Allgemeines
Finanziert durch die Initiative ‚Stipendiaten machen Programm‘ der Studienstiftung des deutschen Volkes e.V., fand der Workshop zu Alexander Kluges Das fünfte Buch (2012) am 27. und 28. April 2013 im Berliner Büro der Studienstiftung statt.
Organisation: Jan Lietz, Wolfgang Hottner, Micha Huff, Amadeus Haux
Gast: Dr. Philipp Ekardt
Ankündigung
Seit der Wiederveröffentlichung früherer Texte in der Chronik der Gefühle (2000) ist Alexander Kluge, verstärkt durch die Vielzahl der folgenden Publikationen, nicht nur in die literarische Öffentlichkeit zurückgekehrt. Diese Präsenz hat ein intensives literatur- und medienwissenschaftliches Interesse an Kluges Arbeit hervorgerufen: das breit verästelte Werk von Filmen, theoretischen sowie literarischen Texten und Fernsehproduktionen bildet einen ästhetischen Mikrokosmos, der zu einer methodologisch breit gefächerten Auseinandersetzung einlädt.
Das fünfte Buch (2012) reiht sich in das für Kluge zentrale Format der Lebensläufe ein: „Für Menschen sind Lebensläufe die Behausung, wenn draußen Krise herrscht.“ Eine solche Art von Behausung liegt jenseits offizieller Erzählungen, wie etwa derer von Karriere: sie ist der Ort des subjektiven Gefühls und dessen Ausformung im menschlichen Eigensinn. Von diesem Ort aus schreibt Kluge seine eigene Art von Geschichte(n), deren multimediale Tiefschichtigkeit wir im Kolloquium diskutieren wollen.
Nachdem wir uns im letzten Frühling mit Goethes Wahlverwandtschaften (1809) beschäftigt haben, wollen wir uns in diesem Jahr einem zeitgenössischen Autor zuwenden. Dabei soll eine doppelte Perspektive eingenommen werden: zum einen wollen wir ausgewählte Passagen aus Das fünfte Buch konzentriert lesen und diskutieren, zum anderen soll darüber ein Zugang zu einer allgemeinen Diskussion von Kluges Werk ermöglicht werden.
Reader
- Benjamin, Walter: Der Erzähler, GS II.2, S. 438–465.
- Benjamin, Walter: Erfahrung und Armut, GS II.1, S. 213–219.
- Birkmeyer, Jens: Zeitzonen des Wirklichen, Maßgebliche Momente in Alexander Kluges Erzählsammlung »Dezember«, in: Heinz Ludwig Arnold [Hrsg.]: TEXT+KRITIK 85/86, München 2011, S. 66 – 75.
- Ekardt, Philipp: Starry Skies and Frozen Lakes. Alexander Kluge’s Digital Constellations. In: October 138 (Fall 2011), S. 107–119.
- Ekardt, Philipp: Returns of the Archaic, Reserves for the Future. A Conversation with Alexander Kluge. In: October 138 (Fall 2011), S. 120–132.
- Ekardt, Philipp: Digitale Evolution Film – Interview mit Alexander Kluge In: Spex. Magazin für Popkultur. Nr. 329, November/Dezember 2010, S. 40–44.
- Kluge, Alexander: Wer sich traut, reißt die Kälte vom Pferd, DVD mit Booklet, BRD 2010.
- Kluge, Alexander / Richter, Gerhard: Dezember, Berlin 2010.
- Lehr, Andreas: Kleine Formen: Konstellation / Konfiguration, Montage und Essay bei Theodor W. Adorno, Walter Benjamin und anderen, München 2003.
- Menninghaus, Winfried: Geschichte und Eigensinn, Zur Hermeneutik-Kritik und Poetik Alexander Kluges, in: Eggert, Hartmut / Profitlich, Ulrich / Scherpe, Klaus R. [Hrsg.]: Geschichte als Literatur, Formen und Grenzen der Repräsentation von Vergangenheit, Stuttgart 1990, S. 258–272.
- Stiegler, Bernd: Die Realität ist nicht genug, Alexander Kluges praktische Theorie und theoretische Praxis der Montage, in: Heinz Ludwig Arnold [Hrsg.]: TEXT+KRITIK 85/86, München 2011, S. 52–58.
- Stollmann, Rainer: Die Entstehung des Schönheitssinns aus dem Eis, Gespräche über Geschichten mit Alexander Kluge, Berlin 2005.
- Vogt, Ludgera: Der montierte Lebenslauf, Soziologische Reflexionen über den Zusammenhang von Kluges »Lebensläufen« und der Form des Biographischen in der Moderne, in: Schulte, Christian [Hrsg.]: Die Schrift an der Wand. Alexander Kluge: Rohstoffe und Materialien, Osnabrück 2000, S. 139–153.
Bericht
Am Wochenende des 27. und 28. Aprils 2013 haben wir im Rahmen von ‚Stipendiaten machen Programm‘ ein literaturwissenschaftliches Kolloquium zu Alexander Kluges Das fünfte Buch veranstaltet, zu dem sich sechzehn Studierende aus Berlin durch Unterstützung des Berliner Büros der Studienstiftung im Konferenzraum „Taubenschlag“ einfanden. An zwei Tagen hatten wir die Gelegenheit über Kluges letzte Veröffentlichung von größerem Umfang zu diskutieren und dabei in unseren Gesprächen von Dr. Philipp Ekardt, einem ausgewiesenen Kenner von Kluges filmischem sowie literarischem Werk, begleitet zu werden. Nach der Begrüßung der Teilnehmenden und Dr. Ekardts durch Jan Lietz, eröffnete Wolfgang Hottner mit einigen einführenden Überlegungen zu poetologischen Aspekten und zum für Kluge zentralen Thema des Lebenslaufs die Diskussion. Lebensläufe gelten bei Kluge nicht allein als subjektive ‚Gefäße für Erfahrungen‘, sondern haben eine poetologische Valenz hinsichtlich der literarischen Form seiner Texte: ‚Lebensläufer‘ sind die Protagonisten jener Kurzerzählungen Kluges, deren ‚Eigensinn‘ sodann im Kontext zahlreicher paralleler Erzählungen ungeahnten Bedeutungsüberschuss generiert.
Diese Grundkonstellation von Kluges Poetik konnten wir durch zwei Referate anreichern, die Teilnehmer im Vorfeld des Kolloquiums auf unseren Aufruf hin anboten. Den Aspekt des Lebenslaufes als Textform untersuchte Lucas Amoriello bezüglich seiner sozio-historischen, geschichtsphilosophischen und auch ästhetischen Implikationen vor dem Hintergrund zweier Texte Walter Benjamins. Benjamins Befund eines zunehmenden Verlustes der Möglichkeit erzählbarer Erfahrungen – er verortet dies in den sozio-ökonomischen Umwälzungen der industriellen Revolution und sieht den ersten Weltkrieg als Chiffre für deren Kulmination – steht dabei im Kontrast zu Kluges poetologischem Optimismus, dass Erzählungen unter allen Umständen möglich sind. Kluges Konsequenz aus der ansonsten kongruenten marxistischen Geschichtskonstruktion scheint sich sodann auch nicht auf der Ebene der kleinsten erzählerischen Einheit (die bei Kluge intakt bleibt) zu vollziehen, sondern auf der makrostrukturellen Ebene, die jene kleineren Texteinheiten ins Verhältnis setzt.
Hierzu referierte Jan Lietz einige Grundlagen zum Begriff der Montage. Dies betrifft nicht allein die für Kluges Bücher ausgesprochen relevante Text-Bild-Relation; vielmehr charakterisieren sich auch seine Kleinerzählungen durch eine Parallelästhetik, die sich zwischen den jeweiligen Einheiten abspielt. Die Schnittstelle zwischen verschiedenen Erzählungen markiert in dieser Hinsicht eine Erschütterung jener Anschaulichkeiten, die die je einzelnen Texte produzieren: Montage wird als ‚Differenztechnik‘ aufgefasst, die eine nicht-anschauliche, dialektische Zwischenästhetik darstellt. Die Zusammenhangskategorie des makrotextuellen Projekts ist also dezidiert anti-romanesk und zugleich antifragmentarisch, da „der dichotomische Kontrapunkt des Gesamtwerks“ (Ekardt) fehlt. Vielmehr versteht sich Kluges Form als Suche nach ‚robusten‘ Verfahren modernitätsaffiner und doch auch humaner Darstellung von Erfahrungen und Zusammenhängen.
Nachdem der Samstag dem Erarbeiten eines gemeinsamen Verständnishorizontes von Kluges Textprojekt gedient hatte, konzentrierten wir uns am Sonntag sodann auf konkrete Textarbeit und beschäftigten uns dabei mit dem Leitthema der ‚Kälte‘. Kluges literarische Auseinandersetzung mit dieser nimmt ihren Ausgang bei sozialtheoretischen Überlegungen Theodor W. Adornos, die er in seinem Text Erziehung nach Auschwitz anriss. Adornos Desiderat einer ‚Theorie der Kälte‘, das Kluge durch die Einpflegung persönlicher Briefe dokumentiert, sollte die in Kälte erstarrte bürgerliche Befindlichkeit als Möglichkeitsbedingung des Holocaust zur Darstellung bringen. Der Kälte als Metapher der Moderne eignet dadurch außerordentliche Schwere; und es zeigt sich, dass Kluges Arbeit in Text, Bild und Film unter strengstem Ausschluss jedweder Sentimentalität immer wieder um Strategien kreist, der Kälte die Stirn zu bieten. Dies zeigt sich beispielsweise in der vieldeutigen Verwendung des Wortfeldes „wohnen“ oder in den epistemologischen Implikationen, die dem ‚Gefühl‘ als primordialem Unterscheidungsvermögen zukommen: Erkaltet das Gefühl, so ist auch der Intellekt seiner Differenzierungsfähigkeit beraubt.
Dies führte die Diskussion zuletzt hin auf Kluges mediale Persona wie auch auf seine philosophisch-politische Selbstbeschreibung. Grundlegend scheint dabei sein Befund, dass im Kontext der ‚Kälte‘ der soziale Möglichkeitssinn erstarrt und günstige Augenblicke immanenten Glückes oder der Abwendung von Katastrophen verstreichen. Kluges Gegenstand und Poetiken dienen vor diesem Hintergrund nicht zuletzt historiographisch der Verfügbarhaltung vergangener Versprechen sowie politisch der Einforderung vergangener Zukünfte. An dieser Stelle wurde indes die Kritik angebracht, dass Kluges Erzähler eine Autorität verkörpert, die zum einen nicht hinterfragt wird und zum anderen gelegentlich mit fragwürdigen ideologieträchtigen Semantiken operiert.
Im Vergleich zur Abschlussdiskussion des Vorjahres, die sich vor dem Hintergrund von Goethes Ro man Die Wahlverwandtschaften mit der Selbstverortung der gegenwärtigen Literaturwissenschaft befasste, endete das Frühjahrskolloquium 2013 deutlich kontroverser. Trotz der programmatischen Zurückhaltung und (vorgeblichen) formellen Schlichtheit von Alexander Kluges Erzählstil, erwies Kluge sich in der Diskussion als dezidiert politischer Autor der Gegenwart, der zu divergierenden Positionierungen der Diskussionsteilnehmer einlud. (Text: Micha Huff)