roman. Diese paratextuelle Mehrfachcodierung und Hypersemantisierung spiegelt sich im Auftrag des Protagonisten U., als Anthropologe in einer Beratungsfirma einen ‚Great Report‘ über die Gegenwart zu verfassen, der nicht weniger als die Bedeutung der Welt aushandelt. „It was all a question of form. What fluid, morphing hybrid could I come up with to be equal to that task?“[3], fragt U. und ruft damit eine Bemerkung des britischen Philosophen Simon Critchley aus einem Gespräch mit McCarthy wieder auf: „For the German Romantics such as Schlegel, the aesthetic form capable of bearing that question of meaning is the novel, and the task becomes writing the great novel of the modern world.“[4]
SI eignet sich nicht bloß die Frage der Unform an, sondern aktualisiert den tradierten Anspruch des modernen Romans unter den Bedingungen einer umfassenden Ökonomisierung seiner Produktions- und Rezeptionsmöglichkeiten. Vor diesem Hintergrund erschien es uns als vielversprechend, den Roman im Rahmen unserer Reihe hinsichtlich der Aspekte (I.) seiner Form, (II.) seiner narrativen Verfahren und (III.) seiner politischen Dimensionen zu diskutieren.
1. Form
In Anschluss an Hans Blumenbergs Aufsatz Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans haben wir uns SI zunächst unter der Hypothese eines Widerstreits zweier Wirklichkeitsbegriffe angenähert, die sich aus Perspektive des Ich-Erzählers U. formieren. Blumenberg erkennt im modernen Roman den Anspruch, „nicht mehr nur Gegenstände der Welt, nicht einmal nur die Welt nachbildend darzustellen, sondern eine Welt zu realisieren.“[5] Dieser Anspruch ist in seiner Genese historisch gefasst und dabei an die Durchsetzung eines Begriffs von Wirklichkeit gebunden, der nicht mehr transzendent oder metaphysisch gedacht wird, sondern als „Resultat einer Realisierung“ von Kontext: „Wirklichkeit als sich konstituierender Kontext ist ein der immer idealen Gesamtheit der Subjekte zugeordneter Grenzbegriff, ein Bestätigungswert der in der Intersubjektivität sich vollziehenden Erfahrung und Weltbildung.“[6] Es kann als Zuspitzung auf eine spezifisch moderne Erfahrung verstanden werden, wenn Blumenberg zudem noch auf einen Wirklichkeitsbegriff hinweist, in dem diese Realisierung von Kontext problematisch wird: Realität wird hier „als das dem Subjekt nicht Gefügige, ihm Widerstand Leistende“ verstanden, als Widerstand gegen eine technische und kognitive Unterwerfung der materiellen Welt durch den Menschen.[7]
In SI scheint sich auf Erzählerebene ein Widerstreit zwischen einem Anspruch auf Wirklichkeit als intersubjektivem Kontext und der Wirklichkeit als Widerstand auszutragen. Probleme des Kontexts und der (Re)-Kontextualisierung werden zentral anhand der Figur des Anthropologen verhandelt, dessen Beruf in der Analyse von Kontexten besteht, die zum einen den Rahmen für soziales Handeln, zum anderen aber auch die „frames of comprehension“ der eigenen Forschung bilden. Für U., der im Gegensatz zu früheren Anthropologen nicht mehr an der Universität, sondern für eine Beratungsfirma arbeitet, hat sich diese Perspektive umgedreht: „I sometimes allowed myself to think that […] my job was to put meaning in the world, not take it from it.“[8] Kontext ist hier nicht mehr bloßer Gegenstand der Analyse, sondern ein Produkt, das in Form von Narrativen an Kunden verkauft wird, seien es Müslihersteller, Stadtverwaltungen oder die EU.
Dabei scheint SI auf eine Bedeutung des contextere – des Zusammenwebens – als Realisierung von Form und Praxis der narrativen Erzeugung von Bedeutung hinzuweisen. Explizit wird dieser Zusammenhang anhand der Form des ‚Great Report‘, die im Verlauf des Romans in einer Art Running-Gag immer wieder thematisiert wird. Dabei kommt U. wiederholt auf das Framing und den Kontext seines Berichts zu sprechen, der sich einfach nicht findet lässt: „I’d begun to suspect—in fact, I’d become convinced—that this Great Report was un-plottable, un-frameable, un-realizeable: in short, and in whatever cross-bred form, whatever medium or media, un-writable.“[9] Dieses Sich-Entziehen des Kontexts wird auch anhand eines ominösen Hintergrundprojekts mit dem Namen ‚Koob-Sassen‘ deutlich, über das U. zwar ausdrücklich nicht sprechen möchte, das dennoch als Projekt einer umfassenden und unüberschaubaren Re-Kontextualisierung des Gesellschaftssystems erkennbar wird: „omnipresent—and elusive“[10].
Mit Bezug auf G. W. Leibniz als Figur des letzten Universalgelehrten, weist U.s Auftraggeber Peyman auf die postmoderne Desintegration bzw. Nicht-Integrierbarkeit der historisch ausdifferenzierten Disziplinen und Perspektiven hin: „Our own era, perhaps more than any other, seems to call out for a single intellect, a universal joint to bring them all together once again – seems to demand, in other words, a Leibniz. Yet there will be no Leibniz 2.0.“[11] Wird über Leibniz in Hinblick auf den ‚Great Report‘ auch das Phantasma einer totalen Darstellung aller Ereignisse und Vorkommnisse aufgerufen,[12] verdeutlicht sich noch einmal die Widerständigkeit der Wirklichkeit gegenüber einer großen Integrationsleistung: „What there will be, is an endless set of migrations: knowledge-parcels travelling from one field to another, and mutating in the process.“[13]
Neben dieser epistemischen fragt SI zugleich nach der Möglichkeit einer ontologischen Widerständigkeit der Wirklichkeit, die in ihrem materiellen Charakter verortet wäre. Im Joint Statement on Inauthenticity der International Necronautical Society (INS) berufen sich McCarthy und Critchley auf eine in Antike und Christentum tradierte Gegenstellung von Form und Materie, deren auch für die Ästhetik in Anspruch genommene Wertung sie programmatisch invertieren wollen: „In short, against […] idealist or transcendent conceptions of art, of art as pure and perfect form, we set a doctrine of poetic of necronautical materialism akin to George Bataille’s notion of l’informe or the ›formless‹: a universe that ›resembles nothing‹ and ›gets itself squashed everywhere, like a spider or earthworm.‹“[14] Dem Totalitätsanspruch der ‚perfekten‘ Form soll die Widerständigkeit der imperfekten, formlosen Materie entgegengesetzt werden: Eine Strategie, die in McCarthys Debütroman Remainder (2005) anhand unzähliger Kaffeeflecken, unkontrollierbarer Körper und widerspenstiger Falten in Bodenteppichen beobachtet werden kann. In SI scheint diese Frage weiterhin zentral, sei es im Motiv der Oilspills oder der Müllberge auf Staten Island. Gegenüber Remainder tritt das Materielle in SI jedoch in einer rein mediatisierten Form als Beobachtungsgegenstand auf und ist dabei immer schon in Prozesse der Antizipation und Latenz von Bedeutung eingebettet. Auch wenn das Materielle hier also niemals jenseits von Kontextualisierung steht, markiert es zumindest ein Moment der Verzögerung und des Bufferings in der Realisierung von Kontext: es kann damit gleichermaßen als Generator immer neuer, semantischer Angebote und Überschüsse, aber auch als Widerstand gegenüber einer gelingenden, semantischen Integration verstanden werden.
2. Verfahren
Diese Widerständigkeit in Prozessen der Kontextualisierung konkretisiert sich in SIs narrativen Verfahren im Umgang mit seinen Motiven. Paradigmatisch werden diese schon zu Beginn des Romans anhand der synthetischen Erinnerung des Protagonisten an Fahrradfahrten in seiner Kindheit benannt: „It wasn’t a specific memory of riding down the hill on such-and-such a day: more a generic one in which hundreds of hill-descents, accumulated over two or three years, had all merged together.“[15] Das Verhältnis des Singulären und Generischen und die darin angelegte Frage nach der Möglichkeit ästhetischer Verallgemeinerung bildet die narrative Matrix von SI. An ihm kristallisiert sich eine Divergenz zwischen dem Anspruch, der an das Erzählen gestellt wird und den – hier in der ökonomischen Terminologie der ‚accumulation‘ und des ‚merging‘ gefassten – narrativen Mitteln, mit denen U. sich seiner Aufgabe in unzähligen Dossiers über Fallschirmspringer oder Oilspills stellt.
Die im Roman ad absurdum geführte Erwartung an den ‚Great Report‘ besteht scheinbar darin, jenseits der Differenz von Allgemeinem und Besonderem zu liegen. Der Anspruch an das Erzählen wäre es, diese Integrations- und Aufhebungsleistung zu vollbringen. Weil aber auch das Erzählen in SI allein als kommodifizierter Teil eben desjenigen epistemischen Feldes verhandelt wird, das es verarbeiten soll, ist es diesem Anspruch nicht gewachsen. Anstelle von narrativer Integration stehen: „Migration, mutation, and what I (Peyman affirmed) call ›supercession‹: the ability of each and every practice to surpass itself, break down its boundaries, even to the point of sacrificing its own terms and tenets in the breaching…“[16] Erreicht werden können derart allerhöchstens generische Mittelebenen, aber keine Totalität.
Die starke, metapoetische Metaphorik und Allegorik der Motive verdeutlicht, dass auch das Erzählen und gleichzeitig die Erzählproblematik als Motiv der Antizipation und Latenz von Bedeutung in den Roman eingeführt, in das System der ‚supersessions‘ eingespeist wird. Insofern das von U. betriebene, übermäßige Pattering seiner eigenen Intention entgegenläuft, arbeiten diese an einer permanenten Desintegration oder De-Realisierung der überschüssigen, motivischen Sinnangebote. Im scheiternden Umgang des Erzählers mit dem Umgang von Kontingenz stellt der Roman diese umso stärker aus.
Deutlich wird dies auch anhand von U.s Suche nach einer vorgängigen Formhypothese für den ‚Great Report‘, die sich gegenüber ihrem Gegenstand immer wieder als inadäquat oder ungenügend erweist. In seinem Umgang mit den sich wiederholenden, vom ihm serialisierten und sich dann wieder verschiebenden Motiven lassen sich dabei eine Vielzahl von Analogien (z.B. Absturz, Verfall, Tod) feststellen. Zugleich ist SI nicht nur von motivischen Analogien, sondern auch von der erzählerischen Analogisierung von Handlungsschemata geprägt. Wie im Vergleich der Geschichten von Petr und Daniel – die, genau wie U., vor der Aufgabe stehen, mit begrenzten Mitteln grenzenlose und hochvolatile Informationen zu strukturieren – deutlich wird, stehen diese zwar in einem Verhältnis der Resonanz, verhalten sich zueinander aber nicht positiv komplementär, sondern eher als ‚Gegen-Realisierungen‘.
SI lebt von einem semantischen Überangebot, das starke Resonanzeffekte erzeugt. Vor diesem Hintergrund – und auch aufgrund der expliziten Erwähnung von Gilles Deleuzes Buch Le pli. Leibniz et le baroque – wurde der Vorschlag formuliert, SI als einen ‚Barock- oder Dekadenzroman‘ zu lesen, der eine Vielzahl von Parallel- und Gegenlektüren provoziert, die Möglichkeit einer Masterepisode, von der aus der Roman abschließend zu lesen wäre, jedoch zurückweist. An deren Stelle stehen narrative Wiederholungen, Brechungen, Verstärkungen und Mutationen, samt einer nicht zu unterschätzenden Menge narrativer ‚MacGuffins‘ – also handlungstreibender Objekte oder Chiffren, deren Bedeutung letztendlich in ihrer überdeterminierten Unbedeutsamkeit liegt. Dazu gehört allen voran der Titel des Romans, der als Finale einer Traumsequenz eingeführt wird und sich am Ende in der Laufschrift eines digitalen Displays anagrammatisch zuerst andeutet und dann wieder auflöst: „STATEN ISLAND FERRY. […] SATE I LAND […] STATE IS ERR. […] SAT AND FRY, SANS LAND, TEN SANDER, TEN IS LAND, FER. AIL. END. SAIL […] S AT I N […] STA I N […] ST“[17].
3. Politik
Zuletzt haben wir das Verhältnis von Ästhetik und Politik in SI diskutiert. SI bietet verschiedene Anknüpfungspunkte für politische Themen wie Umweltverschmutzung, Polizeigewalt oder die ökonomischen Bedingungen eines projektbasierten Lebens im Neoliberalismus. Mit klassischen Modellen politischer Literatur lässt der Roman sich jedoch kaum zusammendenken. Vielmehr ist eine Rückweisung des ‚Engagements‘ wiederholt thematisch. Als U. etwa die Gefahr erkennt, die vom Koob-Sassen-Projekt ausgeht, und sich in Vorstellungen über eine Armee von Anthropologen ergeht, die in einen vandalistischen Widerstand eintreten und die Realisierung dieses Rekontextualisierungs-Projekts verhindern, setzt Madison diese als infantile Heldenphantasien herab.[18] Politischer Aktivismus ist für die ehemals engagierte Madison, deren Erzählung vom G8-Gipfel 2001 in Genua den einzigen regelrecht singulären Erzählstrang des Romans bildet, eine Sache der Vergangenheit. An anderer Stelle imaginiert U., er sei dem Vorwurf einer ‚Ästhetisierung‘ der von ihm mit Faszination beobachteten Ölkatastrophen ausgesetzt und versucht sich damit zu wehren, dass deren vermeintlich politisch-moralische Klassifizierung als „tragedy“ selbst auf einem zugleich ästhetischen Begriff – nämlich demjenigen der literarischen Form der Tragödie – basiere, der sich zudem mit der verklärenden Vorstellung einer unberührten Natur vermenge.[19] Ein inhaltlich oder thematisch motiviertes Engagement kann von hier aus allerhöchstens als Romantik erscheinen.
Die offenkundige – inhaltliche wie formale – Ironie legt die Frage nahe, inwiefern der Roman als (‚kritische‘) Parodie zu lesen ist. Insofern diese Frage darauf hinausläuft, SI als bloße Parodie zum einen auf die Aneignung (post-)strukturalistischer Theorie durch Unternehmensberatungen, zum anderen aber auch auf die kritische und akademische Rezeption des Romans zu lesen, die sich auf das hier angebotene, hermeneutische Spiel einlässt, ohne ihre eigene Verstrickung in Prozesse der ‚commodification of narrative‘ zu reflektieren, scheint sie jedoch falsch gestellt. Offensichtlich bildet diese Einsicht nicht die Pointe, sondern eine der zentralen Prämissen, aus denen das Erzähl- und Romanprojekt SI entsteht. Als Hinweis kann hier eine Bemerkung Madisons dienen, die den Umstand, dass sie sich nach ihrer Entlassung aus der Polizeigewalt mit ihrer Kreditkarte einen Heimflug bucht, als „ironic“ kommentiert: „…it was my credit card that saved me after I’d been protesting against capitalism.“[20] Die Ironie erscheint in SI nicht als Verfahren der Parodie, sondern als genau dasjenige narrative Mittel, das die unausweichliche Verstrickung jeglicher Form von Kritik und Protest in den kapitalistischen Prozess ausstellt. Dass den tradierten Formen der ‚Kapitalismus–‘ und ‚Künstlerkritik‘ längst der „Stachel“[21] genommen wurde, weiß SI von vorn herein.
Vielversprechender erscheint es, die Frage nach der Funktion von Ironie in SI auf formaler Ebene zu stellen. Die Ironie des Romans ist keine subjektiv ironische Haltung der Figuren, sondern eine formale Disposition des Textes, der von der scheiternden Entstehung seines eigenen Metatextes handelt. Sie erstreckt sich aber zugleich auf eine funktionale ‚Uneigentlichkeit‘ des erzählenden Protagonisten, der stets als zweierlei zugleich erscheint: Gegenstand des Romans und (scheiternder) Autor seines virtuellen Metatextes.
Die Anerkennung dieser Disposition markiert in SI den Punkt, an dem die Frage des Politischen verorten werden kann. Sie scheint wieder einmal im Kontext des ‚Great Report‘ auf, wenn U. nicht nur feststellt, dass dieser sich als nicht realisierbar erweist, sondern: dass er wohl schon längst geschrieben – besser: mitgeschrieben – wurde: „Not by a person, nor even by some nefarious cabal, but simply by a neutral and indifferent binary system […]: some auto-alphaing and auto-omegating script…”[22] In den automatisierten und algorithmisch ausgewerteten Protokollen aller menschlichen Aktivitäten in der digitalen Welt entsteht eine Form von ‚Great Report‘, die weder von Menschenhand verfasst, noch von Menschenauge lesbar ist: „Only another piece of software could do that.“[23] Diesem ‚Inhumanismus‘ der Daten steht zugleich die Zentrierung des Romans auf ein erzählendes Subjekt gegenüber. „Would it tell a story? If so, how, and about what, or whom? If not, how would it all congeal, around what cohere?”[24] Diese Fragen, die hinsichtlich der Form des ‚Great Report‘ notwendig offen bleiben, sind für den Roman SI immer schon beantwortet: Der Protagonist erfüllt die Funktion eines Knotenpunkts aller im Roman ‚aufgehobenen‘ Formdispositive (a treatise, an essay, a confession, etc.), insofern diese Beobachtungs- und Urteilsdispositive eines mehr oder weniger handelnden Subjekts werden. Allerdings sollte die hier zitierte Kategorie der Kohärenz in Bezug auf die narrative Formgebung von SI nicht vorschnell als erzählerisches Ideologem bürgerlichen Bewusstseins abgewiesen werden. Schon die Präposition „around“ verweist auf einen Kohärenzbegriff, der gerade nicht auf eine subsumtive ‚Abrundung‘ des narrativen Subjekts U. zu einem psychologischen Subjekt hinausläuft. Wie der ‚hub‘ in einem Netzwerk, bleibt U. über weite Strecken eine funktionale Schnittstelle, die zwar potentieller Weise zwischen sämtlichem Geschehen Zusammenhänge herstellen kann, die aber praktisch lediglich als eine Art Katalysator für semantische Resonanzen, aber auch für Kontingenzeffekte und die zunehmende Erosion von Bedeutung fungiert. In der Dynamik zwischen nervösem Tasten und euphorischem Kombinieren steht sich ein prüfend reflektierendes Subjekt wie eine unzeitgemäße Figur selbst gegenüber.
Gerade das Ende des Romans scheint von einer Erfahrung der Kontingenz geprägt. U. entscheidet sich dagegen, die Fähre nach von Manhatten nach Staten Island zu nehmen: „To go to Staten Island—actually go there—would have been profoundly meaningless. […] Not to go there was, of course, profoundly meaningless as well.“[25] Gedoppelt wird diese Einsicht in der Figur des Bettlers, der die vermutlich längst defekten, öffentlichen Telefone nach Münzgeld absucht und nun einen der Hörer in der Hand hält: „He was still holding a receiver away from his ear, making no attempt to listen or talk into it.“[26] Dieser offene Zustand zwischen Desorientierung und Freiheit führt in SI nicht in die Resignation. Er ist der Ausgangspunkt für U.s Weg zurück in die Stadt — und womöglich Ursprung einer unendlichen Anzahl neuer Erzählungen: Hello? Hello? Ready to receive.
Quellen: [1] Wellbery, David: Form und Idee. Skizze eines Begriffsfeldes um 1800, in: Maatsch, Jonas [Hrsg.]: Morphologie und Moderne. Goethes „anschauliches Denken“ in den Geistes- und Kulturwissenschaften seit 1800, Berlin 2014, S. 17–42. | [2] Campe, Rüdiger: Form und Leben in der Theorie des Romans, in: Avanessian, Armen et al. [Hrsg.]: Vita aesthetica. Szenarien ästhetischer Lebendigkeit, Zürich 2009, S. 193–211. | [3] McCarthy, Tom: Satin Island, New York 2015, S. 78. | [4] McCarthy, Tom: Interview: Simon Critchey, March 29, 2001, in: McCarthy, Tom / Critchley, Simon et. al. [Hrsg.]: The Mattering of Matter. Documents from the Archive of the International Necronautical Society, Berlin 2012, S. 56–83, hier S. 60. | [5] Blumenberg, Hans: Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans, in: ders.: Ästhetische und metaphorologische Schriften, Frankfurt am Main 2001, S. 47–73, hier S. 61. Hervorhebungen im Original. | [6] Ebd., S. 52. Hervorhebung im Origial. | [7] Ebd., S. 53f. | [8] McCarthy: Satin Island, S. 34. | [9] Ebd., S. 126. Vgl. u.a. auch S. 69, S. 95f. | [10] Ebd., S. 68. | [11] Ebd., S. 49. | [12] Leibniz imaginiert diese im so genannten ‚Apokatastasis-Fragment‘. Vgl. Blumenberg, Hans: Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt am Main 1981, S. 121–150. | [13] McCarthy: Satin Island, S. 50. | [14] Critchley, Simon / McCarthy, Tom: Joint Statement on Inauthenticity, in: McCarthy, Tom / Critchley, Simon et. al. [Hrsg.]: The Mattering of Matter. Documents from the Archive of the International Necronautical Society, Berlin 2012, S. 220–234, hier S. 226. | [15] McCarthy: Satin Island, S. 5. | [16] Ebd., S. 50. | [17] Ebd., S. 179f. | [18] Vgl. ebd., S. 139f. | [19] Vgl. Ebd., S. 110–119. | [20] Ebd., S. 173. | [21] Vgl. Boltanksi, Luc / Chiapello, Ève: Die Arbeit der Kritik und der normative Wandel, in: Menke, Christoph und Juliane Rebentisch [Hrsg.]: Kreation und Depression. Freiheit im gegenwärtigen Kapitalismus, Berlin 2010, S. 18–37, hier S. 30. | [22] Vgl. McCarthy: Satin Island, S. 133f. | [23] Vgl. ebd., S. 134. | [24] Ebd., S. 78. | [25] Ebd., S. 185f. | [26] Ebd., S. 189.
Bibliographie
- Deleuze, Gilles: Le pli. Leibniz et le Baroque, Paris 1988.
- Derrida, Jacques: La différance, in: Marges de la philosophie, Paris 1972.
- Duncan, Dennis [Hrsg.]: Tom McCarthy. Critical Essays, Canterbury 2016.
- Haglund, David: The Long Shadow of ‚Two Paths for the Novel‘, in: The New Yorker, 27.02.2015.
- Kachka, Boris: Tom McCarthy Goes to TED, in: vulture.com, 12.02.2015.
- Lévi-Strauss, Claude: Tristes Tropiques, Paris 1955.
- Mallarmé, Stephane: Kritische Schriften, französisch und deutsch, Gerlingen 1998.
- Mathew, Shaj: The Ready-Made Novel. How conceptual art took over avant-garde literature, in: The New Republic, July / August 2015, S. 82f.
- McCarthy, Tom: Remainder, London 2006.
- McCarthy, Tom / Critchley, Simon: The Mattering of Matter. Documents from the Archive of the International Necronautical Society, Berlin 2012.
- McCarthy, Tom: Satin Island, New York 2015.
- McCarthy, Tom: Recessional. Or, the Time of the Hammer, Zürich 2015.
- McCarthy, Tom: Typewriters, Bombs, Jellyfishs. Essays, New York 2017.
- O’Neill, Joseph: Netherland, London 2008.
- Rabinow, Paul: Marking time. On the anthropology of the comtemporary, Princeton 2008.
- Smith, Zadie: Two directions for the novel, in: dies.: Changing my mind. Occasional essays, London 2009.
- Spoerhase, Carlos: Jetlag der Jetztzeit. ‚Satin Island‘ von Tom McCarthy, in: Süddeutsche Zeitung, 10. Juni 2016.