Allgemeines
Finanziert durch die Initiative ‚Stipendiaten machen Programm‘ der Studienstiftung des deutschen Volkes e.V., fand der Workshop zu Johann Wolfgang Goethes Roman Die Wahlverwandtschaften (1809) am 21. und 22. April 2012 im Berliner Büro der Studienstiftung statt.
Organisation: Wolfgang Hottner, Jan Lietz, Micha Huff, Amadeus Haux
Gäste: Prof. em. Dr. Gerhard Neumann, Prof. Dr. Ernst Osterkamp
Ankündigung
Am 1. Juni 1809 schreibt Goethe über seinen Roman „Die Wahlverwandtschaften“ in einem Brief an seinen Freund Karl Friedrich Zelter: „Ich habe viel hineingelegt, manches hinein versteckt. Möge auch Ihnen dies offenbare Geheimnis zur Freude gereichen.“
Seit gut 200 Jahren verliert dieses Werk nichts an seiner geheimnisvollen Strahlkraft. Die wie in „Strudeln kreisend versinkende“ Romanwelt, wie Walter Benjamin Goethes „besten Roman“ treffend beschrieben hat, gilt als der meistinterpretierte Text der deutschen Literaturgeschichte.
Goethe kristallisiert in den „Wahlverwandtschaften“ das natur- und kulturwissenschaftliche Wissen seiner eigenen Epoche; der Roman ist ein unvergleichliches Experiment, das die eigene geschichtliche Gegenwart vor dem turbulenten Hintergrund der Französischen Revolution und der auf sie folgenden politischen Neuordnung Europas zu fassen versucht, sich zugleich aber von ihr wegschreibt. Ein Versuch, der in seiner Radikalität der Darstellungen und der Narration wohl ohne Nachfolger geblieben ist. Das Werk ist ein Prisma des Wandels und der Beschleunigung der Sattelzeit – ein Text, der in seinen selbstreflexiven Brechungen provoziert, und längst selbst zu einen Gleichnis geworden ist in der Rede über den Anbruch des modernen Erzählens.
Der Roman eignet sich deshalb hervorragend, um interdisziplinäre Fragestellungen an ihn heranzutragen. Der Workshop möchte die Fragen, die in den Seminaren in Göttingen, Berlin und München aufgeworfen wurden, erneut aufgreifen, sowie die individuellen Schwerpunkte der einzelnen Seminare in eine breitere Diskussion stellen. Mit Goethe kann man sagen: „Es gilt also auch hier was bei so vielen andern menschlichen Unternehmungen gilt, daß nur das Interesse mehrerer auf einen Punct gerichtet etwas Vorzügliches hervorzubringen im Stande sei.“
Reader
- Reinhart Koselleck: Erfahrungsraum und Erwartungshorizont
- Friedrich Kittler: Ottilie Hauptmann
- David Wellberry: Wahlverwandtschaften 1809
- Ernst Osterkamp: Einsamkeit und Entsagung in Goethes Wahlverwandtschaften
- Helmut Hühn: Ein “tragischer Roman”? Überlegungen zu einem Romanexperiment
- Gerhard Neumann: Wunderliche Nachbarskinder. Zur Inszenierung von Wissen und Erzählen
- Joseph Vogl: Der ökonomische Mensch
- Brigitte Peucker: The Material Image in Goethes’s Wahlverwandtschaften
- Gabriele Brandstetter: Gesten des Verfehlens
Bericht
Am 21./22. April 2012 wurde im Rahmen von „Stipendiaten machen Programm“ ein literaturwissenschaftliches Kolloquium zu Goethes Roman Die Wahlverwandtschaften veranstaltet, zu dem wir uns gemeinsam mit 13 Studierenden aus Berlin, München, Göttingen und Köln durch Unterstützung des Berliner Büros der Studienstiftung im Konferenzraum „Taubenschlag“ einfanden.
An zwei Tagen diskutierten wir intensiv über Goethes epochemachendes Werk von 1809. Für den Samstag konnten wir mit Prof. Dr. Gerhard Neumann einen der renommiertesten deutschsprachigen Literaturwissenschaftler und ausgewiesenen Goethe-Experten gewinnen. Nach Neumanns einführenden Überlegungen, die vor allem poetologische Aspekte in den Fokus rückten, begleitete er uns durch die Diskussion des historisch-epistemologischen Ortes, der medialen Dispositive und der Figurenkonstellation des Romans. Außerdem hörten wir von Seiten der Teilnehmenden Referate zu einigen paradigmatischen Forschungstexten über Die Wahlverwandtschaften.
Für den Sonntag fand sich Prof. Dr. Ernst Osterkamp bereit, den Roman kenntnisreich hinsichtlich seiner biographischen, rhetorischen und gattungsspezifischen Dimension zu untersuchen. Die Abschlussdiskussion wurde wesentlich durch Überlegungen zu methodischen Ausrichtungen der literaturwissenschaftlichen Forschung bestimmt. Als meistinterpretierter Text der deutschsprachigen Literaturgeschichte eignete sich der Roman als Prüf- und Stolperstein in besonderem Maße dazu, die Perspektiv- und Möglichkeitsvielfalt unseres Faches auszuleuchten.
Die Idee zu einer derartigen Veranstaltung entstand während des Auftakttreffens des vierten Geisteswissenschaftlichen Kollegs in Wittenberg im Herbst 2011. Im Gespräch ergab sich, dass an den Universitäten in Berlin, Göttingen und München im anbrechenden Wintersemester jeweils ein Hauptseminar zu Goethes Wahlverwandtschaften stattfinden würde. Diese glückliche Gelegenheit legte nahe, die jeweilige Auseinandersetzung nach Semesterende in Austausch zu bringen und gemeinsam herauszuarbeiten, welche methodischen Ansätze für eine Analyse produktiv gemacht werden konnten. Gerade deshalb sollte ein Schwerpunkt der Kurztagung darauf liegen, verschiedene Untersuchungsperspektiven zu diskutieren und am Roman auszuprobieren.
Aufgrund unserer produktiven Erfahrung und der positiven Resonanz der Teilnehmenden wünschen wir uns eine erneute Auflage dieses Veranstaltungsformats. Haben wir bei der vergangenen Veranstaltung einen klassischen Text der Literaturgeschichte behandelt, soll sich unsere Neugierde nunmehr einem Text der Gegenwartsliteratur zuwenden.