Ich habe schon gesehen, dass du jetzt auf Twitter voll aufdrehst, ich selbst werde mit dem Medium ja nicht sonderlich warm, muss ich sagen. Aber schauen wir mal. Dir, Felix, wünsche ich viel Spaß in Mexico. Wir treffen uns hier im Oktober wieder. Bleibt gesund!
Das klingt ja sehr spannend, nach Mexico City wollte ich auch schon immer mal! Freue mich schon auf deinen Bericht!
Ich schreibe über immanente Kritik und Kritik des Organischen in Adornos Einführung in die Dialektik (ursprünglich wollte ich über die Kritik des Organischen als ein Grundmotiv der Philosophie / Soziologie der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts (insb. bei Adorno, Derrida und Luhmann) schreiben, aber meine Betreuerin meinte, das sei als Thema „zu groß“ für eine BA-Arbeit). Na ja, ich komme auf jeden Fall richtig gut voran, macht super Spaß alles!
Lenna, wie du weißt, habe ich mich jetzt bei Twitter angemeldet (@sidoniehaugs), vielleicht können wir uns dort ein bisschen schreiben (du machst doch den Account @nofoundationorg). Wäre doch schade, wenn nun bis Herbst gar nichts passieren würde.
Ich schreibe über immanente Kritik und Kritik des Organischen in Adornos Einführung in die Dialektik (ursprünglich wollte ich über die Kritik des Organischen als ein Grundmotiv der Philosophie / Soziologie der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts (insb. bei Adorno, Derrida und Luhmann) schreiben, aber meine Betreuerin meinte, das sei als Thema „zu groß“ für eine BA-Arbeit). Na ja, ich komme auf jeden Fall richtig gut voran, macht super Spaß alles!
Lenna, wie du weißt, habe ich mich jetzt bei Twitter angemeldet (@sidoniehaugs), vielleicht können wir uns dort ein bisschen schreiben (du machst doch den Account @nofoundationorg). Wäre doch schade, wenn nun bis Herbst gar nichts passieren würde.
Danke, Sidonie, das ist sehr nett von Dir. Ich habe das Glück, vom DAAD ein recht großzügiges Forschungsstipendium gewährt zu bekommen, um mich für dreieinhalb Monate in Mexico City auf die Spuren eines deutschen Exilautors des frühen 20. Jahrhunderts zu begeben. Näheres würde ich an dieser Stelle nur ungern verraten wollen, umso mehr werde ich jedoch – ein wie auch immer bescheidener Erfolg meines Vorhabens vorausgesetzt – im Herbst zu erzählen haben, wenn wir hier wieder zusammentreffen. Bis dahin wünsche ich Euch einen produktiven Sommer und Dir, Sidonie, viel Erfolg mit der Bachelor-Arbeit. Darf ich fragen, zu welchem Thema Du arbeitest?
Ach, das ist aber schade! Ich hatte mich schon tierisch gefreut, euch von einigen Dingen zu erzählen, die ich in den letzten Wochen gelesen habe. (Allem voran Miami Punk von Juan S. Guse. (Aber auch noch ein paar anderen Sachen.)) Naja, vielleicht bietet sich dazu ja im Herbst noch Gelegenheit. (Ich muss jetzt ohnehin erst einmal meine Bachelor-Arbeit schreiben, insofern kommt mir die Pause ehrlich gesagt gar nicht so ungelegen.) Aber sag doch mal, Felix, wo gehst du denn hin? (Viel Spaß auf jeden Fall!)
OK Leute, das neue Semester fängt an und eigentlich würden wir damit auch das Message Board wieder in Betrieb nehmen. Nun hat es sich aber ergeben, dass Felix für einige Monate ins Ausland geht und damit so beschäftigt sein wird, dass du und ich, Sidonie, zu zweit weitermachen müssten. Ich würde stattdessen vorschlagen, dass wir für dieses Semester pausieren und dann im Herbst wieder zu dritt weitermachen. Wäre das für euch okay?
OK, das klingt doch nach einem guten Plan, Sidonie. (Ich rufe dich später mal an, dann können wir das genauer planen. Werde Ende Februar / Anfang März noch einmal mit Eder nach Spanien fliegen, aber Mitte / Ende des Monats sollte klappen, freue mich schon auf dich!) Nun schließe ich das Message Board aber erst einmal für die Semesterferien, Mitte April geht es in alter Frische weiter.
Einem Test, der nach den Gelbwesten benannt ist, sollte sich wirklich niemand unterziehen müssen. Neugierde (vielleicht sogar Begeisterung) hatte mich da am Anfang schon gepackt, weil hier zunächst einmal (ganz im Sinne von Foucaults ‚auf diese Weise / um diesen Preis wollen wir nicht regiert werden‘) der (nicht nur) unsere Zeit bestimmende Antagonismus sichtbar gemacht wurde – nämlich derjenige zwischen arm und reich – und es wurde einer Politik widersprochen, die diese Spaltung perpetuiert. Leider haben sich die Proteste mittlerweile eindeutig als Ventil für rechte Ressentiments und antisemitische Hetze erwiesen, das ist so bitter. Dass Leute wie Edouard Louis und seine Freunde versuchen, die Proteste von linker Seite zu vereinnahmen, mag löblich sein, grenzt leider aber auch an Naivität.
(Diese ganze daran angeschlossene Debatte über die Legitimität oder Illegitimität von Gewalt (zu der übrigens Pamela Anderson den so ziemlich besten Text beigesteuert hat, siehe https://www.pamelaandersonfoundation.org/news/2018/12/4/yellow-vests-and-i) fand ich dann noch einmal für einen kurzem Moment gewinnbringend, weil hier mit zeitgenössischem Vokabular und vor dem Hintergrund des aktuellen politischen Wandels einige Positionen aus dem 19. Jahrhundert aktualisiert wurden. (Andersons Begeisterung für Jeremy Corbyn und Julian Assange finde ich übrigens zutiefst zweifelhaft, das sind keine guten Verbündeten.))
Bevor ich mit meiner Bachelor-Arbeit anfange, komme ich auf jeden Fall noch einmal nach Berlin, so im März wahrscheinlich. Vielleicht magst du auch vorbeikommen, Felix, und wir gucken uns dieses Stück, von dem du da schreibst, alle zusammen an!? Dann komme ich wenigstens auch mal wieder in den Genuss des Berliner Theaters und stehe nicht mehr ganz so ahnungslos da. Dieser Pollesch scheint es euch beiden ja wirklich angetan zu haben, würde mich tierisch freuen wenn das klappt!
(Diese ganze daran angeschlossene Debatte über die Legitimität oder Illegitimität von Gewalt (zu der übrigens Pamela Anderson den so ziemlich besten Text beigesteuert hat, siehe https://www.pamelaandersonfoundation.org/news/2018/12/4/yellow-vests-and-i) fand ich dann noch einmal für einen kurzem Moment gewinnbringend, weil hier mit zeitgenössischem Vokabular und vor dem Hintergrund des aktuellen politischen Wandels einige Positionen aus dem 19. Jahrhundert aktualisiert wurden. (Andersons Begeisterung für Jeremy Corbyn und Julian Assange finde ich übrigens zutiefst zweifelhaft, das sind keine guten Verbündeten.))
Bevor ich mit meiner Bachelor-Arbeit anfange, komme ich auf jeden Fall noch einmal nach Berlin, so im März wahrscheinlich. Vielleicht magst du auch vorbeikommen, Felix, und wir gucken uns dieses Stück, von dem du da schreibst, alle zusammen an!? Dann komme ich wenigstens auch mal wieder in den Genuss des Berliner Theaters und stehe nicht mehr ganz so ahnungslos da. Dieser Pollesch scheint es euch beiden ja wirklich angetan zu haben, würde mich tierisch freuen wenn das klappt!
Fragen habe ich an dieser Stelle keine, aber vielen Dank für Deine Ausführungen Sidonie, zu denen mir gerade erst auf Twitter ein passender Wortwechsel zwischen René Pollesch und einem mir unbekannten Herren untergekommen ist. In der Süddeutschen Zeitung war eine Rezension zu Polleschs neuem Stück Black Maria erschienen, in der – obwohl sie insgesamt eigentlich ziemlich anerkennend war – die Kritik erhoben worden war, dass Pollesch „als guter Kulturlinker“ einen imaginären „Gelbwesten-Test“ nicht bestehe: Es gehe in seinen Stücken nicht ausreichend um Benzinpreise und andere Formen ökonomischer Deklassierung („Von einem der auszog, weil er sich die Miete nicht leisten konnte“ werde ich jetzt gar nicht erwähnen!), sondern lediglich um Diskursordnungen und damit allenfalls verbundene symbolische Ausgrenzungen.
Pollesch präzisierte daraufhin, dass ihn vielmehr „die Abbildung dieser Konflikte durch Hipster und Kulturlinke“ nicht interessiere, womit er eine interessante Perspektive auf den von uns diskutierten Zusammenhang von Kunst und Politik wirft: Verweist er nicht darauf, dass eine Kunstform in der Behandlung ihrer Sujets sich nicht vor der Reflexion auf die eigenen Bedingungen drücken sollte? Wovon kann ein Theater, das von Personen mit einem ganz bestimmten (und wahrscheinlich ziemlich homogenen) Hintergrund gemacht wird, kompetent Auskunft geben? Nicht unbedingt vom ‚wirklich wahren Leben‘ in den Berliner Vorstädten.
Dass das Theater sich in Zeiten ökonomischer Unterdrückung (gab es für das bürgerlicher Theater jemals andere Zeiten?) „[f]ür die plumperen Konflikte der Klassengegensätze und ihre brutalen Ausgrenzungsmechanismen interessier[en]“ müsse, wie es in der Rezension heißt, bleibt auch eine bloße Behauptung, deren Begründungslosigkeit allein sie mir bereits verdächtig macht. Es wird schon stimmen, dass das Berliner Stadttheater selten in nicht-akademische Haushalte diffundiert – so wenig, wie die überregionalen Tages- und Wochenzeitungen. Mir erscheint es als ziemlich durchsichtiges Entlastungsargument, dass ausgerechnet der Kunst gelingen soll, woran der bestgemeinte Journalismus selbst scheitert.
Dieses herablassende Gerede von Pollesch als „gutem Kulturlinken“ ist schauderhaft. Gerade in „Zeiten härterer Klassenkämpfe“ müsste man jene Begriffe mit Leben füllen, statt sie sarkastisch in den Schmutz zu ziehen. Mal abgesehen davon, dass die Polemik gegen den „guten Kulturlinken“ sowieso viel besser auf diejenigen passt, die ausgerechnet vom Theater fordern, dass es den „Gelbwesten-Test“ bestehen müsse.
Gerade Pollesch hat mit jedem seiner Stücke gegen diese Anmaßung des Theaters Stellung bezogen, ‚moralische Anstalt‘ zu sein und den Zuschauern die republikanische Gesinnung beizubringen. Eine Anmaßung, die für das Publikum übrigens äußerst bequem ist, wird doch auf der Bühne, vermittelt durch den klassischen Kanon, das Gute, die Kultur und das Linke sozusagen professionell gewährleistet. Genau diese Arbeitsteilung zwischen Bühne und Publikum thematisiert Pollesch unentwegt. Worauf er damit positiv hinaus möchte und ob dieses Projekt gut oder schlecht gealtert ist, ist eine andere Frage.
Pollesch präzisierte daraufhin, dass ihn vielmehr „die Abbildung dieser Konflikte durch Hipster und Kulturlinke“ nicht interessiere, womit er eine interessante Perspektive auf den von uns diskutierten Zusammenhang von Kunst und Politik wirft: Verweist er nicht darauf, dass eine Kunstform in der Behandlung ihrer Sujets sich nicht vor der Reflexion auf die eigenen Bedingungen drücken sollte? Wovon kann ein Theater, das von Personen mit einem ganz bestimmten (und wahrscheinlich ziemlich homogenen) Hintergrund gemacht wird, kompetent Auskunft geben? Nicht unbedingt vom ‚wirklich wahren Leben‘ in den Berliner Vorstädten.
Dass das Theater sich in Zeiten ökonomischer Unterdrückung (gab es für das bürgerlicher Theater jemals andere Zeiten?) „[f]ür die plumperen Konflikte der Klassengegensätze und ihre brutalen Ausgrenzungsmechanismen interessier[en]“ müsse, wie es in der Rezension heißt, bleibt auch eine bloße Behauptung, deren Begründungslosigkeit allein sie mir bereits verdächtig macht. Es wird schon stimmen, dass das Berliner Stadttheater selten in nicht-akademische Haushalte diffundiert – so wenig, wie die überregionalen Tages- und Wochenzeitungen. Mir erscheint es als ziemlich durchsichtiges Entlastungsargument, dass ausgerechnet der Kunst gelingen soll, woran der bestgemeinte Journalismus selbst scheitert.
Dieses herablassende Gerede von Pollesch als „gutem Kulturlinken“ ist schauderhaft. Gerade in „Zeiten härterer Klassenkämpfe“ müsste man jene Begriffe mit Leben füllen, statt sie sarkastisch in den Schmutz zu ziehen. Mal abgesehen davon, dass die Polemik gegen den „guten Kulturlinken“ sowieso viel besser auf diejenigen passt, die ausgerechnet vom Theater fordern, dass es den „Gelbwesten-Test“ bestehen müsse.
Gerade Pollesch hat mit jedem seiner Stücke gegen diese Anmaßung des Theaters Stellung bezogen, ‚moralische Anstalt‘ zu sein und den Zuschauern die republikanische Gesinnung beizubringen. Eine Anmaßung, die für das Publikum übrigens äußerst bequem ist, wird doch auf der Bühne, vermittelt durch den klassischen Kanon, das Gute, die Kultur und das Linke sozusagen professionell gewährleistet. Genau diese Arbeitsteilung zwischen Bühne und Publikum thematisiert Pollesch unentwegt. Worauf er damit positiv hinaus möchte und ob dieses Projekt gut oder schlecht gealtert ist, ist eine andere Frage.
Ach Lenna, da sprichst du wirklich eine traurige Geschichte an. Ich hatte En finir avec Eddy und auch L’histoire de la violence mit großer Begeisterung gelesen, hatte dementsprechend sehr hohe Erwartungen an das neue Buch und war maßlos enttäuscht. Vielleicht fange ich damit an, zu erwähnen, dass es sich nicht um einen Roman handelt, dafür ist Qui a tué mon père? schlichtweg nicht komplex genug. Das Büchlein hat – wenn ich mich richtig erinnere (ich habe es vor einigen Monaten auf Französisch gelesen) – ungefähr 120 Seiten und scheint von vorn herein darauf ausgelegt zu sein, für das Theater adaptiert zu werden. Es scheint mir überhaupt einzig und allein auf Weiterverwertung ausgelegt oder sogar: selbst das Produkt einer bloßen Weiterverwertung zu sein, nämlich derjenigen der momentan sehr erfolgreichen Marke ‚Édouard Louis‘. Nach diesen beiden grandiosen ersten Büchern hätte er sich doch alle Zeit der Welt nehmen können, ein weiteres grandioses Buch zu schreiben und sich währenddessen auf anderen Wegen weiter politisch engagieren. Stattdessen hat er sich für diesen Schnellschuss entschieden, der neben seinem politischen Anliegen (das ich ja weitestgehend teile) in mindestens demselben Maße den Regeln des literarischen Marktes zu gehorchen scheint.
Erzählt wird auf jeden Fall nichts neues: im Grunde wird die Geschichte aus En finir avec Eddy als bekannt vorausgesetzt, stellenweise wiederholt und auf den ehemals brutalen, heute invaliden Vater zugespitzt, an den das Buch als eine Art abrechnende Versöhnung gerichtet ist. Hätte ich En finir avec Eddy nicht schon gelesen gehabt, hätte vieles einfach nur in der Luft gestanden. Ziemlich peinlich und in dieser Form geradezu fahrlässig fand ich eine Stelle, an der Nicolas Sarkozy, François Hollande und Emmanuel Macron für den titelgebenden ‚Tod‘ des Vaters (der ja gar nicht wirklich tot ist) verantwortlich gemacht werden: ihre neoliberalen Reformen hätten dessen Leben zerstört. Ich möchte gar nicht bestreiten, dass so eine These sich aufstellen und auch verteidigen ließe, aber nicht auf drei schmalen Buchseiten ohne jegliche substantielle Herleitung und Argumentation – das ist so schwach, dass es selbst bei mir, die ich geneigt bin, dem inhaltlich zuzustimmen, einen Abwehrreflex hervorgebracht hat. Das klingt nämlich vor allem nach Sensationslust und der Vater wird dieser zum Opfer gebracht. (Es gibt da nun aber eine Pointe, von der ich mir absolut nicht sicher bin, ob sie Louis bewusst ist. (Wenn ich Interviews mit ihm lese, habe ich nicht den Eindruck.) Am Ende des Buches interessiert der Vater sich auf einmal für den Sohn, scheint nun seine Homophobie zu überwinden usw. und ich dachte: tatsächlich gestorben ist hier anscheinend ja lediglich das (heute würde man sagen: ‚toxische‘) Selbstbild dieses Mannes. Louis würde das vermutlich seinen ersten beiden Büchern zugute rechnen, es ließe sich aber auch sagen: das hat er Sarkozy, Hollande und Macron zu verdanken. Sie sind ja schließlich diejenigen, die dieses Selbstbild durch ihre Reformen gebrochen und den Vater dadurch für seinen Sohn geöffnet haben.)
Den Vorwurf der Instrumentalisierung, den du zitierst, kann ich also durchaus nachvollziehen. In L’histoire de la violence gab es ja zum Beispiel diese sehr kluge formale Reflexion darauf, wer über wen spricht: der Erzähler hört, wie seine Schwester seine Geschichte weitererzählt und wie diese sich dabei ändert; auch wird thematisiert, wie die Geschichte in den Polizeitakten erzählt wird und wie sie sich dabei ändert usw. In Qui a tué mon père? ist davon keine Spur: hier spricht jemand, der sich viel zu sicher ist, moralisch im Recht zu sein – der Vater bleibt so auch als Adressat bloßes Objekt der Geschichte.
Am Ende von En finir avec Eddy dachte ich übrigens: jetzt wäre es doch noch interessant, etwas über den Willen des Erzählers zu erfahren, ein Bourgeois zu werden. Die Geschichte also von einem Flucht- in ein Anpassungsnarrativ weiterzutreiben, davon zu erzählen, wieviel Spaß es macht, das Leben eines Bourgeois zu führen (beobachten kann man das sehr lebendig auf Louis‘ Instagram-Account). Darüber hätte ich in einem dritten Buch gerne gelesen. Aber an diese Stelle – das heißt an die Stelle, an der Louis sich selbst in seiner Moral zweifelhaft werden müsste (an die zum Beispiel Finkelstein in ihren Romanen mit sehr viel Mut geht) und an der große Literatur entstehen könnte – da steht bei ihm lediglich ein riesengroßer blinder Fleck.
Habt ihr sonst noch Fragen?
Erzählt wird auf jeden Fall nichts neues: im Grunde wird die Geschichte aus En finir avec Eddy als bekannt vorausgesetzt, stellenweise wiederholt und auf den ehemals brutalen, heute invaliden Vater zugespitzt, an den das Buch als eine Art abrechnende Versöhnung gerichtet ist. Hätte ich En finir avec Eddy nicht schon gelesen gehabt, hätte vieles einfach nur in der Luft gestanden. Ziemlich peinlich und in dieser Form geradezu fahrlässig fand ich eine Stelle, an der Nicolas Sarkozy, François Hollande und Emmanuel Macron für den titelgebenden ‚Tod‘ des Vaters (der ja gar nicht wirklich tot ist) verantwortlich gemacht werden: ihre neoliberalen Reformen hätten dessen Leben zerstört. Ich möchte gar nicht bestreiten, dass so eine These sich aufstellen und auch verteidigen ließe, aber nicht auf drei schmalen Buchseiten ohne jegliche substantielle Herleitung und Argumentation – das ist so schwach, dass es selbst bei mir, die ich geneigt bin, dem inhaltlich zuzustimmen, einen Abwehrreflex hervorgebracht hat. Das klingt nämlich vor allem nach Sensationslust und der Vater wird dieser zum Opfer gebracht. (Es gibt da nun aber eine Pointe, von der ich mir absolut nicht sicher bin, ob sie Louis bewusst ist. (Wenn ich Interviews mit ihm lese, habe ich nicht den Eindruck.) Am Ende des Buches interessiert der Vater sich auf einmal für den Sohn, scheint nun seine Homophobie zu überwinden usw. und ich dachte: tatsächlich gestorben ist hier anscheinend ja lediglich das (heute würde man sagen: ‚toxische‘) Selbstbild dieses Mannes. Louis würde das vermutlich seinen ersten beiden Büchern zugute rechnen, es ließe sich aber auch sagen: das hat er Sarkozy, Hollande und Macron zu verdanken. Sie sind ja schließlich diejenigen, die dieses Selbstbild durch ihre Reformen gebrochen und den Vater dadurch für seinen Sohn geöffnet haben.)
Den Vorwurf der Instrumentalisierung, den du zitierst, kann ich also durchaus nachvollziehen. In L’histoire de la violence gab es ja zum Beispiel diese sehr kluge formale Reflexion darauf, wer über wen spricht: der Erzähler hört, wie seine Schwester seine Geschichte weitererzählt und wie diese sich dabei ändert; auch wird thematisiert, wie die Geschichte in den Polizeitakten erzählt wird und wie sie sich dabei ändert usw. In Qui a tué mon père? ist davon keine Spur: hier spricht jemand, der sich viel zu sicher ist, moralisch im Recht zu sein – der Vater bleibt so auch als Adressat bloßes Objekt der Geschichte.
Am Ende von En finir avec Eddy dachte ich übrigens: jetzt wäre es doch noch interessant, etwas über den Willen des Erzählers zu erfahren, ein Bourgeois zu werden. Die Geschichte also von einem Flucht- in ein Anpassungsnarrativ weiterzutreiben, davon zu erzählen, wieviel Spaß es macht, das Leben eines Bourgeois zu führen (beobachten kann man das sehr lebendig auf Louis‘ Instagram-Account). Darüber hätte ich in einem dritten Buch gerne gelesen. Aber an diese Stelle – das heißt an die Stelle, an der Louis sich selbst in seiner Moral zweifelhaft werden müsste (an die zum Beispiel Finkelstein in ihren Romanen mit sehr viel Mut geht) und an der große Literatur entstehen könnte – da steht bei ihm lediglich ein riesengroßer blinder Fleck.
Habt ihr sonst noch Fragen?
Gute Reise, Sidonie! Wenn du angekommen bist, kannst du mir ja vielleicht auch noch eine Frage beantworten (Felix und ich spielen hier gerade ein wenig Q&A mit dir!). Auf ZEITonline (peinlich, ich weiß, aber manchmal lande ich doch auf dieser Seite) habe ich gerade einen Artikel von Iris Radisch (eigentlich noch peinlicher, ich weiß) über das neue Buch von Édouard Louis gelesen, von dem du doch, wenn ich mich richtig erinnere, vor einiger ziemlich begeistert warst. Radisch kommt in ihrem Text zu einem ziemlich eindeutigen Urteil: In Qui a tué mon père? erkennt sie eine „neuerliche Verwandlung [von Literatur] in Vulgärsoziologie“ und unterstellt Louis im Grunde eine Instrumentalisierung seines Vaters, der von Louis mittlerweile zu einer Gallionsfigur der Gelbwesten stilisiert werde. Auch wenn ich den Roman selbst noch nicht gelesen habe, klingt mir das, was Radisch da schreibt (ausnahmsweise) sehr nachvollziehbar. (Ich möchte mich an dieser Stelle selbst zitieren, wie ich Rainald Goetz zitiert habe, der vom „Anklage- und Einmischungssoziologe[n] Bourdieu“ gesprochen hat, der ja auch bei Louis im Hintergrund zu stehen scheint.) Was denkst du?
Ich bin gerade eigentlich am Packen, in drei Stunden geht mein Zug zurück nach Frankfurt (wir scheinen momentan alle ein wenig beschäftigt). Deshalb nur ganz kurz zu Menasse: Er ist ein Vertreter eines ‚Europas der Regionen‘. Soweit es sich dabei um ein anti-nationalistisches Konzept handelt, gehe ich auch mit, nur wird dieser Begriff der ‚Region‘ von ihm mit demjenigen der ‚Heimat‘ in Verbindung gebracht. Wie auch Ulrike Guérot hat Menasse die Tendenz, das Regionale und Heimatliche mit Rhetoriken der Natürlichkeit zu überladen, das läuft dann auf so dämliche Gegenüberstellungen à la: ‚die Nation ist künstlich, die Region ist natürlich‘ hinaus. Historisch gehört dieser rhetorische ‚Naturalismus‘ aber gerade zur Ideologie der Nation, die – orientiert an der Metapher des Organismus – für einen naturwüchsigen, vor-politischen Raum der Gemeinschaft stehen soll, die sich dann vermeintlich im Nationalstaat politisch ausdrückt; in der nationalistischen Ideologie steht dem heutzutage die EU als künstliche Maschine gegenüber. Relativ durchschaubar versuchen sich Menasse und Guérot an einer Umwertung, die in meinen Augen allerdings lediglich auf eine Reproduktion der nationalistischen Ideologie hinausläuft, sie in andere Skalen transponiert. Das ist unter jedem geistigen Niveau. Es bedarf keiner vor-politischen ‚Rückzugsräume‘ und keiner heimatlichen Verwurzelungen (mit Adorno gesprochen wird hier ein ‚ontologisches Bedürfnis‘ bedient, dem vehement zu widersprechen ist!). Gerade bei dem, was man heute ‚Region‘ nennt, handelt es sich im Grunde um politische Infrastrukturprojekte und als solche sollten sie auch verstanden und diskutiert werden. Die Gegenüberstellung künstlich / natürlich ist politisch unfruchtbar, wenn nicht sogar an sich reaktionär. Soviel dazu. Jetzt putze ich mir die Zähne und dann muss ich mich auch schon von meiner Vermieterin verabschieden.
Bitte entschuldigt, wenn ich mich momentan ein wenig kürzer fasse als gewohnt. Das neue Jahr hat mehr Arbeit mich sich gebracht, als ich hätte erwarten können, und so friste ich meine Tage momentan von früh bis spät in der Bibliothek, um einen Forschungsaufenthalt in Marbach vorzubereiten, den ich für die kommenden Semesterferien plane. So ist auch dieser Fall ‚Menasse‘, von dem Du, Sidonie, sprichst, scheinbar völlig an mir vorbeigegangen. Deshalb an dieser Stelle vielleicht zunächst einmal lediglich eine einfache Rückfrage: Was ist genau ist denn nun das Problem mit Menasses europäischen Idee?
Mensch Lenna, bei dieser Veranstaltung wäre ich wirklich super gerne dabei gewesen! Es ist ja geradezu absurd, wie darin alles, worüber wir uns ausgetauscht haben, zusammenläuft! Manchmal kommt es mir wie reine Zeitverschwendung vor, als kulturell interessierter Mensch nicht in Berlin zu wohnen. (Für den Master werde ich mich auf jeden Fall in Berlin bewerben!)
Ich musste bei deinen Ausführungen an Adornos Verdikt denken, nach Ausschwitz ein Gedicht zu schreiben sei barbarisch. Irgendjemand (mir fällt nicht mehr ein, wer es war, vielleicht Celan?) hat darauf geantwortet, es sei nach Auschwitz kein Gedicht mehr möglich außer Aufgrund von Auschwitz – ein Gedanke, an dem auch Adorno seine Position später geändert zu haben scheint: „Das perennierende Leben hat soviel Recht auf Ausdruck wie der Gemarterte zu brüllen; darum mag falsch gewesen sein, nach Auschwitz ließe kein Gedicht mehr sich schreiben.“ (Adorno, Theodor W.: Negative Dialektik / Jargon der Eigentlichkeit, Frankfurt am Main 1970, S. 355.) Damit bleiben aber zwei wichtige Fragen intakt, die sich gegenseitig bestimmen: Wer schreibt und wie schreibt jemand über Auschwitz (und auch ganz allgemein: über eigenes oder fremdes Leid).
Wir haben uns nun ja mit ganz schwierigen und historisch belasteten Modi und Motiven wie dem Erhabenen beschäftigt. Es fängt doch aber schon auf viel unscheinbareren Ebenen an, wie (um noch einmal kurz bei Auschwitz zu bleiben) der Fall Robert Menasse erst vor Kurzem deutlich gemacht hat. Menasse – leidenschaftlicher Verfechter der europäischen Idee (oder vorsichtiger formuliert: einer europäischen Idee (bei seinem Begriff von ‚Heimat‘ usw. gehe ich nun beim besten Willen nicht mit)) – hatte sowohl in seinem letzten Roman als auch in einer Rede dem Politiker Walter Hallstein Dinge in den Mund gelegt, die dieser während einer in Auschwitz gehaltenen Rede gesagt haben soll. Diese Instrumentalisierung wurde Menasse zum Vorwurf gemacht, woraufhin dieser sich – verkürzt gesagt – dadurch zu verteidigen versucht hat, dass er seinen Kritikerinnen und Kritikern Kleingeistigkeit vorgeworfen und sich selbst als Schriftsteller eine Lizenz zum Fälschen ausgestellt hat. Die Argumente scheinen mir in dieser Hinsicht ausgetauscht und Menasse steht für mich als der eindeutige Verlierer dar: anstelle einer Lizenz zum Fälschen hätte es vor allem einer ethischen Sensibilität bedurft. (Über diesen anscheinend ganz furchtbaren Roman Stella, über den momentan gestritten wird, müssen wir uns nun aber bitte nicht noch unterhalten.)
Ich musste bei deinen Ausführungen an Adornos Verdikt denken, nach Ausschwitz ein Gedicht zu schreiben sei barbarisch. Irgendjemand (mir fällt nicht mehr ein, wer es war, vielleicht Celan?) hat darauf geantwortet, es sei nach Auschwitz kein Gedicht mehr möglich außer Aufgrund von Auschwitz – ein Gedanke, an dem auch Adorno seine Position später geändert zu haben scheint: „Das perennierende Leben hat soviel Recht auf Ausdruck wie der Gemarterte zu brüllen; darum mag falsch gewesen sein, nach Auschwitz ließe kein Gedicht mehr sich schreiben.“ (Adorno, Theodor W.: Negative Dialektik / Jargon der Eigentlichkeit, Frankfurt am Main 1970, S. 355.) Damit bleiben aber zwei wichtige Fragen intakt, die sich gegenseitig bestimmen: Wer schreibt und wie schreibt jemand über Auschwitz (und auch ganz allgemein: über eigenes oder fremdes Leid).
Wir haben uns nun ja mit ganz schwierigen und historisch belasteten Modi und Motiven wie dem Erhabenen beschäftigt. Es fängt doch aber schon auf viel unscheinbareren Ebenen an, wie (um noch einmal kurz bei Auschwitz zu bleiben) der Fall Robert Menasse erst vor Kurzem deutlich gemacht hat. Menasse – leidenschaftlicher Verfechter der europäischen Idee (oder vorsichtiger formuliert: einer europäischen Idee (bei seinem Begriff von ‚Heimat‘ usw. gehe ich nun beim besten Willen nicht mit)) – hatte sowohl in seinem letzten Roman als auch in einer Rede dem Politiker Walter Hallstein Dinge in den Mund gelegt, die dieser während einer in Auschwitz gehaltenen Rede gesagt haben soll. Diese Instrumentalisierung wurde Menasse zum Vorwurf gemacht, woraufhin dieser sich – verkürzt gesagt – dadurch zu verteidigen versucht hat, dass er seinen Kritikerinnen und Kritikern Kleingeistigkeit vorgeworfen und sich selbst als Schriftsteller eine Lizenz zum Fälschen ausgestellt hat. Die Argumente scheinen mir in dieser Hinsicht ausgetauscht und Menasse steht für mich als der eindeutige Verlierer dar: anstelle einer Lizenz zum Fälschen hätte es vor allem einer ethischen Sensibilität bedurft. (Über diesen anscheinend ganz furchtbaren Roman Stella, über den momentan gestritten wird, müssen wir uns nun aber bitte nicht noch unterhalten.)
OK, dann halt nicht. Wir haben ohnehin über andere Dinge zu sprechen: Ich war gestern nämlich auf einer Veranstaltung mit Tom McCarthy im Martin Gropius Bau, von der ich euch unbedingt erzählen muss. Es kam dort so ziemlich alles vor, worüber wir uns in den letzten Wochen vor den Ferien unterhalten haben: Krieg, die Zerstörung von Landschaft, CDF (Der Wanderer über dem Nebelmeer und Das Eismeer/Die gescheiterte Hoffnung), das Verhältnis von Ethik, Ästhetik und Moral in Bezug auf die Frage der ‚Ästhetisierung‘, sogar Mary Shelleys Frankenstein (hatten wir uns hier darüber unterhalten oder war das woanders?).
Vielleicht fange ich am besten damit an, zu erwähnen, dass Lesung und Gespräch Teil des Rahmenprogramms zur (nur noch bis morgen) laufenden Lee Bul-Ausstellung waren. Die (wirklich großartige) Ausstellung trägt den Titel Crash – ein Verweis auf den gleichnamigen Roman von J.G. Ballard, auf den auch TMC sich immer wieder – u.a. in Remainder und C – bezieht. Gelesen wurde gestern vor allem aus C und auch aus Satin Island. Ich kann das nun an dieser Stelle gar nicht alles auf einmal zusammenfassen und möchte deshalb nur auf die Frage der ‚Ästhetisierung‘ zu sprechen kommen. TMC hat in dieser Hinsicht auf eine Stelle in SI verwiesen, die Jan auch in seinem Workshop-Bericht aufgegriffen hat. Relativ am Anfang des Romans sitzt der Erzähler ‚U.‘ am Flughafen, auf einem Fernseher läuft ein Bericht über Oilspills, die von seinem Sitznachbarn als „tragedy“ bezeichnet werden. Später stellt U. sich vor, er halte einen Vortrag, eine Art TED-Talk, in dem er seiner inzwischen ein wenig übersteigerten Faszination für Oilspills freien Lauf lassen kann. Er imaginiert dabei, jemand aus dem Publikum werfe ihm vor, er würde diese Ölkatastrophe (bzw. wohl ‚Öltragödie‘) ästhetisieren. U. versucht sich zu wehren, indem er darauf hinweist, dass die vermeintlich politisch-moralische Klassifizierung der Oilspills als „tragedy“ selbst auf einem ästhetischen Begriff basiere, nämlich demjenigen der literarischen Form der Tragödie, der sich zudem mit der verklärenden Vorstellung einer unberührten Natur vermenge. TMC hat seinem Erzähler in dieser Sache recht gegeben: als Vorwurf – gerade an die Kunst – mache der Hinweis auf eine ‚Ästhetisierung‘ keinen Sinn, weil ‚aesthetics‘ der Kunst nun einmal vor- und aufgegeben sind. Ich hebe einfach mal zwei Sätze hervor, anhand derer sich diese Position konkretisieren lässt:
1.) „It’s unethical to not write about catastrophe and violence.“
2.) „Aesthetics is the approach-road to the political.“
Der erste Satz richtet sich gegen das Vorurteil, es sei ‚unethical‘, über Katastrophen und Gewalt zu schreiben, diese also als ästhetische Phänomene zu begreifen und ästhetisch zu behandeln. Mit Verweis auf Levinas und Freud sagt TMC, dass eine ethische Problematik überhaupt erst aus dem ‚Trauma‘, der Katastrophe entsteht und folgert daraus, dass Ethik ihren genuinen Ort überhaupt nur in und aus der Katastrophe hat. Es sei darum ‚unethical‘, sich nicht mit Katastrophen und Gewalt zu beschäftigen, auch und gerade in der Kunst. (Wenn ich an die Unterscheidung zwischen Ethik und Moral denke, auf die Sidonie uns immer wieder hinweist, dann würde ich sagen, dass ‚unethical‘ hier zwei Bedeutungen hat: in dem Vorurteil, gegen das TMC sich richtet, hat ‚unethical‘ den Sinn von ‚unmoralisch‘, in TMCs programmatischer Wendung hat er ‚unethical‘ dann den Sinn von ‚unethisch‘.)
Der zweite Satz richtet sich gegen das Vorurteil, der ästhetische Umgang mit ethischen, gesellschaftlichen etc. Problematiken entpolitisiere diese. Auch hier vertritt TMC wieder die umgekehrte Position: weil die uns umgebenden Phänomene immer schon ästhetische sind, ist es die Aufgabe der Kunst, sie als solche begreifbar und dadurch einem politischen Verständnis zugänglich zu machen. Obwohl TMC sich selbst politisch eindeutig (und zwar eindeutig links) verortet, spricht er sich gegen eine Vereidigung der Kunst auf eindeutige politische Positionen aus. Die Aufgabe der Kunst ist, wenn ich ihn richtig verstehe, eher eine negative: Unordnung zu schaffen, das Eindeutige aufzulösen, Kontingenz freizusetzen, Beschmutzung (im Gegensatz zur vermeintlichen Reinheit der Moral). Kunst ist antitotalitär – und darin politisch.
Es ging dann auch noch um das Motiv des Fallens, das in TMCs Romanen in verschiedener Form vorkommt, in SI zum Beispiel in Form des Fallschirmspringers, dessen Schirm sich nicht öffnet. Da musste ich an Moshfegh zurückdenken und habe mich kurz gefragt: haben wir uns in den Wochen vor den Ferien im Grunde die ganze Zeit weiter über SI unterhalten?
Vielleicht fange ich am besten damit an, zu erwähnen, dass Lesung und Gespräch Teil des Rahmenprogramms zur (nur noch bis morgen) laufenden Lee Bul-Ausstellung waren. Die (wirklich großartige) Ausstellung trägt den Titel Crash – ein Verweis auf den gleichnamigen Roman von J.G. Ballard, auf den auch TMC sich immer wieder – u.a. in Remainder und C – bezieht. Gelesen wurde gestern vor allem aus C und auch aus Satin Island. Ich kann das nun an dieser Stelle gar nicht alles auf einmal zusammenfassen und möchte deshalb nur auf die Frage der ‚Ästhetisierung‘ zu sprechen kommen. TMC hat in dieser Hinsicht auf eine Stelle in SI verwiesen, die Jan auch in seinem Workshop-Bericht aufgegriffen hat. Relativ am Anfang des Romans sitzt der Erzähler ‚U.‘ am Flughafen, auf einem Fernseher läuft ein Bericht über Oilspills, die von seinem Sitznachbarn als „tragedy“ bezeichnet werden. Später stellt U. sich vor, er halte einen Vortrag, eine Art TED-Talk, in dem er seiner inzwischen ein wenig übersteigerten Faszination für Oilspills freien Lauf lassen kann. Er imaginiert dabei, jemand aus dem Publikum werfe ihm vor, er würde diese Ölkatastrophe (bzw. wohl ‚Öltragödie‘) ästhetisieren. U. versucht sich zu wehren, indem er darauf hinweist, dass die vermeintlich politisch-moralische Klassifizierung der Oilspills als „tragedy“ selbst auf einem ästhetischen Begriff basiere, nämlich demjenigen der literarischen Form der Tragödie, der sich zudem mit der verklärenden Vorstellung einer unberührten Natur vermenge. TMC hat seinem Erzähler in dieser Sache recht gegeben: als Vorwurf – gerade an die Kunst – mache der Hinweis auf eine ‚Ästhetisierung‘ keinen Sinn, weil ‚aesthetics‘ der Kunst nun einmal vor- und aufgegeben sind. Ich hebe einfach mal zwei Sätze hervor, anhand derer sich diese Position konkretisieren lässt:
1.) „It’s unethical to not write about catastrophe and violence.“
2.) „Aesthetics is the approach-road to the political.“
Der erste Satz richtet sich gegen das Vorurteil, es sei ‚unethical‘, über Katastrophen und Gewalt zu schreiben, diese also als ästhetische Phänomene zu begreifen und ästhetisch zu behandeln. Mit Verweis auf Levinas und Freud sagt TMC, dass eine ethische Problematik überhaupt erst aus dem ‚Trauma‘, der Katastrophe entsteht und folgert daraus, dass Ethik ihren genuinen Ort überhaupt nur in und aus der Katastrophe hat. Es sei darum ‚unethical‘, sich nicht mit Katastrophen und Gewalt zu beschäftigen, auch und gerade in der Kunst. (Wenn ich an die Unterscheidung zwischen Ethik und Moral denke, auf die Sidonie uns immer wieder hinweist, dann würde ich sagen, dass ‚unethical‘ hier zwei Bedeutungen hat: in dem Vorurteil, gegen das TMC sich richtet, hat ‚unethical‘ den Sinn von ‚unmoralisch‘, in TMCs programmatischer Wendung hat er ‚unethical‘ dann den Sinn von ‚unethisch‘.)
Der zweite Satz richtet sich gegen das Vorurteil, der ästhetische Umgang mit ethischen, gesellschaftlichen etc. Problematiken entpolitisiere diese. Auch hier vertritt TMC wieder die umgekehrte Position: weil die uns umgebenden Phänomene immer schon ästhetische sind, ist es die Aufgabe der Kunst, sie als solche begreifbar und dadurch einem politischen Verständnis zugänglich zu machen. Obwohl TMC sich selbst politisch eindeutig (und zwar eindeutig links) verortet, spricht er sich gegen eine Vereidigung der Kunst auf eindeutige politische Positionen aus. Die Aufgabe der Kunst ist, wenn ich ihn richtig verstehe, eher eine negative: Unordnung zu schaffen, das Eindeutige aufzulösen, Kontingenz freizusetzen, Beschmutzung (im Gegensatz zur vermeintlichen Reinheit der Moral). Kunst ist antitotalitär – und darin politisch.
Es ging dann auch noch um das Motiv des Fallens, das in TMCs Romanen in verschiedener Form vorkommt, in SI zum Beispiel in Form des Fallschirmspringers, dessen Schirm sich nicht öffnet. Da musste ich an Moshfegh zurückdenken und habe mich kurz gefragt: haben wir uns in den Wochen vor den Ferien im Grunde die ganze Zeit weiter über SI unterhalten?
Sorry, aber dazu möchte ich mich ehrlich gesagt nicht äußern müssen.
OK Leute, ich beginne das neue Jahr einfach mal mit einer Schockmeldung. Zumindest für dich Felix: dein guter Freund, der Rilke-Kenner Thomas Gottschalk (der anscheinend mal für kurze Zeit Germanistik studiert hat), soll nämlich eine eigene Literatursendung bekommen. Was sagst du dazu?
Ich befürchte, dass ich eine so schwierige Frage so kurz vor den Betriebsferien nicht mehr beantworten kann, bin mir aber sicher, dass wir darauf zurückkommen werden. Nun möchte ich erst einmal – wenn auch nicht ein ganzes Jahr, so doch zumindest – zwei Wochen schlafen. So lange machen wir nämlich Pause. Wir sehen uns ja in der Zwischenzeit, Sidonie. Dir einen guten Rutsch, Felix!
Lenna, du bist und bleibst einfach nicht bloß meine einzige, sondern auch meine Lieblingscousine! (Um so trauriger bin ich, dass du es nicht geschafft hast, mich in diesem Jahr noch zu besuchen. Ich könnte hier wirklich etwas Gesellschaft gebrauchen!) Ehrlich gesagt bin ich gerade etwas erschöpft und freue mich nun schon richtig auf die Ferien. Festhalten möchte ich aber, dass wir vielleicht zwischen dem Verhältnis der Kunst zur ‚Moral‘ und dem Verhältnis der Kunst zur ‚Ethik‘ bzw. der moralischen und der ethischen Dimension der Kunst unterscheiden sollten. Ich hatte vor einiger Zeit schon einmal angemerkt, dass Ethik von der Moral zu unterscheiden ist. Mit und über Luhmann hinaus habe ich dafür plädiert, Ethik nicht als Legitimationsinstanz, aber auch nicht bloß als „Reflexionstheorie“, sondern als Kritik der Moral (in dem Sinne, den wir dem Wort ‚Moralismus‘ geben) aufzufassen. Würdest du mit mir übereinstimmen, Lenna, dass Kunst und Ethik in diesem Punkt zusammenkommen?
Entschuldigt, dass ich mich erst jetzt wieder in die Diskussion einklinke. Die letzten Wochen waren stressreich und sind es noch immer. Ich würde gerne auf eine bisher unbeantwortet gebliebene Frage zurückkommen, die du, Felix, mir gestellt hattest: „Lenna, was meinst Du damit, dass ein moralischer Impuls durch eine mit ihm verknüpfte ästhetische Faszination komplexer wird? Man denkt es ja meistens in umgekehrter Richtung, dass das vermeintlich vernunftgemäße moralische Urteil von ästhetisch vermittelten Emotionen manipuliert, korrumpiert oder banalisiert wird.“
Darauf würde ich versuchsweise antworten, indem ich deine Frage programmatisch wende: Kunst, die den Namen verdient, ist immer auch Einspruch gegen jegliche Form von rationalistischer (und in diesem Sinne ‚reiner‘) Moral. Oder anders herum: Kunst, die sich zur Sprecherin von Gesinnungen macht, insbesondere solcher, die sich selbst für moralisch ‚rein‘ halten, hat diesen Namen nicht verdient. Ich halte den Glauben an die Möglichkeit einer reinen Moral darüber hinaus für eine der verheerendsten Ideologien unserer Zeit. (Verheerend nicht nur für die künstlerische Produktion, sondern auch für die öffentliche Debatte.) Wie auch die von Sidonie angeführten Beispiele mir nahezulegen scheinen, ist es doch die genuine Aufgabe der Kunst, sich ästhetischen Phänomenen gerade dort zu stellen, wo sie der Moral erst einmal entgegenstehen oder Impulse freisetzen, die moralistischen Bestrebungen entgegenstehen, indem sie Faszination auslösen. Katastrophen, Krieg u.ä. sind dafür vermutlich sehr starke Auslöser. Die geläufige Dauerempörung über deren ‚Ästhetisierung‘ ist (um ein schönes Adorno-Wort zu gebrauchen) Banausie – man muss es ja nicht gleich machen wie Ernst Jünger. (Ich möchte an dieser Stelle darauf aufmerksam machen, dass u.a. auch Marcel Proust den Luftkrieg im letzten Band der Recherche als ein genuin ästhetisches Ereignis beschreibt, ohne ihn dadurch zu verherrlichen.) Die Hoffnung, die sich (schon lange und auch) heute an Kunst hängen ließe, würde vielleicht darin liegen, diese ideologische Einhegung unseres Lebens brüchig zu machen und dadurch eben: moralisch komplexer.
Ist das eine Antwort auf deine Frage?
Darauf würde ich versuchsweise antworten, indem ich deine Frage programmatisch wende: Kunst, die den Namen verdient, ist immer auch Einspruch gegen jegliche Form von rationalistischer (und in diesem Sinne ‚reiner‘) Moral. Oder anders herum: Kunst, die sich zur Sprecherin von Gesinnungen macht, insbesondere solcher, die sich selbst für moralisch ‚rein‘ halten, hat diesen Namen nicht verdient. Ich halte den Glauben an die Möglichkeit einer reinen Moral darüber hinaus für eine der verheerendsten Ideologien unserer Zeit. (Verheerend nicht nur für die künstlerische Produktion, sondern auch für die öffentliche Debatte.) Wie auch die von Sidonie angeführten Beispiele mir nahezulegen scheinen, ist es doch die genuine Aufgabe der Kunst, sich ästhetischen Phänomenen gerade dort zu stellen, wo sie der Moral erst einmal entgegenstehen oder Impulse freisetzen, die moralistischen Bestrebungen entgegenstehen, indem sie Faszination auslösen. Katastrophen, Krieg u.ä. sind dafür vermutlich sehr starke Auslöser. Die geläufige Dauerempörung über deren ‚Ästhetisierung‘ ist (um ein schönes Adorno-Wort zu gebrauchen) Banausie – man muss es ja nicht gleich machen wie Ernst Jünger. (Ich möchte an dieser Stelle darauf aufmerksam machen, dass u.a. auch Marcel Proust den Luftkrieg im letzten Band der Recherche als ein genuin ästhetisches Ereignis beschreibt, ohne ihn dadurch zu verherrlichen.) Die Hoffnung, die sich (schon lange und auch) heute an Kunst hängen ließe, würde vielleicht darin liegen, diese ideologische Einhegung unseres Lebens brüchig zu machen und dadurch eben: moralisch komplexer.
Ist das eine Antwort auf deine Frage?
Sidonie, weil Du so gut warst, auf meine Bemerkung einzugehen, dass das romantische Gemälde von Caspar David Friedrich eine Erfahrung des Erhabenen darstellt, die, im Unterschied zu der ästhetisch aufgeladenen Ansicht der kalifornischen Waldbrände, keine Menschenleben gekostet hat, möchte ich jetzt doch kurz daran erinnern, dass man weder im 18. noch im 19. Jahrhundert in dieser Hinsicht besonders zimperlich gewesen ist. Bloß bei der Anspielung auf Der Wanderer über dem Nebelmeer fand ich es eklatant, dass sich das Erhabene allein im Blick des Betrachters abspielt. Das Naturphänomen (tief hängender Dunst) ist an sich künstlerisch kaum vorcodiert und erlangt seine ästhetische Gegenständlichkeit erst in Abhängigkeit davon, dass ein Betrachter mitgedacht wird, der einen spezifischen (hier: erhöhten) Standpunkt einnimmt. CDF malte mehrere dieser berühmten Rückenansichten, bei denen das erhabene Motiv oszilliert zwischen dem Blick der dargestellten Figur und zwischen meinem Blick als Betrachter des Gemäldes.
Es gibt bei Caspar David Friedrich aber auch Darstellungen des Erhabenen, die bewusst auf die Rahmung durch eine betrachtende Figur verzichten, wie z. B. Das Eismeer bzw. Die gescheiterte Hoffnung (worüber doch Alexander Kluge auch einen Text geschrieben hat, nicht wahr?). Dort werden die Trümmer eines zwischen Eisschollen zerborstenen Schiffes gezeigt. Eine Variation des bereits seit der Antike mit dem Erhabenen auf prototypische Weise verbundenen Motivs eines „Schiffbruchs mit Zuschauer“. Bei Friedrichs Gemälde ist es nun auffällig, dass die Zuschauerrolle – im Unterschied zum Nebelmeer – im Bild nicht selbst thematisch wird, was wohl einer ethisch-moralischen Verweigerung gleichkommt, das Mitgefühl mit den Ertrunkenen angesichts des „delightful horror“ der Szenerie überhaupt in Rechnung zu stellen.
Bevor ich mich hier kunstgeschichtlich um Kopf und Kragen dilettiere, will ich nur den einen Gedanken festhalten, dass das Erhabene die Frage nach seiner Rahmung – sei sie ästhetisch oder strategisch – eigentlich immer mit aufwirft. Das Erhabene impliziert ein zu überwältigendes Erfahrungssubjekt und da stellt sich doch bereits eine Grundfrage, die ich durch die Erinnerung an die beiden Gemälde von Caspar David Friedrich aufwerfen wollte: Nämlich, ob ein Individuum sich dieser Erfahrung aus einem eigenen Bedürfnis heraus aussetzt oder ob es ganz als passiver Adressat einer ästhetischen Manipulation behandelt wird, hinter der sich Absichten verbergen, die innerhalb der künstlerischen oder medialen Darstellung in keiner Weise repräsentiert werden.
Dazu fällt mir nun doch noch ein drittes Bild von CDF ein: Der Chasseur im Walde. Sollte das nicht so gemeint sein, dass die erhabene Majestät deutscher Baumkronen einem napoleonischen Soldaten das Fürchten lehrt? Zugegeben, die politische Aussage dieses Gemäldes wäre unendlich subtiler als all die pompösen Historien- und Schlachtengemälde, die im 19. Jh. Mode werden. Umso mehr wäre es deshalb ein Beispiel dafür, dass mit dem Ästhetischen immer ein Reflexionsbedarf gesetzt ist, gerade wo es das bloße Gefühl zu mobilisieren scheint.
Es gibt bei Caspar David Friedrich aber auch Darstellungen des Erhabenen, die bewusst auf die Rahmung durch eine betrachtende Figur verzichten, wie z. B. Das Eismeer bzw. Die gescheiterte Hoffnung (worüber doch Alexander Kluge auch einen Text geschrieben hat, nicht wahr?). Dort werden die Trümmer eines zwischen Eisschollen zerborstenen Schiffes gezeigt. Eine Variation des bereits seit der Antike mit dem Erhabenen auf prototypische Weise verbundenen Motivs eines „Schiffbruchs mit Zuschauer“. Bei Friedrichs Gemälde ist es nun auffällig, dass die Zuschauerrolle – im Unterschied zum Nebelmeer – im Bild nicht selbst thematisch wird, was wohl einer ethisch-moralischen Verweigerung gleichkommt, das Mitgefühl mit den Ertrunkenen angesichts des „delightful horror“ der Szenerie überhaupt in Rechnung zu stellen.
Bevor ich mich hier kunstgeschichtlich um Kopf und Kragen dilettiere, will ich nur den einen Gedanken festhalten, dass das Erhabene die Frage nach seiner Rahmung – sei sie ästhetisch oder strategisch – eigentlich immer mit aufwirft. Das Erhabene impliziert ein zu überwältigendes Erfahrungssubjekt und da stellt sich doch bereits eine Grundfrage, die ich durch die Erinnerung an die beiden Gemälde von Caspar David Friedrich aufwerfen wollte: Nämlich, ob ein Individuum sich dieser Erfahrung aus einem eigenen Bedürfnis heraus aussetzt oder ob es ganz als passiver Adressat einer ästhetischen Manipulation behandelt wird, hinter der sich Absichten verbergen, die innerhalb der künstlerischen oder medialen Darstellung in keiner Weise repräsentiert werden.
Dazu fällt mir nun doch noch ein drittes Bild von CDF ein: Der Chasseur im Walde. Sollte das nicht so gemeint sein, dass die erhabene Majestät deutscher Baumkronen einem napoleonischen Soldaten das Fürchten lehrt? Zugegeben, die politische Aussage dieses Gemäldes wäre unendlich subtiler als all die pompösen Historien- und Schlachtengemälde, die im 19. Jh. Mode werden. Umso mehr wäre es deshalb ein Beispiel dafür, dass mit dem Ästhetischen immer ein Reflexionsbedarf gesetzt ist, gerade wo es das bloße Gefühl zu mobilisieren scheint.
Deinen Hinweis auf die Folgelosigkeit der Erfahrung des Erhabenen bei CDF halte ich wirklich für entscheidend, Felix. Wenn ich gleichzeitig über die von Lenna gestellten Fragen über das Erhabene als Motiv nachdenke, dann vermute ich, dass es vielleicht sinnvoll wäre darüber nachzudenken, ob nicht der Diskurs um das Erhabene und auch die Kunst des Erhabenen ‚um 1800‘ zu einem zu dieser Zeit vorherrschenden Naturbegriff in Verbindung stehen. Ist es nicht so, dass die Erfahrung des Erhabenen letztendlich in der Vorstellung des ‚Naturschönen‘ fundiert ist? Es braucht vermutlich nicht einmal eines Verweises auf das seit einiger Zeit so heiß diskutierte ‚Anthropozän‘, um zu der Einsicht zu gelangen, dass dieser Naturbegriff seine Gültigkeit verloren hat: auch wenn ‚Natur‘ gegenüber dem Menschen weiterhin als das Unermessliche erscheint, wird sie heute doch immer weniger als das Schöne, Unberührte (höchsten als Kitsch auf Instagram), noch als das durch den Menschen zu Meisternde, sondern immer stärker als Bedrohung diskursiviert. Das bedeutet jedoch nicht, dass die im Diskurs um das Erhabene gestellte Frage nach dem Zusammenhang von ‚Mensch‘ und ‚Natur‘, von ‚Ästhetik‘ und ‚Moral‘ obsolet geworden wäre: sie hat sich lediglich transformiert – und ich glaube, dass wir diesen Prozess in unserer Diskussion bereits umkreisen.
Ich würde in dieser Hinsicht gerne einige Notizen mit euch teilen, die ich Anfang des Semesters nach einer Doppelsitzung über die mediale Repräsentation des Golfkriegs 1990/91 gemacht habe und daran noch ein paar Überlegungen anschließen:
Auf ihrem Rückzug aus dem benachbarten Kuwait, zündete die irakische Armee Anfang 1991 hunderte Ölfelder an. Unter dem Schutz der Rauchschwaden sollte ein sicherer Abzug gelingen. Zugleich sollte die Kernindustrie des Nachbarlandes geschwächt werden, war der Invasion schließlich der Vorwurf einer Überproduktion durch Kuwait vorausgegangen.
Die Strategie, dem Gegner durch Zerstörung von Städten, Landschaften und Ressourcen Scorched Earth — Verbrannte Erde — zu hinterlassen, reicht in unterschiedlicher Form bis in die Antike zurück und findet bis heute Anwendung; jüngst etwa durch ISIS im Irak, dessen Truppen auf ihrem Rückzug ebenfalls Ölfelder angezündet haben.
Als in Kuwait nach Monaten das letzte Feuer gelöscht war, hatten die brennenden Ölfelder einen der größten ökologischen Schäden des 20. Jahrhunderts verursacht. Schätzungen zufolge wurden in der Zwischenzeit etwa eine Milliarde Barrel Rohöl verbrannt. Zusätzlich sind an Land sowie im Persischen Golf etwa vier bis sechs Millionen Barrel Öl ausgetreten, die sich zum Teil zu Seen gesammelt und Landschaft wie Tierwelt beschädigt haben.
Noch während der Löscharbeiten sind zwei Filme entstanden, die sich mit den Feuern beschäftigen. Der deutsche Filmemacher Werner Herzog erkannte in den Bränden Lektionen in Finsternis (1992). In langen, aus dem Helikopter aufgenommenen Kamerafahrten nimmt Herzog die Zerstörung auf: zerschrottete Karosserien, liegengebliebenes Kriegsgerät, die vom Öl überschwemmte Wüste, die noch immer lodernden Feuer. Er zeigt Menschen, die wortkarg versuchen, von ihrem Schicksal zu berichten.
Der kanadische Filmemacher David Douglas widmete seinen Film Fires of Kuwait (1992) vor allem den Löscharbeiten der Brände. Seine Dokumentation zeigt die Techniken und Methoden, mit denen Trupps aus mehreren Ländern gearbeitet haben: Sei es das Verstopfen der Quelle mit Schlamm. Sei es der Einsatz von Dynamit, dessen Explosion für Millisekunden ein Vakuum in der Leitung erzeugt und so die Flamme erstickt. Sei es die Turbine eines MiG-21-Kampfflugzeuges, die auf einen alten Panzer montiert und durch die mit hohem Druck Wasser auf die brennende Ölfontäne geschossen wurde.
Obwohl sich die Filme ihrem Gegenstand auf sehr unterschiedliche Weise nähern, stellt sich durch die visuelle Singularität dieser aus einem Krieg hervorgegangenen Umweltzerstörung die Gemeinsamkeit ein, dass diese in beiden Filmen als ein ästhetisches Ereignis gezeigt wird.
Herzog stellt seine ästhetisierende Sicht auf die Zerstörung geradezu offensiv aus, indem er seinen Film mit einem Zitat von Blaise Pascal eröffnet: „Der Zusammenbruch der Sternenwelten wird sich — wie die Schöpfung — in grandioser Schönheit vollziehen.“ Auch da, wo er wie Douglas vor dem Hintergrund der Feuerwände minutenlang die konzentrierte Arbeit der Löschmannschaften bis in einzelne Handgriffe hinein zeigt, bleiben die Brände primär ein ästhetisches Phänomen. Obwohl Herzog selbst auf dem Cover der DVD mit der Aussage zitiert wird, Lektionen in Finsternis sei sein „bildgewaltigster Film“, behilft er sich zudem in fast jeder Minute der Untermalung seiner Bilder durch klassische Musik; aufgezählt werden im Abspann Edvard Grieg: Peer Gynt, Gustav Mahler: Symphonie Nr. 2, Arvo Pärt: Stabat Mater, Sergej Prokofieff: Sonate für 2 Violinen op. 56, Franz Schubert: Notturno op. 148, Giuseppe Verdi: Requiem und Richard Wagner: Das Rheingold, Parsifal, Götterdämmerung. Vereinzelt spricht Herzog einen Off-Kommentar, dessen Duktus an die Beschreibungssprache eines Naturfilms angelehnt ist, diesen jedoch lyrifiziert und mit Zitaten aus der Bibel auflädt:
„Und es geschahen Blitze und Stimmen und Donner, und es geschah ein großes Erdbeben, wie es noch nicht gewesen ist, seit Menschen auf Erden sind – ein solches Erdbeben, so groß. […] Und alle Inseln verschwanden, und die Berge wurden nicht mehr gefunden. (Offenbarung 16, 18–20)
„Und der fünfte Engel blies seine Posaune: Und ich sah einen Stern, gefallen vom Himmel auf die Erde, und ihm wurde der Schlüssel zum Brunnen des Abgrunds gegeben. Und er tat den Brunnen des Abgrunds auf und es stieg ein Rauch auf, wie der Rauch eines großen Ofens, und es wurden verfinstert die Sonne und die Luft von dem Rauch. […] Und in jenen Tagen werden die Menschen den Tod suchen und nicht finden; sie werden begehren zu sterben und der Tod wird von ihnen fliehen.“ (Offenbarung 9,4).
Sei es angesichts einer Frau, die sprachlos den Verlust ihrer zu Tode gefolterten Söhne beklagt oder einer anderen Mutter, die vom Verstummen ihres nun vaterlosen Sohnes erzählt: Zu jeder Sekunde des Films sublimiert Herzog die Folgen des Krieges zu einem Gegenstand westeuropäischer Hochkultur. Im Modus das Erhabenen möchte Lektionen in Finsternis eine vermeintlich allgemein-menschliche Erfahrung aussprechen.
Douglas‘ dagegen kommt erst über die Darstellung der Teamarbeit, d.h. der Kooperation von Profis, die ihre Erfahrungen zur Bewältigung einer gemeinsamen Aufgabe koordinieren, einem – nicht wie bei Herzog abstrakten, sondern sehr konkreten – Gedanken von Menschlichkeit und Solidarität. Gleichzeitig kann auch Douglas sich der ästhetischen Faszination der Flammenwände, der Rauchschwaden und Ölseen nicht entziehen. Dass sein Film mit dem großformatigen IMAX-System aufgenommen wurde, unterstreicht deren singuläre ästhetische Qualität noch einmal.
Hier brechen meine Notizen ab. Um aber vorerst zum Ende zu kommen (vielleicht werden wir uns noch weiter darüber unterhalten): Bei beiden wird Natur in ihrer Zerstörung als ein genuin ästhetisches Ereignis gezeigt, es geht also bei beiden ein ästhetischer Impuls von diesen Bränden aus. Dieser wird jedoch unterschiedlich umgesetzt: während Herzog die Naturzerstörung sublimiert, geht es bei Douglas um die Frage der Kooperation. Gleichzeitig scheint es mir aber so, dass bei Douglas dadurch wiederum der Gedanke der Meisterung der Natur durch den Menschen wichtig wird, während Herzog (wenn ich an dieser Stelle einmal seine eigene Metaphorik aufgreifen darf) stärker die Finsternis der menschgemachten Naturkatastrophe zu betonen scheint. Soviel erstmal.
Ich würde in dieser Hinsicht gerne einige Notizen mit euch teilen, die ich Anfang des Semesters nach einer Doppelsitzung über die mediale Repräsentation des Golfkriegs 1990/91 gemacht habe und daran noch ein paar Überlegungen anschließen:
Auf ihrem Rückzug aus dem benachbarten Kuwait, zündete die irakische Armee Anfang 1991 hunderte Ölfelder an. Unter dem Schutz der Rauchschwaden sollte ein sicherer Abzug gelingen. Zugleich sollte die Kernindustrie des Nachbarlandes geschwächt werden, war der Invasion schließlich der Vorwurf einer Überproduktion durch Kuwait vorausgegangen.
Die Strategie, dem Gegner durch Zerstörung von Städten, Landschaften und Ressourcen Scorched Earth — Verbrannte Erde — zu hinterlassen, reicht in unterschiedlicher Form bis in die Antike zurück und findet bis heute Anwendung; jüngst etwa durch ISIS im Irak, dessen Truppen auf ihrem Rückzug ebenfalls Ölfelder angezündet haben.
Als in Kuwait nach Monaten das letzte Feuer gelöscht war, hatten die brennenden Ölfelder einen der größten ökologischen Schäden des 20. Jahrhunderts verursacht. Schätzungen zufolge wurden in der Zwischenzeit etwa eine Milliarde Barrel Rohöl verbrannt. Zusätzlich sind an Land sowie im Persischen Golf etwa vier bis sechs Millionen Barrel Öl ausgetreten, die sich zum Teil zu Seen gesammelt und Landschaft wie Tierwelt beschädigt haben.
Noch während der Löscharbeiten sind zwei Filme entstanden, die sich mit den Feuern beschäftigen. Der deutsche Filmemacher Werner Herzog erkannte in den Bränden Lektionen in Finsternis (1992). In langen, aus dem Helikopter aufgenommenen Kamerafahrten nimmt Herzog die Zerstörung auf: zerschrottete Karosserien, liegengebliebenes Kriegsgerät, die vom Öl überschwemmte Wüste, die noch immer lodernden Feuer. Er zeigt Menschen, die wortkarg versuchen, von ihrem Schicksal zu berichten.
Der kanadische Filmemacher David Douglas widmete seinen Film Fires of Kuwait (1992) vor allem den Löscharbeiten der Brände. Seine Dokumentation zeigt die Techniken und Methoden, mit denen Trupps aus mehreren Ländern gearbeitet haben: Sei es das Verstopfen der Quelle mit Schlamm. Sei es der Einsatz von Dynamit, dessen Explosion für Millisekunden ein Vakuum in der Leitung erzeugt und so die Flamme erstickt. Sei es die Turbine eines MiG-21-Kampfflugzeuges, die auf einen alten Panzer montiert und durch die mit hohem Druck Wasser auf die brennende Ölfontäne geschossen wurde.
Obwohl sich die Filme ihrem Gegenstand auf sehr unterschiedliche Weise nähern, stellt sich durch die visuelle Singularität dieser aus einem Krieg hervorgegangenen Umweltzerstörung die Gemeinsamkeit ein, dass diese in beiden Filmen als ein ästhetisches Ereignis gezeigt wird.
Herzog stellt seine ästhetisierende Sicht auf die Zerstörung geradezu offensiv aus, indem er seinen Film mit einem Zitat von Blaise Pascal eröffnet: „Der Zusammenbruch der Sternenwelten wird sich — wie die Schöpfung — in grandioser Schönheit vollziehen.“ Auch da, wo er wie Douglas vor dem Hintergrund der Feuerwände minutenlang die konzentrierte Arbeit der Löschmannschaften bis in einzelne Handgriffe hinein zeigt, bleiben die Brände primär ein ästhetisches Phänomen. Obwohl Herzog selbst auf dem Cover der DVD mit der Aussage zitiert wird, Lektionen in Finsternis sei sein „bildgewaltigster Film“, behilft er sich zudem in fast jeder Minute der Untermalung seiner Bilder durch klassische Musik; aufgezählt werden im Abspann Edvard Grieg: Peer Gynt, Gustav Mahler: Symphonie Nr. 2, Arvo Pärt: Stabat Mater, Sergej Prokofieff: Sonate für 2 Violinen op. 56, Franz Schubert: Notturno op. 148, Giuseppe Verdi: Requiem und Richard Wagner: Das Rheingold, Parsifal, Götterdämmerung. Vereinzelt spricht Herzog einen Off-Kommentar, dessen Duktus an die Beschreibungssprache eines Naturfilms angelehnt ist, diesen jedoch lyrifiziert und mit Zitaten aus der Bibel auflädt:
„Und es geschahen Blitze und Stimmen und Donner, und es geschah ein großes Erdbeben, wie es noch nicht gewesen ist, seit Menschen auf Erden sind – ein solches Erdbeben, so groß. […] Und alle Inseln verschwanden, und die Berge wurden nicht mehr gefunden. (Offenbarung 16, 18–20)
„Und der fünfte Engel blies seine Posaune: Und ich sah einen Stern, gefallen vom Himmel auf die Erde, und ihm wurde der Schlüssel zum Brunnen des Abgrunds gegeben. Und er tat den Brunnen des Abgrunds auf und es stieg ein Rauch auf, wie der Rauch eines großen Ofens, und es wurden verfinstert die Sonne und die Luft von dem Rauch. […] Und in jenen Tagen werden die Menschen den Tod suchen und nicht finden; sie werden begehren zu sterben und der Tod wird von ihnen fliehen.“ (Offenbarung 9,4).
Sei es angesichts einer Frau, die sprachlos den Verlust ihrer zu Tode gefolterten Söhne beklagt oder einer anderen Mutter, die vom Verstummen ihres nun vaterlosen Sohnes erzählt: Zu jeder Sekunde des Films sublimiert Herzog die Folgen des Krieges zu einem Gegenstand westeuropäischer Hochkultur. Im Modus das Erhabenen möchte Lektionen in Finsternis eine vermeintlich allgemein-menschliche Erfahrung aussprechen.
Douglas‘ dagegen kommt erst über die Darstellung der Teamarbeit, d.h. der Kooperation von Profis, die ihre Erfahrungen zur Bewältigung einer gemeinsamen Aufgabe koordinieren, einem – nicht wie bei Herzog abstrakten, sondern sehr konkreten – Gedanken von Menschlichkeit und Solidarität. Gleichzeitig kann auch Douglas sich der ästhetischen Faszination der Flammenwände, der Rauchschwaden und Ölseen nicht entziehen. Dass sein Film mit dem großformatigen IMAX-System aufgenommen wurde, unterstreicht deren singuläre ästhetische Qualität noch einmal.
Hier brechen meine Notizen ab. Um aber vorerst zum Ende zu kommen (vielleicht werden wir uns noch weiter darüber unterhalten): Bei beiden wird Natur in ihrer Zerstörung als ein genuin ästhetisches Ereignis gezeigt, es geht also bei beiden ein ästhetischer Impuls von diesen Bränden aus. Dieser wird jedoch unterschiedlich umgesetzt: während Herzog die Naturzerstörung sublimiert, geht es bei Douglas um die Frage der Kooperation. Gleichzeitig scheint es mir aber so, dass bei Douglas dadurch wiederum der Gedanke der Meisterung der Natur durch den Menschen wichtig wird, während Herzog (wenn ich an dieser Stelle einmal seine eigene Metaphorik aufgreifen darf) stärker die Finsternis der menschgemachten Naturkatastrophe zu betonen scheint. Soviel erstmal.
Auf die Waldbrände in Kalifornien wurde ich tatsächlich erst von einem Freund aufmerksam gemacht, der mir als sehr engagiertes Mitglied der Rilke-Gesellschaft völlig empört die Nachricht mitgeteilt hat, dass im Anwesen von Thomas Gottschalk eine Abschrift des Panther (Im Jardin des plantes) von des Dichters eigener Hand verbrannt ist! Dieser deutsche Fernsehkasper hatte sich – Benjamin v. Stuckrad-Barre gibt in Panikherz doch eine Schilderung – in Malibu ein Anwesen errichten lassen, nicht nur mit dekorativer Windmühle, sondern – wie wir jetzt wissen – auch mit dekorativer Rilke-Handschrift an der Wand. Es gibt zwar noch weitere authentische Abschriften des Gedichts (https://www.welt.de/kultur/literarischewelt/article183997800/Thomas-Gottschalk-als-Rilke-Fan.html), speziell dieser Verlust ist aber ein philologisches Massaker von wirklich verstörender Verantwortungslosigkeit. Eine Schande ist das! Als Kotau vor meiner eigenen Fernseh-Sozialisation, mit der ich mich hier gerade sehr unversöhnt zeigen muss, führe ich euch nun noch einen echten „Delling“ vor. Achtung hier kommt er:
Zum Glück hängen die Gemälde Caspar David Friedrichs nicht auch bei Thomas Gottschalk im Wohnzimmer, sondern in der relativen Sicherheit staatlicher Museen. Im Ernst, Lenna, vielen Dank, dass Du diese sehr plakative Gegenüberstellung des Wanderers über dem Nebelmeer mit einer Pressephotographie aus den Waldbrandgebieten mitgeteilt hast. Die Motive sind wirklich beinahe gleich. Ein Unterschied liegt aber darin, dass Caspar David Friedrichs Gemälde eine ästhetische und subjektzentrierte Erfahrung der Natur macht, die für andere folgenlos ist: Die im Nebel versunken Gebirgstäler werden nicht von einer Katastrophe heimgesucht, wohingegen die Waldbrände in Kalifornien ja großen Schaden angerichtet haben und zahlreiche Menschen umgekommen sind.
Auch wenn wir es hier mit einer besonders perversen Ästhetisierung zu tun haben, glaube ich dennoch nicht, dass das ambivalente Verhältnis zwischen Moral und Ästhetik letztlich aufgelöst werden kann. Die Beispiele, die Du heranziehst, Lenna, stellen diese Ambivalenz sehr gut heraus. Auch engl. „awe“ hat – zumindest in Edmund Burkes Enquiry […] of the Sublime and Beautiful – diese Stellung zwischen sinnlichem Empfinden und (moralischem) Werturteil inne:
„[T]hese emotions […] are capable of producing delight; not pleasure, but a sort of delightful horror, a sort of tranquility tinged with terror; which as it belongs to self-preservation is one of the strongest of all the passions. Its object is the sublime. Its highest degree I call astonishment; the subordinate degrees are awe, reverence, and respect […].“ (1759, 2. Ed., S. 257)
Ein aufgeklärter Umgang mit medialen Repräsentationen der Wirklichkeit müsste diese Ambivalenz mitreflektieren. Da mit emotionalisiertem Medienkonsum derzeit aber viel Geld verdient und auf neuartige Weise politische Macht erzeugt und organisiert wird, findet diese Reflexion anscheinend höchstens in der Kunst statt. Die Bücher von Finkelstein und Moshfegh scheinen sich jedenfalls diesen Fragen zu stellen.
Lenna, was meinst Du damit, dass ein moralischer Impuls durch eine mit ihm verknüpfte ästhetische Faszination komplexer wird? Man denkt es ja meistens in umgekehrter Richtung, dass das vermeintlich vernunftgemäße moralische Urteil von ästhetisch vermittelten Emotionen manipuliert, korrumpiert oder banalisiert wird.
Zum Glück hängen die Gemälde Caspar David Friedrichs nicht auch bei Thomas Gottschalk im Wohnzimmer, sondern in der relativen Sicherheit staatlicher Museen. Im Ernst, Lenna, vielen Dank, dass Du diese sehr plakative Gegenüberstellung des Wanderers über dem Nebelmeer mit einer Pressephotographie aus den Waldbrandgebieten mitgeteilt hast. Die Motive sind wirklich beinahe gleich. Ein Unterschied liegt aber darin, dass Caspar David Friedrichs Gemälde eine ästhetische und subjektzentrierte Erfahrung der Natur macht, die für andere folgenlos ist: Die im Nebel versunken Gebirgstäler werden nicht von einer Katastrophe heimgesucht, wohingegen die Waldbrände in Kalifornien ja großen Schaden angerichtet haben und zahlreiche Menschen umgekommen sind.
Auch wenn wir es hier mit einer besonders perversen Ästhetisierung zu tun haben, glaube ich dennoch nicht, dass das ambivalente Verhältnis zwischen Moral und Ästhetik letztlich aufgelöst werden kann. Die Beispiele, die Du heranziehst, Lenna, stellen diese Ambivalenz sehr gut heraus. Auch engl. „awe“ hat – zumindest in Edmund Burkes Enquiry […] of the Sublime and Beautiful – diese Stellung zwischen sinnlichem Empfinden und (moralischem) Werturteil inne:
„[T]hese emotions […] are capable of producing delight; not pleasure, but a sort of delightful horror, a sort of tranquility tinged with terror; which as it belongs to self-preservation is one of the strongest of all the passions. Its object is the sublime. Its highest degree I call astonishment; the subordinate degrees are awe, reverence, and respect […].“ (1759, 2. Ed., S. 257)
Ein aufgeklärter Umgang mit medialen Repräsentationen der Wirklichkeit müsste diese Ambivalenz mitreflektieren. Da mit emotionalisiertem Medienkonsum derzeit aber viel Geld verdient und auf neuartige Weise politische Macht erzeugt und organisiert wird, findet diese Reflexion anscheinend höchstens in der Kunst statt. Die Bücher von Finkelstein und Moshfegh scheinen sich jedenfalls diesen Fragen zu stellen.
Lenna, was meinst Du damit, dass ein moralischer Impuls durch eine mit ihm verknüpfte ästhetische Faszination komplexer wird? Man denkt es ja meistens in umgekehrter Richtung, dass das vermeintlich vernunftgemäße moralische Urteil von ästhetisch vermittelten Emotionen manipuliert, korrumpiert oder banalisiert wird.
Habt ihr in den letzten Wochen eigentlich die Berichterstattung über die Wildfires in Californien verfolgt? Ich denke, dass sich dort in Hinblick auf die Mediatisierung von Katastrophen sehr ähnliche Fragen stellen. Ich würde insbesondere auf die ästhetischen Implikationen dieser Fragestellung aufmerksam machen wollen. Du zitierst den letzten Satz aus My Year of Rest and Relaxation, Sidonie. Dem würde ich gerne noch den vorletzten zur Seite stellen, dort heißt es über die aus dem Tower springende Frau: „I am overcome by awe, not because she looks like Reva, and I think it’s her, almost exactly her, and not because Reva and I had been friends, or because I’ll never see her again, but because she is beautiful.“ (S. 289.) Es wird zunächst eine moralische Reaktion benannt (Ehrfurcht), die dann auf ein Geschmacksurteil (schön) zurückgeführt wird. Auch bei Survivre scheint mir von der Fotografie aus dem Bataclan nicht bloß ein moralischer Impuls, sondern ebenso eine ästhetische Faszination auszugehen, durch die der moralische Impuls noch einmal intensiviert, d.h. komplexer wird. (Ich habe mir auf Arte einen Beitrag angeguckt, in dem Finkelstein selbst noch einmal auf die Schönheit hinweist, die in der Komposition dieser Fotografie liegt: https://www.arte.tv/de/videos/084485–000-A/ueberleben-gespraech-mit-der-schriftstellerin-frederika-amalia-finkelstein/)
Ich frage mich nun u.a., inwiefern es sich hier um Phänomene des Schönen oder aber des Erhabenen handelt. In beiden Fällen, so scheint es mir, wird das Schöne in Richtung des Erhabenen überschritten: im ästhetischen Phänomen zeigt sich eine (moralische) Unermesslichkeit an. Die Frage wäre dann, ob es wieder zu so etwas wie einer Stabilisierung des betrachtenden Subjekts kommt. Bei dem, was du zu Butler ausführst, scheint es ja vor allem um eine Rhetorik der Verletzlichkeit zu gehen, die sich dann in Richtung von (nationalen, religiösen) Gemeinschaften sublimiert. Wie ist das bei Moshfegh und Finkelstein? Lassen diese Arten von (digitalen) Bildern – in ihrer Kompaktheit und ihrer nicht stillzustellenden Zirkulation – so etwas wie das Gefühl des Erhabenen überhaupt noch zu? Oder geht es vielleicht eher um eine nicht mehr zu sistierende Erschütterung? Moshfeghs Erzählerin guckt sich diese Sequenz also auf Repeat an: aber ist die über die Fernbedienung ausgeübte Kontrolle über die Bilder, die sie da sieht, nicht eine einzige Illusion?
In Bezug auf Californieren dachte ich, dass das Erhabene hier vielleicht auch einfach zu einem zitierbaren Motiv geworden ist: https://twitter.com/v21collective/status/1062685712154267649 ? Was denkt ihr?
Ich frage mich nun u.a., inwiefern es sich hier um Phänomene des Schönen oder aber des Erhabenen handelt. In beiden Fällen, so scheint es mir, wird das Schöne in Richtung des Erhabenen überschritten: im ästhetischen Phänomen zeigt sich eine (moralische) Unermesslichkeit an. Die Frage wäre dann, ob es wieder zu so etwas wie einer Stabilisierung des betrachtenden Subjekts kommt. Bei dem, was du zu Butler ausführst, scheint es ja vor allem um eine Rhetorik der Verletzlichkeit zu gehen, die sich dann in Richtung von (nationalen, religiösen) Gemeinschaften sublimiert. Wie ist das bei Moshfegh und Finkelstein? Lassen diese Arten von (digitalen) Bildern – in ihrer Kompaktheit und ihrer nicht stillzustellenden Zirkulation – so etwas wie das Gefühl des Erhabenen überhaupt noch zu? Oder geht es vielleicht eher um eine nicht mehr zu sistierende Erschütterung? Moshfeghs Erzählerin guckt sich diese Sequenz also auf Repeat an: aber ist die über die Fernbedienung ausgeübte Kontrolle über die Bilder, die sie da sieht, nicht eine einzige Illusion?
In Bezug auf Californieren dachte ich, dass das Erhabene hier vielleicht auch einfach zu einem zitierbaren Motiv geworden ist: https://twitter.com/v21collective/status/1062685712154267649 ? Was denkt ihr?
Ich kann überhaupt nicht schlafen, deshalb schreibe ich jetzt doch noch einmal auf, was mich bei Finkelstein beschäftigt. Das zentrale Ereignis, um das die Erzählung kreist, sind wie gesagt die Anschläge vom 13. November 2015. Die Erzählerin erfährt von der Existenz eines Fotos, das im Inneren das Bataclan entstanden ist: zu sehen sind darauf einige Leichen sowie die Blutschlieren, die offenbar entstanden sind, als man andere Leichen über den Boden hinweg aus der Halle geschleift hat. Sobald die Erzählerin erfährt, dass dieses Bild existiert und dass es verboten wurde, es im Internet zu verbreiten, ist sie von dem Willen besessen, es zu sehen und findet es auch sehr schnell:
„Mais il y avait un problème: les corps étaient floutés, comme s‘il était inacceptable de les voir ainsi dans leur mort; comme s’ils relevaient de la pornographie. Cela m’a mise hors de moi, car je voulais voir les corps, plus précisément, je voulais voir ce qu’on leur avait infligé. La vue d’un corps assassiné est-il un déshonneur? non ; flouter le corps d’un mort, c’est le tuer une seconde fois. Il fallait que j’obtienne la version non censurée de la photographie parce qu’il fallait que je voie ces corps dans leur réalité, avant qu’ils n’aient été violés par la bienséance médiatique – il fallait que je les voie innocents dans leur mort, c’était une question de respect pour ce qu’ils ont subi, et peut-être aussi, je l’avoue, un réflexe de voyeur.“ (Finkelstein, Frederika Amalia: Survivre, Paris 2017, S. 17f.)
Diese Passage ist gewaltig. Es geht aber noch weiter: die Erzählerin findet kurz darauf auch eine Version des Bildes, auf der die Gesichter der Toten nicht zensiert wurden. Hier besteht nur das neue Problem, dass das gesamte Bild eine sehr niedrige Auflösung hat, schlecht komprimiert ist: „Ainsi les visages furent mutilés: ils devinrent des lieux de vertige, où l’on venait abîmer son imagination. Je l’ai dit, c’est un risque, on ne doit pas modifiert ni réinventer les morts: il faut résister à cette tentation.“ (Ebd., S. 18.) Ich weiß gar nicht, ob ich jetzt schon sofort noch etwas dazu sagen kann, ich hatte erst einmal Bedürfnis, das mit euch zu teilen. Auf jeden Fall bewundere ich die moralische Komplexität, die hier anklingt: ich glaube, es geht um Moralität, nicht um Moralismus. (Ich glaube, ich lege mich jetzt lieber doch noch einmal hin.)
„Mais il y avait un problème: les corps étaient floutés, comme s‘il était inacceptable de les voir ainsi dans leur mort; comme s’ils relevaient de la pornographie. Cela m’a mise hors de moi, car je voulais voir les corps, plus précisément, je voulais voir ce qu’on leur avait infligé. La vue d’un corps assassiné est-il un déshonneur? non ; flouter le corps d’un mort, c’est le tuer une seconde fois. Il fallait que j’obtienne la version non censurée de la photographie parce qu’il fallait que je voie ces corps dans leur réalité, avant qu’ils n’aient été violés par la bienséance médiatique – il fallait que je les voie innocents dans leur mort, c’était une question de respect pour ce qu’ils ont subi, et peut-être aussi, je l’avoue, un réflexe de voyeur.“ (Finkelstein, Frederika Amalia: Survivre, Paris 2017, S. 17f.)
Diese Passage ist gewaltig. Es geht aber noch weiter: die Erzählerin findet kurz darauf auch eine Version des Bildes, auf der die Gesichter der Toten nicht zensiert wurden. Hier besteht nur das neue Problem, dass das gesamte Bild eine sehr niedrige Auflösung hat, schlecht komprimiert ist: „Ainsi les visages furent mutilés: ils devinrent des lieux de vertige, où l’on venait abîmer son imagination. Je l’ai dit, c’est un risque, on ne doit pas modifiert ni réinventer les morts: il faut résister à cette tentation.“ (Ebd., S. 18.) Ich weiß gar nicht, ob ich jetzt schon sofort noch etwas dazu sagen kann, ich hatte erst einmal Bedürfnis, das mit euch zu teilen. Auf jeden Fall bewundere ich die moralische Komplexität, die hier anklingt: ich glaube, es geht um Moralität, nicht um Moralismus. (Ich glaube, ich lege mich jetzt lieber doch noch einmal hin.)
Lenna, würde ich noch an den Nutzen von Utopien glauben: meine Trägerin der Utopie wärst du allemal! (Wir brauchen keine Utopien, sondern Emanzipation.) Mir hat dieses Kill Your Darlings! auf jeden Fall tierisch Spaß gemacht. Wie du schon sagst: das war wirklich zeitgenössisch. Was mich sonst am Theater immer so genervt hat, ist vor allem diese mutwillige Behauptung, der man dort permanent ausgesetzt ist, irgendwelche uralten Texte wären ausgerechnet heute wieder super relevant. Das geht dann meistens mit den banalsten Formen von ‚Politisierung‘ einher, indem entweder irgendwelche Parallelen zwischen damals und heute behauptet werden, die keinem genaueren Blick standhalten könnten oder aber – noch schlimmer – gleich auf das ganz große, ewig Allgemeinmenschliche abgezielt wird. Wie deine Ausführungen mir noch einmal klar machen, geht es auch anders. Und auch wenn ich mich an diese Stelle, von der du da sprichst, schon gar nicht mehr erinnern kann: Solltest du noch einmal in die Situation kommen, das Stück zu sehen, wünsche ich dir allen Mut der Welt!
Über das Ende von My Year of Rest and Relaxation habe ich mir ziemlich den Kopf zerbrochen und ich war sehr überrascht und irritiert von dessen Verklärung und auch Moralität. Eine Frau springt aus dem brennenden World Trade Center und sie verkörpert in diesem Augenblick genau das, was die Protagonistin durch ihren Winterschlaf hatte erlangen wollen: „There she is, a human being, diving into the unknown, and she is wide awake.“ (Moshfegh, Ottessa: My Year of Rest and Relaxation, New York 2018, S. 289.)
Du hast angemerkt, dass die Terroranschläge von 9/11 als ein „Wiedereinbruch des Realen“ narrativiert und politisiert wurden. Genau dazu haben wir in dem Seminar zu medialen Repräsentationen des Krieges, das ich gerade besuche, einige Texte von Susan Sontag (Regarding the Pain of Others) und Judith Butler (u.a. Frames of War. When Is Life Grievable?) gelesen, die ich sehr aufschlussreich fand. So stellt Butler z. B. klar, dass Trauer gar nicht so privatisierend wirke, wie viele glauben, sondern dass die öffentliche Trauer immer auch der Konstitution einer politischen Gemeinschaft dient. Der Gedanke wird aus der leiblichen und emotionalen Angewiesenheit von Menschen auf ihre soziale Umgebung hergeleitet. Durch die Narrativierung in den Medien oder in öffentlichen Zeremonien würden die Toten des World Trade Center zu Individuen, deren Verlust dadurch überhaupt erst betrauert werden könne und über das Gefühl, durch diesen Verlust verletzbar zu sein, entstehe dann ein Vergemeinschaftungseffekt. (Hier stellt sich dann wieder die Frage nach dem Verhältnis von öffentlichen und privaten Gefühlen, die ich schon in Bezug auf Survivre von Finkelstein gestellt hatte.) Die politische Dimension besteht darin, dass die Dispositive zur Ermöglichung öffentlicher Trauer sehr stark (nach xenophoben, rassistischen, usw. Kriterien) zwischen Opfern der verschiedenen Hemisphären diskriminieren: Politisch steht also nicht nur zur Frage, when Life grievable ist, sondern vor allem auch: wessen Leben betrauert und individualisiert wird und wessen nicht.
Damit, dass Ottessa Moshfegh ihren Roman schon grundsätzlich nicht in dieser Zeit hätte ansiedeln müssen und dass der Rekurs auf 9/11 im Grunde überflüssig ist, hast du meiner Meinung nach recht. Ich denke aber nicht, dass sich der Roman sich deshalb so einfach in das ideologische Narrativ eines „Wiedereinbruchs des Realen“ einschreibt. Der Text bleibt darin eigentlich sehr ambivalent und mehrfach vermittelt: Die letzten Sätze erzählen nicht einfach von einer Frau, die aus dem brennenden World Trade Center springt, sondern sie erzählen den Blick der Protagonistin auf einen TV-Bericht, den sie als Videomitschnitt auf Dauerschleife laufen lässt. Das ist doch dieselbe Praxis wie zuvor, als sie, „to soothe myself“, Filme mit Whoopy Goldberg oder Harrison Ford wieder und wieder schaut. Ein paar Seiten vor Schluss erwähnt sie eine Elsa Schneider aus einem dieser Indiana Jones-Filme (die ich alle nicht kenne), die in den Abgrund fällt. Rein motivisch wird dadurch doch der Zusammenhang hergestellt, dass die Berichterstattung über die Terroranschläge sich in Wahrheit in die zahllosen Sedativa einreiht, von denen der Roman erzählt. Die Suggestion, auch die Protagonistin wäre nach ihrem Jahr des Betäubungsmittelexzesses „wide awake“ erscheint mir eine haltlose und (wie ich hoffe, absichtlich) irreführende Behauptung: Es ist die Figur und nicht die Autorin, die da spricht, und ihre Perspektive ist am Ende des Textes mehr denn je vernebelt. Vom Terror als Ausdruck einer „Heilung“ zu sprechen, wie es dein Freund Patrik getan hat, trifft es deshalb meiner Meinung nach nicht wirklich. Es scheint mir zumindest komplizierter.
(Ich hätte jetzt noch einige allgemeine Sachen zur Frage der Solidarität zu sagen, über die ich seit längerem nachdenke. Vielleicht ist jetzt aber noch nicht der richtige Zeitpunkt. Außerdem fällt mir zu dieser ganzen Fragestellung der Trauer und ihrer Medialität noch eine wichtige Stelle bei Finkelstein ein, ich hätte bloß ein schlechtes Gewissen, darüber und über so einen ironischen Text wie den von Moshfegh in einem einzigen Beitrag zu schreiben.)
Über das Ende von My Year of Rest and Relaxation habe ich mir ziemlich den Kopf zerbrochen und ich war sehr überrascht und irritiert von dessen Verklärung und auch Moralität. Eine Frau springt aus dem brennenden World Trade Center und sie verkörpert in diesem Augenblick genau das, was die Protagonistin durch ihren Winterschlaf hatte erlangen wollen: „There she is, a human being, diving into the unknown, and she is wide awake.“ (Moshfegh, Ottessa: My Year of Rest and Relaxation, New York 2018, S. 289.)
Du hast angemerkt, dass die Terroranschläge von 9/11 als ein „Wiedereinbruch des Realen“ narrativiert und politisiert wurden. Genau dazu haben wir in dem Seminar zu medialen Repräsentationen des Krieges, das ich gerade besuche, einige Texte von Susan Sontag (Regarding the Pain of Others) und Judith Butler (u.a. Frames of War. When Is Life Grievable?) gelesen, die ich sehr aufschlussreich fand. So stellt Butler z. B. klar, dass Trauer gar nicht so privatisierend wirke, wie viele glauben, sondern dass die öffentliche Trauer immer auch der Konstitution einer politischen Gemeinschaft dient. Der Gedanke wird aus der leiblichen und emotionalen Angewiesenheit von Menschen auf ihre soziale Umgebung hergeleitet. Durch die Narrativierung in den Medien oder in öffentlichen Zeremonien würden die Toten des World Trade Center zu Individuen, deren Verlust dadurch überhaupt erst betrauert werden könne und über das Gefühl, durch diesen Verlust verletzbar zu sein, entstehe dann ein Vergemeinschaftungseffekt. (Hier stellt sich dann wieder die Frage nach dem Verhältnis von öffentlichen und privaten Gefühlen, die ich schon in Bezug auf Survivre von Finkelstein gestellt hatte.) Die politische Dimension besteht darin, dass die Dispositive zur Ermöglichung öffentlicher Trauer sehr stark (nach xenophoben, rassistischen, usw. Kriterien) zwischen Opfern der verschiedenen Hemisphären diskriminieren: Politisch steht also nicht nur zur Frage, when Life grievable ist, sondern vor allem auch: wessen Leben betrauert und individualisiert wird und wessen nicht.
Damit, dass Ottessa Moshfegh ihren Roman schon grundsätzlich nicht in dieser Zeit hätte ansiedeln müssen und dass der Rekurs auf 9/11 im Grunde überflüssig ist, hast du meiner Meinung nach recht. Ich denke aber nicht, dass sich der Roman sich deshalb so einfach in das ideologische Narrativ eines „Wiedereinbruchs des Realen“ einschreibt. Der Text bleibt darin eigentlich sehr ambivalent und mehrfach vermittelt: Die letzten Sätze erzählen nicht einfach von einer Frau, die aus dem brennenden World Trade Center springt, sondern sie erzählen den Blick der Protagonistin auf einen TV-Bericht, den sie als Videomitschnitt auf Dauerschleife laufen lässt. Das ist doch dieselbe Praxis wie zuvor, als sie, „to soothe myself“, Filme mit Whoopy Goldberg oder Harrison Ford wieder und wieder schaut. Ein paar Seiten vor Schluss erwähnt sie eine Elsa Schneider aus einem dieser Indiana Jones-Filme (die ich alle nicht kenne), die in den Abgrund fällt. Rein motivisch wird dadurch doch der Zusammenhang hergestellt, dass die Berichterstattung über die Terroranschläge sich in Wahrheit in die zahllosen Sedativa einreiht, von denen der Roman erzählt. Die Suggestion, auch die Protagonistin wäre nach ihrem Jahr des Betäubungsmittelexzesses „wide awake“ erscheint mir eine haltlose und (wie ich hoffe, absichtlich) irreführende Behauptung: Es ist die Figur und nicht die Autorin, die da spricht, und ihre Perspektive ist am Ende des Textes mehr denn je vernebelt. Vom Terror als Ausdruck einer „Heilung“ zu sprechen, wie es dein Freund Patrik getan hat, trifft es deshalb meiner Meinung nach nicht wirklich. Es scheint mir zumindest komplizierter.
(Ich hätte jetzt noch einige allgemeine Sachen zur Frage der Solidarität zu sagen, über die ich seit längerem nachdenke. Vielleicht ist jetzt aber noch nicht der richtige Zeitpunkt. Außerdem fällt mir zu dieser ganzen Fragestellung der Trauer und ihrer Medialität noch eine wichtige Stelle bei Finkelstein ein, ich hätte bloß ein schlechtes Gewissen, darüber und über so einen ironischen Text wie den von Moshfegh in einem einzigen Beitrag zu schreiben.)
Ich war leider nicht bei der Lesung, Sidonie, das ist vollkommen an mir vorbeigegangen. Hättest du mal früher Bescheid gesagt! Finkelstein klingt aber wirklich gut, gib mir ein bisschen Zeit, damit ich ihre Romane lesen kann, dann können wir uns darüber unterhalten, okay?
Nun gut, ich lag ehrlich gesagt ohnehin krank im Bett. Dieser permanente Wetterwechsel über die letzten Wochen macht mich richtig fertig, meine gesamte gute Laune ist dahin: Ich komme morgens kaum aus dem Bett und bin kurz nach dem Mittagessen schon wieder so müde, dass ich mich am liebsten wieder hinlegen würde. Letzte Woche hat es mich endgültig erwischt. Ich habe dann aber immerhin versucht, meinen Zustand programmatisch zu wenden, indem ich My Year of Rest and Relaxation von Ottessa Moshfegh gelesen habe. Kennt das von euch jemand? Die Erzählerin will ihre Depressionen überwinden, indem sie ein Jahr lang mithilfe eines wilden Cocktails aus Anti-Depressiva und Schlafmitteln so viel wie möglich zu schlafen versucht: einfach nur schlafen. Zu Anfang werden die ganzen Vorbereitungen erzählt, die zur Umsetzung ihres Planes getroffen werden und dieser praktische Zugriff ist – gerade auch in Kombination mit der Persiflage eines gewissen New Yorker Kunstmilieus, in dem die Erzählerin zunächst noch ‚arbeitet‘ – wirklich unterhaltsam. Ich habe mich dann schnell gefragt, warum der Roman ausgerechnet im Jahr 2000 spielt bzw. anfängt. Als dann aber erzählt wurde, dass die Affäre der Erzählerin im WTC arbeitet und auch ihre beste Freundin irgendwann dorthin versetzt wird, wurde schnell klar, womit der Roman enden würde: 9/11 – und so kam es dann auch und damit wurde es mir ehrlich gesagt ein bisschen zu, ja, vielleicht zu allegorisch? Ist das eine Allegorie? Ist das die Wiederauflage des Zauberberg?
Ich frage mich also, warum Moshfegh genau jetzt genau diese Geschichte – die in ihrer Grundanlage durchaus auch im Jahr 2018 hätte spielen können – an genau diesem historischen Zeitpunkt stattfinden lässt. Mein Freund Patrik (der mir das Buch empfohlen hatte) hat mir erzählt, dass es in Leaving the Atocha Station von Ben Lerner (Schon wieder dieser Lerner! Wenn ich allein die Zusammenfassung zu seinem Buch lese, wird mir schlecht: „Adam Gordon is a […] young American poet on a prestigious fellowship in Madrid, struggling to establish his sense of self and his attitude towards art. […] Adam’s ‚research‘ soon becomes a meditation on the possibility of authenticity, as he finds himself increasingly troubled by the uncrossable distance between himself and the world around him.“ ‚Authenticity‘ – das klingt nach exakt dem gleichen Mist wie in 10:04! Ob Ben Lerner und Simon Strauß eigentlich schon Nummern getauscht haben?) ganz ähnlich sei, er schreibt: „junger mensch ist tablettensüchtig und voller anxiety und am ende kommt der terror als ausdruck der heilung“. Das bringt die ganze Problematik der Sache in nur einem Satz auf den Punkt. Das reiht sich für meinen Geschmack alles viel zu nahtlos in dieses Narrativ von 9/11 als ‚Wiedereinbruch des Realen‘, als ‚Ende vom Ende der Geschichte‘ ein. Soll daran nun erinnert werden? My Year of Rest and Relaxtion hätte ein richtig guter Dekadenzroman im Jahr 2018 werden können, hat sich das meiner Meinung nach aber durch diese historische Platzierung versaut. Vielleicht hat ja noch jemand das Buch gelesen, dann könnten wir uns noch einmal ausführlicher über die allerletzte Seite unterhalten.
Nun habe ich mich schon dermaßen verausgabt, dass ich gar nicht weiß, ob ich noch die Energie finde, einen Gedanken zu Kill your Darlings! beizusteuern. Zumindest aber so viel: Dass das Stück bei allen so gut ankommt, liegt vielleicht auch daran, dass es eben kein bloßes ‚Diskurstheater‘ ist, sondern vor allem auch Pop. Wie heißt es so schön? ‚Pop hat kein Problem.‘ Dass diese Maxime sich mit dem Versuch kreuzt, eben doch spezifische Probleme der Gegenwart in einer maximalen Geste von Zeitgenossenschaft zu erörtern, macht für mich den Reiz dieses Stückes aus. (Manchmal finde ich es allerdings schon wieder unheimlich, wie sehr sich alle auf genau dieses Stück einigen können. Das spricht vielleicht schon wieder dagegen.)
Da du, Felix, von der Solidarität zwischen Publikum und Performern sprichst, ist da auch noch dieser eine entscheidende Moment, in dem Hinrichs im Krakenkostüm ganz hinten auf der Bühne steht und nach jemandem ruft, der ihm da raushelfen könnte: aber es kommt niemand. Ich habe mich immer gefragt: was wäre, wenn doch jemand kommen würde? Wenn jemand den Mut (das ist ja das aller erste Wort des Stücks) aufbringen würde, vom Zuschauerplatz aufzustehen, den weiten Weg über die Bühne zu gehen und Hinrichs aus dem Kostüm zu helfen. Wäre das nicht der Akt der Solidarität, der ‚da noch fehlt‘? Ist genau das die schönste Stelle, die gestrichen werden musste, weil sie nicht zu leben ist? Die es aber doch immer wieder einzufordern gilt? Ich habe drei oder vier Aufführungen angesehen (irgendwann hat Kill your Darlings! Hamlet in der Funktion abgelöst, Freundinnen und Freunde, die sonst nie ins Theater gehen, auch mal mitzunehmen – sorry, Sidonie!) – und nie hatte jemand den Mut, auf die Bühne zu gehen. Einmal sind einige Leute an einer anderen Stelle auf die Bühne gegangen: als es geregnet hat und die Bühne sich auf einmal in eine Rutschbahn der Lust, in diese feuchtfröhliche Feier des jugendlichen Körpers verwandelt hat. Da ja, da sind Leute auf die Bühne gegangen, um da mitzumachen. An der anderen Stelle aber, an der meiner Meinung nach entscheidenderen, da nicht. Auch ich nicht – und es beschäftigt mich bis heute, dass ich immer gedacht habe: dass ausgerechnet ich diejenige sein soll, wäre mir peinlich gewesen. Bin ausgerechnet ich die Trägerin der Utopie? Immer habe ich gehofft, dass jemand anderes aufstehen würde, allein, um herauszufinden, was passiert: ob Hinrichs das zulassen würde. Ob das Stück dann einfach vorbei wäre oder ob es irgendwie anders weitergehen würde als die anderen Male. Das frage ich mich bis heute. Vielleicht sind diese Fragen aber falsch und die eigentliche Frage wäre: wieso fehlt mir der Mut? (Ich schreibe mit Absicht nicht ‚fehlte‘, weil ich, obwohl ich nun schon so lange darüber nachdenke, nicht glaube, dass ich heute mutiger wäre.)
Nun gut, ich lag ehrlich gesagt ohnehin krank im Bett. Dieser permanente Wetterwechsel über die letzten Wochen macht mich richtig fertig, meine gesamte gute Laune ist dahin: Ich komme morgens kaum aus dem Bett und bin kurz nach dem Mittagessen schon wieder so müde, dass ich mich am liebsten wieder hinlegen würde. Letzte Woche hat es mich endgültig erwischt. Ich habe dann aber immerhin versucht, meinen Zustand programmatisch zu wenden, indem ich My Year of Rest and Relaxation von Ottessa Moshfegh gelesen habe. Kennt das von euch jemand? Die Erzählerin will ihre Depressionen überwinden, indem sie ein Jahr lang mithilfe eines wilden Cocktails aus Anti-Depressiva und Schlafmitteln so viel wie möglich zu schlafen versucht: einfach nur schlafen. Zu Anfang werden die ganzen Vorbereitungen erzählt, die zur Umsetzung ihres Planes getroffen werden und dieser praktische Zugriff ist – gerade auch in Kombination mit der Persiflage eines gewissen New Yorker Kunstmilieus, in dem die Erzählerin zunächst noch ‚arbeitet‘ – wirklich unterhaltsam. Ich habe mich dann schnell gefragt, warum der Roman ausgerechnet im Jahr 2000 spielt bzw. anfängt. Als dann aber erzählt wurde, dass die Affäre der Erzählerin im WTC arbeitet und auch ihre beste Freundin irgendwann dorthin versetzt wird, wurde schnell klar, womit der Roman enden würde: 9/11 – und so kam es dann auch und damit wurde es mir ehrlich gesagt ein bisschen zu, ja, vielleicht zu allegorisch? Ist das eine Allegorie? Ist das die Wiederauflage des Zauberberg?
Ich frage mich also, warum Moshfegh genau jetzt genau diese Geschichte – die in ihrer Grundanlage durchaus auch im Jahr 2018 hätte spielen können – an genau diesem historischen Zeitpunkt stattfinden lässt. Mein Freund Patrik (der mir das Buch empfohlen hatte) hat mir erzählt, dass es in Leaving the Atocha Station von Ben Lerner (Schon wieder dieser Lerner! Wenn ich allein die Zusammenfassung zu seinem Buch lese, wird mir schlecht: „Adam Gordon is a […] young American poet on a prestigious fellowship in Madrid, struggling to establish his sense of self and his attitude towards art. […] Adam’s ‚research‘ soon becomes a meditation on the possibility of authenticity, as he finds himself increasingly troubled by the uncrossable distance between himself and the world around him.“ ‚Authenticity‘ – das klingt nach exakt dem gleichen Mist wie in 10:04! Ob Ben Lerner und Simon Strauß eigentlich schon Nummern getauscht haben?) ganz ähnlich sei, er schreibt: „junger mensch ist tablettensüchtig und voller anxiety und am ende kommt der terror als ausdruck der heilung“. Das bringt die ganze Problematik der Sache in nur einem Satz auf den Punkt. Das reiht sich für meinen Geschmack alles viel zu nahtlos in dieses Narrativ von 9/11 als ‚Wiedereinbruch des Realen‘, als ‚Ende vom Ende der Geschichte‘ ein. Soll daran nun erinnert werden? My Year of Rest and Relaxtion hätte ein richtig guter Dekadenzroman im Jahr 2018 werden können, hat sich das meiner Meinung nach aber durch diese historische Platzierung versaut. Vielleicht hat ja noch jemand das Buch gelesen, dann könnten wir uns noch einmal ausführlicher über die allerletzte Seite unterhalten.
Nun habe ich mich schon dermaßen verausgabt, dass ich gar nicht weiß, ob ich noch die Energie finde, einen Gedanken zu Kill your Darlings! beizusteuern. Zumindest aber so viel: Dass das Stück bei allen so gut ankommt, liegt vielleicht auch daran, dass es eben kein bloßes ‚Diskurstheater‘ ist, sondern vor allem auch Pop. Wie heißt es so schön? ‚Pop hat kein Problem.‘ Dass diese Maxime sich mit dem Versuch kreuzt, eben doch spezifische Probleme der Gegenwart in einer maximalen Geste von Zeitgenossenschaft zu erörtern, macht für mich den Reiz dieses Stückes aus. (Manchmal finde ich es allerdings schon wieder unheimlich, wie sehr sich alle auf genau dieses Stück einigen können. Das spricht vielleicht schon wieder dagegen.)
Da du, Felix, von der Solidarität zwischen Publikum und Performern sprichst, ist da auch noch dieser eine entscheidende Moment, in dem Hinrichs im Krakenkostüm ganz hinten auf der Bühne steht und nach jemandem ruft, der ihm da raushelfen könnte: aber es kommt niemand. Ich habe mich immer gefragt: was wäre, wenn doch jemand kommen würde? Wenn jemand den Mut (das ist ja das aller erste Wort des Stücks) aufbringen würde, vom Zuschauerplatz aufzustehen, den weiten Weg über die Bühne zu gehen und Hinrichs aus dem Kostüm zu helfen. Wäre das nicht der Akt der Solidarität, der ‚da noch fehlt‘? Ist genau das die schönste Stelle, die gestrichen werden musste, weil sie nicht zu leben ist? Die es aber doch immer wieder einzufordern gilt? Ich habe drei oder vier Aufführungen angesehen (irgendwann hat Kill your Darlings! Hamlet in der Funktion abgelöst, Freundinnen und Freunde, die sonst nie ins Theater gehen, auch mal mitzunehmen – sorry, Sidonie!) – und nie hatte jemand den Mut, auf die Bühne zu gehen. Einmal sind einige Leute an einer anderen Stelle auf die Bühne gegangen: als es geregnet hat und die Bühne sich auf einmal in eine Rutschbahn der Lust, in diese feuchtfröhliche Feier des jugendlichen Körpers verwandelt hat. Da ja, da sind Leute auf die Bühne gegangen, um da mitzumachen. An der anderen Stelle aber, an der meiner Meinung nach entscheidenderen, da nicht. Auch ich nicht – und es beschäftigt mich bis heute, dass ich immer gedacht habe: dass ausgerechnet ich diejenige sein soll, wäre mir peinlich gewesen. Bin ausgerechnet ich die Trägerin der Utopie? Immer habe ich gehofft, dass jemand anderes aufstehen würde, allein, um herauszufinden, was passiert: ob Hinrichs das zulassen würde. Ob das Stück dann einfach vorbei wäre oder ob es irgendwie anders weitergehen würde als die anderen Male. Das frage ich mich bis heute. Vielleicht sind diese Fragen aber falsch und die eigentliche Frage wäre: wieso fehlt mir der Mut? (Ich schreibe mit Absicht nicht ‚fehlte‘, weil ich, obwohl ich nun schon so lange darüber nachdenke, nicht glaube, dass ich heute mutiger wäre.)
Du sprichst, liebe Sidonie, von Kill Your Darlings! The Streets of Berlapelphia, das seit 2012 ein echter Publikumsliebling an der Volksbühne war. Der Schauspieler in Leggins und Krakenkostüm war Fabian Hinrichs und der Regisseur war René Pollesch.
Ich habe diesen Theaterabend in guter in Erinnerung, allein schon, weil ich mehrmals dort war, so gut hat mir das gefallen! Ich hatte schon vorher ein paar Stücke von Pollesch gesehen, die ich nicht mehr so recht auseinanderhalten kann. Es kam ja immer auch zu gedanklichen Verknüpfungen, Redundanzen und Selbstzitaten, da kann man schon durcheinanderkommen. Viele haben das sogenannte ‚Diskurstheater‘ als intellektualistischer und akademischer Referenzzirkus abgetan. Diesen Vorwurf kann man Kill Your Darlings! aber wirklich nicht machen. Mal abgesehen davon, dass ich einige der dort behandelten Texte nachgelesen habe und sehr nützlich fand, hat dieses Stück doch noch eine ganz eigene Art von Solidarität zwischen Publikum und Bühnenkünstlern erzeugt.
Dieses Motto, „es reicht noch nicht, da fehlt noch was“, bezieht sich ja zuerst einmal auf die Frage, ob man überhaupt ins Theater gehen möchte oder ob nicht andere Weisen der Abendgestaltung, nun ja, angenehm genug wären. Pizza essen, Robocop schauen oder ans DT gehen – nicht wahr, Lenna? Auf diese Weise war diese etwas gymnasiale Hermeneutik, die Du, Lenna, neulich so gescholten hast, die pompös inszenierte Stadttheater-E-Kunst dann etwas bemüht als Kommentar auf die Lage der Republik hin zu lesen, von vornherein zum Implodieren gebracht. Denn die Verbindung von Kunst und Leben hat bei Kill Your Darlings bereits vorher stattgefunden, nämlich in dem gemeinsamen Bedürfnis, dass eigentlich noch etwas kommen müsste und in dem Eindruck, dass es sich bei der Normalität deutscher Wohnzimmer, selbst in bequemeren Ausführungen, um einen „Gesamtalptraum“ in vier Wänden handelt. Dass man sich mittlerweile nicht mal mehr diese leisten kann, macht die Sache noch schlimmer.
Ich habe diesen Theaterabend in guter in Erinnerung, allein schon, weil ich mehrmals dort war, so gut hat mir das gefallen! Ich hatte schon vorher ein paar Stücke von Pollesch gesehen, die ich nicht mehr so recht auseinanderhalten kann. Es kam ja immer auch zu gedanklichen Verknüpfungen, Redundanzen und Selbstzitaten, da kann man schon durcheinanderkommen. Viele haben das sogenannte ‚Diskurstheater‘ als intellektualistischer und akademischer Referenzzirkus abgetan. Diesen Vorwurf kann man Kill Your Darlings! aber wirklich nicht machen. Mal abgesehen davon, dass ich einige der dort behandelten Texte nachgelesen habe und sehr nützlich fand, hat dieses Stück doch noch eine ganz eigene Art von Solidarität zwischen Publikum und Bühnenkünstlern erzeugt.
Dieses Motto, „es reicht noch nicht, da fehlt noch was“, bezieht sich ja zuerst einmal auf die Frage, ob man überhaupt ins Theater gehen möchte oder ob nicht andere Weisen der Abendgestaltung, nun ja, angenehm genug wären. Pizza essen, Robocop schauen oder ans DT gehen – nicht wahr, Lenna? Auf diese Weise war diese etwas gymnasiale Hermeneutik, die Du, Lenna, neulich so gescholten hast, die pompös inszenierte Stadttheater-E-Kunst dann etwas bemüht als Kommentar auf die Lage der Republik hin zu lesen, von vornherein zum Implodieren gebracht. Denn die Verbindung von Kunst und Leben hat bei Kill Your Darlings bereits vorher stattgefunden, nämlich in dem gemeinsamen Bedürfnis, dass eigentlich noch etwas kommen müsste und in dem Eindruck, dass es sich bei der Normalität deutscher Wohnzimmer, selbst in bequemeren Ausführungen, um einen „Gesamtalptraum“ in vier Wänden handelt. Dass man sich mittlerweile nicht mal mehr diese leisten kann, macht die Sache noch schlimmer.
Was (das Berliner) Theater angeht, kann ich leider so gut wie gar nicht mitreden. Aber sag mal, Lenna, wie hieß denn das mit diesem Mann in Leggings, der aussah wie ein zu groß gewachsener Junge? Das fand ich irre witzig! Der hat gar nicht aus der Kehle gesprochen, sondern die Wörter und Sätze immer so lustig übertrieben langgezogen und immer gesagt: „Das reicht noch nicht! Da fehlt noch was“ und am Ende war da diese Turngruppe. Könnt ihr euch darauf vielleicht einigen?
Gehst du heute eigentlich zu der Lesung von Frederika Amalia Finkelstein an der FU, Lenna? Alexander hat mir bei einem unserer letzten Treffen ihren zweiten Roman geschenkt (Survivre). Im Nachhinein war das ein ziemlich gemeines Geschenk von ihm: es geht darin nämlich um eine junge Pariserin, die nach den Anschlägen vom 13. November 2015 versucht, mit der sie (z.B. in den Nachrichten und in Social Media) umgebenden Gewalt umzugehen, aber auch mit diesem ständigen Gefühl der Bedrohung, das sich in der Stadt ausbreitet. Damit ist schon wirklich etwas von der Stimmung in Paris eingefangen. An die patrouillierenden Soldaten mit ihren Maschinengewehren zumindest werde ich mich mit Sicherheit nie gewöhnen und dass die Métro ständig nicht fährt, weil jemand seinen Rucksack hat liegen lassen (jede Tasche, die nicht fest in der Hand gehalten wird, verwandelt sich hier schlagartig in ein „collis suspect“), ist auch schon beinahe bizarr. Wie einschneidend die Anschläge im und um das Bataclan für Frankreich und vor allem für diese Stadt waren, war mir aus deutscher Perspektive nie klar.
Was ich an dem Buch nun so stark finde ist, dass Emotionen wie Angst, Hass, Paranoia, die nach Anschlägen dieser Art ja immer als sehr hohle, nennen wir es mal „öffentliche Gefühle“ als Währung nationaler Empörung in den (sozialen) Medien zirkulieren, von der Erzählerin brutal wiederangeeignet werden. Im Wissen um die Zweifelhaftigkeit der Sache findet beinahe eine Überidentifikation mit diesen Gefühlen statt. Gleichzeitig wird das darin angelegte, proto-nationalistische und auch islamophobe Motiv im Roman dadurch gebrochen, dass die Erzählerin sich mit den Terroristen identifiziert (über das gemeinsame Alter, aber z.B. auch über die gemeinsame Sozialisation mit Gewalt in Computerspielen usw.). Das bringt eine moralische Komplexität, die ich wirklich bewundere: es gibt dort zwar eine starke Moralität, aber keinen Moralismus, stattdessen eher Zweifel. (Ich habe mir auch einige Interviews mit Finkelstein angeguckt, sie hat wirklich eine unglaubliche Intensität in ihrer Art, allein dieser Blick ist so stark, unfassbar.) Vielleicht warst du ja da und kannst mir sagen, wie es war?
Gehst du heute eigentlich zu der Lesung von Frederika Amalia Finkelstein an der FU, Lenna? Alexander hat mir bei einem unserer letzten Treffen ihren zweiten Roman geschenkt (Survivre). Im Nachhinein war das ein ziemlich gemeines Geschenk von ihm: es geht darin nämlich um eine junge Pariserin, die nach den Anschlägen vom 13. November 2015 versucht, mit der sie (z.B. in den Nachrichten und in Social Media) umgebenden Gewalt umzugehen, aber auch mit diesem ständigen Gefühl der Bedrohung, das sich in der Stadt ausbreitet. Damit ist schon wirklich etwas von der Stimmung in Paris eingefangen. An die patrouillierenden Soldaten mit ihren Maschinengewehren zumindest werde ich mich mit Sicherheit nie gewöhnen und dass die Métro ständig nicht fährt, weil jemand seinen Rucksack hat liegen lassen (jede Tasche, die nicht fest in der Hand gehalten wird, verwandelt sich hier schlagartig in ein „collis suspect“), ist auch schon beinahe bizarr. Wie einschneidend die Anschläge im und um das Bataclan für Frankreich und vor allem für diese Stadt waren, war mir aus deutscher Perspektive nie klar.
Was ich an dem Buch nun so stark finde ist, dass Emotionen wie Angst, Hass, Paranoia, die nach Anschlägen dieser Art ja immer als sehr hohle, nennen wir es mal „öffentliche Gefühle“ als Währung nationaler Empörung in den (sozialen) Medien zirkulieren, von der Erzählerin brutal wiederangeeignet werden. Im Wissen um die Zweifelhaftigkeit der Sache findet beinahe eine Überidentifikation mit diesen Gefühlen statt. Gleichzeitig wird das darin angelegte, proto-nationalistische und auch islamophobe Motiv im Roman dadurch gebrochen, dass die Erzählerin sich mit den Terroristen identifiziert (über das gemeinsame Alter, aber z.B. auch über die gemeinsame Sozialisation mit Gewalt in Computerspielen usw.). Das bringt eine moralische Komplexität, die ich wirklich bewundere: es gibt dort zwar eine starke Moralität, aber keinen Moralismus, stattdessen eher Zweifel. (Ich habe mir auch einige Interviews mit Finkelstein angeguckt, sie hat wirklich eine unglaubliche Intensität in ihrer Art, allein dieser Blick ist so stark, unfassbar.) Vielleicht warst du ja da und kannst mir sagen, wie es war?
Jetzt habe ich doch noch die Stelle gefunden, die ich meinte: „Kunst: kunst mir mal vier Mark leihen, oder 100000 Euro? Nein, Kunst ist kein Titel, der blanko Rechte zuspricht, sondern im Gegenteil zuerst ein Anspruch an das Werk, das Kunst sein will. Das wird es eher durch radikale Komplexität als durch die Radikalisierung der Genieallüre: so und nicht anders musste das geschrieben werden.“ (Goetz: klage, S. 286.) Es geht dort um den Fall Esra, also den Prozess um den Roman Maxim Billers, in dem sich seine Ex-Freundin und deren Mutter wiederzuerkennen geglaubt hatten. Biller und der Verlag hatten sich dagegen entschieden, bestimmte Passagen umzuschreiben und sich dabei wohl auf die Freiheit der Kunst berufen, sind damit aber gescheitert. (Hat von euch mal jemand den Roman gelesen? Nachrichten aus der Hetero-Hölle. ‚Schön geschrieben‘, aber maximal uninteressante Privatbeziehungsscheiße.)
Mein lieber Felix, ich muss vielleicht erst einmal ein Missverständnis aufklären: The Factory ist nicht von deutschen Diskursabgreifern gemacht worden. Al Attar und auch alle anderen beteiligten haben zusammen in Damaskus Regie oder Schauspiel studiert, seit seiner Flucht beschäftigt er sich auf den verschiedenen Stationen seines Exils – seit einiger Zeit nun Deutschland – mit dem Bürgerkrieg in Syrien. Dagegen ist meiner Ansicht nach nichts zu sagen, inhaltlich finde ich das alles sehr interessant und empfinde es als wichtig, diese Themen auf die Bühnen, in Filme, in Bücher zu bringen. Enttäuscht hat mich lediglich, dass dabei künstlerisch etwas herausgekommen ist, das mir nicht an genau dieses Haus zu passen scheint, sondern eher an konventionellere Orte des bürgerlichen Theaters wie das DT oder die Schaubühne.
Ich muss ja zugeben, dass ich vor einigen Jahren, kurz nachdem ich nach Berlin gezogen war, auch einige Male in die Schaubühne gegangen bin und es dort anfangs ästhetisch auch recht ansprechend fand. Nachdem ich u.a. Gier von Sarah Kane und Hedda Gabler von Henrik Ibsen gesehen hatte, kam mir diese gewollt unterkühlte Beton-und-Glas-Ästhetik allerdings beinahe albern vor. Die einzige Funktion, die die Schaubühne bei mir eine Zeit lang noch ausgefüllt hat, lag darin, mit Leuten, die zu Besuch sind und die absolut keine Ahnung von Theater haben, die aber gerne irgendetwas ‚kulturelles‘ machen wollen, in Hamlet zu gehen: für die ganz und gar Ahnungslosen ist dieses Effekttheater noch genau das richtige. (Und weil man das, was man selbst irgendwann einmal gut fand und für das man sich im Nachhinein ein bisschen schämt, um so vehementer ablehnen muss, fand ich es dort irgendwann nicht nur scheiße, sondern falsch und bin nie wieder hingegangen.) Das DT ist im Grunde genommen genau das gleiche, bloß ohne Glitzer. Deshalb sitzt dort auch ausschließlich ‚Kulturpublikum‘: ambitionierte Lehrer/Innen mit Schülergruppen und ansonsten ausschließlich Grauschöpfe mit Theaterabo, die ungeniert vor sich hin furzen. Passend dazu (ich erinnere mich jetzt vor allem an eine Inszenierung des Faust, die ich dort vor einigen Jahren gesehen habe), steht da dann ein Ulrich Matthes auf der Bühne, der mit seinem überprononzierten Theatertheatersprechen (ganz hinten aus der Kehle) zu allem gesagten allein auf Klangebene ständig mitsendet: „Achtung: hier spricht die Hochkultur! Was hier passiert ist sehr bedeutsam!“ (Nur für dieses Gefühl kommt das Publikum.) Es gibt dabei keinerlei Selbstdistanzierung, das ist alles ganz ernst gemeint und ‚empfunden‘ – und genau darin liegt für mich der Unterschied zum Theatertheatersprechen der Volksbühne, das ja eher an Brecht anschließt.
Was die Frage der ‚Freiheit der Kunst‘ betrifft, suche ich nun schon seit einer halben Stunde nach einer Stelle bei Rainald Goetz und finde sie nicht. Sinngemäß sagt Goetz (wenn ich mich richtig erinnere), dass die ‚Freiheit der Kunst‘ kein Freibrief dafür sei, unter dem Decknamen ‚Kunst‘ irgendeinen beliebigen Mist zu machen, sondern dass vom Wort ‚Kunst‘ zunächst einmal ein qualitativer Anspruch gestellt sei. Erst wenn dieser erfüllt wird oder vielleicht auch gerade dadurch, dass er sich erfüllt, wird so etwas wie die ‚Freiheit der Kunst‘ erreicht. Weiß zufällig jemand, wo das steht? Ich dachte in klage, finde es dort aber nicht wieder. Dafür diese Stelle: „Das Politische gehört zur Ästhetik, nicht nur im Kunstwerk. Ästhetische Theorie, Unbeobachtbare Welt, der theoretische Skeptizismus von Adorno und Luhmann ist in seiner nervösen Feingliedrigkeit auch zur Erfassung politischer Ideologie und Realität besser ausgerüstet als der so materialreiche, aber theoretisch viel gröber gemachte Anklage- und Einmischungssoziologe Bourdieu.“ (Goetz, Rainald: klage, Frankfurt am Main 2008, S. 56.) Wenn ich diese beiden Gedanken nebeneinanderhalte, ergibt sich für mich schon eine Richtung, in die ich deine Frage weiterverfolgen würde.
Festhalten möchte ich zunächst noch, dass es sich meiner Ansicht nach um ein Missverständnis handelt, mit der Reklamation, ‚politische‘ Kunst zu machen, gehe automatisch der Irrglaube einer politischen Zuständigkeit in Konkurrenz zur Politik einher. Ich kann mir kaum vorstellen, dass heute noch irgendjemand solche Positionen vertritt. Im Französischen gibt es ja die hilfreiche Unterscheidung zwischen le und la politique. Kunst kann zwar durchaus auch im Bereich der Politik zum Politikum werden, hat es aber wohl vorrangig mit dem Politischen zu tun. (Die Frage wäre dann, ob sie es sich darin nicht auch sehr schnell sehr gemütlich machen kann.)
Sidonie, halte durch! Ich bin mir sicher, dass du (wie immer) einen Weg finden wirst, das beste aus der Situation zu machen und deine eigenen Interessen zu verfolgen.
Ich muss ja zugeben, dass ich vor einigen Jahren, kurz nachdem ich nach Berlin gezogen war, auch einige Male in die Schaubühne gegangen bin und es dort anfangs ästhetisch auch recht ansprechend fand. Nachdem ich u.a. Gier von Sarah Kane und Hedda Gabler von Henrik Ibsen gesehen hatte, kam mir diese gewollt unterkühlte Beton-und-Glas-Ästhetik allerdings beinahe albern vor. Die einzige Funktion, die die Schaubühne bei mir eine Zeit lang noch ausgefüllt hat, lag darin, mit Leuten, die zu Besuch sind und die absolut keine Ahnung von Theater haben, die aber gerne irgendetwas ‚kulturelles‘ machen wollen, in Hamlet zu gehen: für die ganz und gar Ahnungslosen ist dieses Effekttheater noch genau das richtige. (Und weil man das, was man selbst irgendwann einmal gut fand und für das man sich im Nachhinein ein bisschen schämt, um so vehementer ablehnen muss, fand ich es dort irgendwann nicht nur scheiße, sondern falsch und bin nie wieder hingegangen.) Das DT ist im Grunde genommen genau das gleiche, bloß ohne Glitzer. Deshalb sitzt dort auch ausschließlich ‚Kulturpublikum‘: ambitionierte Lehrer/Innen mit Schülergruppen und ansonsten ausschließlich Grauschöpfe mit Theaterabo, die ungeniert vor sich hin furzen. Passend dazu (ich erinnere mich jetzt vor allem an eine Inszenierung des Faust, die ich dort vor einigen Jahren gesehen habe), steht da dann ein Ulrich Matthes auf der Bühne, der mit seinem überprononzierten Theatertheatersprechen (ganz hinten aus der Kehle) zu allem gesagten allein auf Klangebene ständig mitsendet: „Achtung: hier spricht die Hochkultur! Was hier passiert ist sehr bedeutsam!“ (Nur für dieses Gefühl kommt das Publikum.) Es gibt dabei keinerlei Selbstdistanzierung, das ist alles ganz ernst gemeint und ‚empfunden‘ – und genau darin liegt für mich der Unterschied zum Theatertheatersprechen der Volksbühne, das ja eher an Brecht anschließt.
Was die Frage der ‚Freiheit der Kunst‘ betrifft, suche ich nun schon seit einer halben Stunde nach einer Stelle bei Rainald Goetz und finde sie nicht. Sinngemäß sagt Goetz (wenn ich mich richtig erinnere), dass die ‚Freiheit der Kunst‘ kein Freibrief dafür sei, unter dem Decknamen ‚Kunst‘ irgendeinen beliebigen Mist zu machen, sondern dass vom Wort ‚Kunst‘ zunächst einmal ein qualitativer Anspruch gestellt sei. Erst wenn dieser erfüllt wird oder vielleicht auch gerade dadurch, dass er sich erfüllt, wird so etwas wie die ‚Freiheit der Kunst‘ erreicht. Weiß zufällig jemand, wo das steht? Ich dachte in klage, finde es dort aber nicht wieder. Dafür diese Stelle: „Das Politische gehört zur Ästhetik, nicht nur im Kunstwerk. Ästhetische Theorie, Unbeobachtbare Welt, der theoretische Skeptizismus von Adorno und Luhmann ist in seiner nervösen Feingliedrigkeit auch zur Erfassung politischer Ideologie und Realität besser ausgerüstet als der so materialreiche, aber theoretisch viel gröber gemachte Anklage- und Einmischungssoziologe Bourdieu.“ (Goetz, Rainald: klage, Frankfurt am Main 2008, S. 56.) Wenn ich diese beiden Gedanken nebeneinanderhalte, ergibt sich für mich schon eine Richtung, in die ich deine Frage weiterverfolgen würde.
Festhalten möchte ich zunächst noch, dass es sich meiner Ansicht nach um ein Missverständnis handelt, mit der Reklamation, ‚politische‘ Kunst zu machen, gehe automatisch der Irrglaube einer politischen Zuständigkeit in Konkurrenz zur Politik einher. Ich kann mir kaum vorstellen, dass heute noch irgendjemand solche Positionen vertritt. Im Französischen gibt es ja die hilfreiche Unterscheidung zwischen le und la politique. Kunst kann zwar durchaus auch im Bereich der Politik zum Politikum werden, hat es aber wohl vorrangig mit dem Politischen zu tun. (Die Frage wäre dann, ob sie es sich darin nicht auch sehr schnell sehr gemütlich machen kann.)
Sidonie, halte durch! Ich bin mir sicher, dass du (wie immer) einen Weg finden wirst, das beste aus der Situation zu machen und deine eigenen Interessen zu verfolgen.
Lenna, wie schön, dass Du wohlbehalten zurück auf der Plattform bist. (Beinahe hätte ich „Platte“ geschrieben. Manchmal drängt sich Jena-„Paradies“ assoziativ in den Vordergrund meiner Schreibszene.) Danke ebenfalls für die gütige Wertschätzung, die Du mir an Alexanders Stelle übermittelst. Das hat mich wirklich gerührt. Es bedrückt mich in den letzten Tagen erst allmählich, aber immer mehr, dass zwischen Alexander und mir eigentlich eine unausgesprochene Verabredung auf zukünftige Freundschaft bestanden hat, die jetzt nicht eingehalten werden kann. Das macht mich wirklich traurig und darüber tröstet mich auch die ‚Verbrüderung‘, nicht hinweg, auf die Du anspielst. In der Tat haben Alexander und ich an besagtem Tag, an dem es schon um vier Uhr nachmittags stockfinstre Nacht wurde, noch einige Prüfungen des Jenaer Nachtlebens absolviert. Das Ganze endete denn auch mit einem ziemlich verlotterten Diplom. Ich will die Geschichte gern bald einmal erzählen.
Heute würde ich aber lieber auf Deine Theatersynopsis reagieren, Lenna, für die ich dir sehr dankbar bin. Denn seit ich nicht mehr in Berlin wohne, bekomme ich vom Theater nicht mehr viel mit. Früher bin ich sehr oft gegangen. Mit den Studententickets für zehn, fünfzehn Euro Ulrich Matthes und Nina Hoss am DT zu sehen oder Lars Eidinger an der Schaubühne, das fand ich immer toll. Die hauptstädtische Theaterszene, wie ich sie erkundet habe, war immer auch eine Nabelschau der Berliner Republik. Dieses Selbstbewusstsein der eigenen Grandiosität – gerechtfertigt oder nicht – war aufregend! Umso mehr bin ich ernüchtert von dem, was Du geschildert hast. Das Dokumentarische, das Transparente, das Wirkliche scheinen hier die Kategorien zu sein. Deine Frage, Lenna, finde ich sehr treffend, weshalb genau man für derartige Aufbereitungen von Informationen und Biographien ins Theater gehen soll, wenn jeder theatrale und künstlerische Anspruch – im Unterschied zu She She Pop, z. B.! – sekundär zu sein scheint. In meiner Vorstellung gleicht das, was mal ein chaotischer, triebhafter und größenwahnsinniger ‚kreativer Prozess‘ war, mehr und mehr einer Redaktionskonferenz: Was ist gerade wichtig und welchen Standpunkt nehmen wir dazu ein? Im Ergebnis bestenfalls lehrreich, aber eben keine ästhetische Erfahrung.
Ich verstehe dieses eifrige Bemühen um einen möglichst direkten und unverstellten Wirklichkeitsbezug in erster Linie als Ausdruck einer großen Relevanzkrise der Kunst, oder wenigstens des Theaters. Nein, genauer müsste ich sagen, dass der Kunst als Spiel, also im Sinne einer Affirmation des Zwecklosen, eine Relevanzkrise ja sowieso inhäriert: Im Unterschied zu zweckgeleiteten Diskursen und Praktiken, wie z. B. Wissenschaft, Erziehung und Informationsmedien, muss die Kunst ja gerade ohne einen klar definierten Auftrag und ohne die Selbstgewissheit ihrer Nützlichkeit handeln. Darin sah man ja mal ein Privileg der Kunst. (Hier in Jena ist die Erinnerung an dieses Privileg gedanklich ziemlich präsent, wie Ihr Euch denken könnt.) Was sich derzeit ausdrückt, ist vielleicht eher ein fehlendes Bewusstsein für die spezifische Freiheit der Kunst und eine tiefe Ratlosigkeit gegenüber dieser Freiheit und der – wie gesagt inhärenten (und ggf. schönen) – Relevanzkrise der Kunst.
Ich will damit ganz bestimmt nicht sagen, dass Kunst sich in die glanzvolle Einsamkeit ihrer Selbstreflexion zurückziehen soll – im Gegenteil. Denn die Gretchenfrage lautet ja gerade, wie ein System größtmögliche Selbstbezüglichkeit, Eigenständigkeit und Unverwechselbarkeit erringen kann und dann auf ebendiese unverwechselbare Weise auf das reagiert, was außerhalb des Systems steht? Gehe ich mit meinem Verdacht zu weit, dass einige (vielleicht mittelmäßige) Künstlerinnen und Künstler das Fehlen einer echten künstlerischen Vision durch die bloße Behauptung kaschieren wollen, für die derzeitige Migrationskrise und deren Hintergründe zuständig zu sein? Und zwar fatalerweise in direkter Konkurrenz zur (Berufs-)Politik und zu anderen medialen Dispositiven, die Du ja genannt hast, Lenna.
Das Gegenteil dazu hat für mich immer Christoph Schlingensief verkörpert: Die eigentliche Provokation bestand ja nicht in seinen (radikalen, aber auch simplizistischen) politischen Ansichten, sondern darin, dass seine Übergriffe aufs Politische immer in erster Linie Kunst waren. Viele haben es auch einfach „Quatsch“ genannt, aber das war bloß ein volkstümliches Synonym für das, wovon ich gerade zu sprechen versuche. War es nicht Schlingensiefs typische Geste, das Zu-Viel, Zu-Groß, Zu-Laut, Zu-Ungenau der Kunst mit voller Wucht auf die Wirklichkeit aufprallen zu lassen – und nicht umgekehrt, Maß zu nehmen am gequälten Elend des wirklichen Lebens?
Heute würde ich aber lieber auf Deine Theatersynopsis reagieren, Lenna, für die ich dir sehr dankbar bin. Denn seit ich nicht mehr in Berlin wohne, bekomme ich vom Theater nicht mehr viel mit. Früher bin ich sehr oft gegangen. Mit den Studententickets für zehn, fünfzehn Euro Ulrich Matthes und Nina Hoss am DT zu sehen oder Lars Eidinger an der Schaubühne, das fand ich immer toll. Die hauptstädtische Theaterszene, wie ich sie erkundet habe, war immer auch eine Nabelschau der Berliner Republik. Dieses Selbstbewusstsein der eigenen Grandiosität – gerechtfertigt oder nicht – war aufregend! Umso mehr bin ich ernüchtert von dem, was Du geschildert hast. Das Dokumentarische, das Transparente, das Wirkliche scheinen hier die Kategorien zu sein. Deine Frage, Lenna, finde ich sehr treffend, weshalb genau man für derartige Aufbereitungen von Informationen und Biographien ins Theater gehen soll, wenn jeder theatrale und künstlerische Anspruch – im Unterschied zu She She Pop, z. B.! – sekundär zu sein scheint. In meiner Vorstellung gleicht das, was mal ein chaotischer, triebhafter und größenwahnsinniger ‚kreativer Prozess‘ war, mehr und mehr einer Redaktionskonferenz: Was ist gerade wichtig und welchen Standpunkt nehmen wir dazu ein? Im Ergebnis bestenfalls lehrreich, aber eben keine ästhetische Erfahrung.
Ich verstehe dieses eifrige Bemühen um einen möglichst direkten und unverstellten Wirklichkeitsbezug in erster Linie als Ausdruck einer großen Relevanzkrise der Kunst, oder wenigstens des Theaters. Nein, genauer müsste ich sagen, dass der Kunst als Spiel, also im Sinne einer Affirmation des Zwecklosen, eine Relevanzkrise ja sowieso inhäriert: Im Unterschied zu zweckgeleiteten Diskursen und Praktiken, wie z. B. Wissenschaft, Erziehung und Informationsmedien, muss die Kunst ja gerade ohne einen klar definierten Auftrag und ohne die Selbstgewissheit ihrer Nützlichkeit handeln. Darin sah man ja mal ein Privileg der Kunst. (Hier in Jena ist die Erinnerung an dieses Privileg gedanklich ziemlich präsent, wie Ihr Euch denken könnt.) Was sich derzeit ausdrückt, ist vielleicht eher ein fehlendes Bewusstsein für die spezifische Freiheit der Kunst und eine tiefe Ratlosigkeit gegenüber dieser Freiheit und der – wie gesagt inhärenten (und ggf. schönen) – Relevanzkrise der Kunst.
Ich will damit ganz bestimmt nicht sagen, dass Kunst sich in die glanzvolle Einsamkeit ihrer Selbstreflexion zurückziehen soll – im Gegenteil. Denn die Gretchenfrage lautet ja gerade, wie ein System größtmögliche Selbstbezüglichkeit, Eigenständigkeit und Unverwechselbarkeit erringen kann und dann auf ebendiese unverwechselbare Weise auf das reagiert, was außerhalb des Systems steht? Gehe ich mit meinem Verdacht zu weit, dass einige (vielleicht mittelmäßige) Künstlerinnen und Künstler das Fehlen einer echten künstlerischen Vision durch die bloße Behauptung kaschieren wollen, für die derzeitige Migrationskrise und deren Hintergründe zuständig zu sein? Und zwar fatalerweise in direkter Konkurrenz zur (Berufs-)Politik und zu anderen medialen Dispositiven, die Du ja genannt hast, Lenna.
Das Gegenteil dazu hat für mich immer Christoph Schlingensief verkörpert: Die eigentliche Provokation bestand ja nicht in seinen (radikalen, aber auch simplizistischen) politischen Ansichten, sondern darin, dass seine Übergriffe aufs Politische immer in erster Linie Kunst waren. Viele haben es auch einfach „Quatsch“ genannt, aber das war bloß ein volkstümliches Synonym für das, wovon ich gerade zu sprechen versuche. War es nicht Schlingensiefs typische Geste, das Zu-Viel, Zu-Groß, Zu-Laut, Zu-Ungenau der Kunst mit voller Wucht auf die Wirklichkeit aufprallen zu lassen – und nicht umgekehrt, Maß zu nehmen am gequälten Elend des wirklichen Lebens?
Danke, Lenna, dass du das für uns übernommen hast. (Ich glaube, ich habe sogar vor ein paar Wochen in Le Monde etwas über diesen Fall gelesen, wirklich spannend!)
Ich habe mich hier so langsam eingelebt, würde ich sagen. Am Anfang hatte ich noch das Gefühl, beinahe zu viel freie Zeit zu haben, seit das Semester wieder in Gang ist, bin ich jedoch von einem Moment zum nächsten in einen richtigen Alltag geraten. Das viele Lesen auf Französisch fällt mir noch etwas schwer, dauert lang und kostet viel Konzentration, sodass ich abends oft schon viel zu müde bin, um noch irgendetwas zu unternehmen. (Von der ERASMUS-Crowd halte ich mich ganz bewusst fern, das ist mir einfach zu infantil.) Letztes Wochenende war ich im Centre Pompidou, um mir die Kubismus-Ausstellung anzugucken. Gerade als ich dort ankam, traten zwei erwachsene, asiatische Touristen aus der Schlange und fingen an, sich zu prügeln. Es ist dann zum Glück schnell jemand dazwischen gegangen. (Die Ausstellung war okay, Kubismus halt.)
Immerhin habe ich zwei richtig tolle Seminare. Eins davon über Albert Camus und Bertolt Brecht und die Frage der engagierten Literatur. Das klingt jetzt vielleicht nach zwei etwas abgestandenen Beispielen eines gerade wieder aktuellen Themas, aber der Vergleich zwischen den Situationen in Frankreich und Deutschland ist noch einmal wirklich interessant. (Außerdem macht die Dozentin das richtig gut!) Und dann noch eins über die mediale Repräsentation von Krieg (da lesen wir u.a. Jean Baudrillard, Paul Virilio, Susan Sontag und Judith Butler, auch richtig gut!) Na ja, und dann habe ich noch ein Seminar zum politischen Denken von Michel Foucault und Gilles Deleuze, bin mir aber noch unsicher, ob ich das weiter belegen werde. Das ist reiner Frontalunterricht, drei Stunden lang. In der letzten Sitzung hat mein Tischnachbar zwölf Seiten Notizen gemacht, einfach alles mitgeschrieben, was die beiden Dozenten so alles gesagt haben, aber nicht eine einzige Frage gestellt. Das ist nicht die Form von Austausch, die ich mir für die Universität vorstelle und wünsche. Besonders schrecklich ist auch, dass diese beiden Dozenten sich permanent darin zu überbieten versuchen, eine noch ‚radikalere‘ Lesart von Foucault und Deleuze anzubieten und sich richtig dabei gefallen, hier eine Gruppe von Studierenden vor sich sitzen zu haben, die das alles ganz brav mitmacht. Entgegen ihrer rhetorischen Selbstüberbietung im ‚politisch‘ und ‚links‘ sein, wirkt ihr tatsächliches Sprechverhalten richtiggehend autoritär. Dann lassen sie sich auch noch mit ‚tu‘ ansprechen und schnorren sich in der Pause Blättchen und Drehtabak von den Studierenden. Ich glaube, ich habe gerade endgültig entschieden, das Seminar zu verlassen.
Sag unbedingt Bescheid, sobald du weißt, wann du Zeit hättest, mich zu besuchen. Ich habe gerade das Bedürfnis, über so viele Dinge mit dir zu reden!
Ich habe mich hier so langsam eingelebt, würde ich sagen. Am Anfang hatte ich noch das Gefühl, beinahe zu viel freie Zeit zu haben, seit das Semester wieder in Gang ist, bin ich jedoch von einem Moment zum nächsten in einen richtigen Alltag geraten. Das viele Lesen auf Französisch fällt mir noch etwas schwer, dauert lang und kostet viel Konzentration, sodass ich abends oft schon viel zu müde bin, um noch irgendetwas zu unternehmen. (Von der ERASMUS-Crowd halte ich mich ganz bewusst fern, das ist mir einfach zu infantil.) Letztes Wochenende war ich im Centre Pompidou, um mir die Kubismus-Ausstellung anzugucken. Gerade als ich dort ankam, traten zwei erwachsene, asiatische Touristen aus der Schlange und fingen an, sich zu prügeln. Es ist dann zum Glück schnell jemand dazwischen gegangen. (Die Ausstellung war okay, Kubismus halt.)
Immerhin habe ich zwei richtig tolle Seminare. Eins davon über Albert Camus und Bertolt Brecht und die Frage der engagierten Literatur. Das klingt jetzt vielleicht nach zwei etwas abgestandenen Beispielen eines gerade wieder aktuellen Themas, aber der Vergleich zwischen den Situationen in Frankreich und Deutschland ist noch einmal wirklich interessant. (Außerdem macht die Dozentin das richtig gut!) Und dann noch eins über die mediale Repräsentation von Krieg (da lesen wir u.a. Jean Baudrillard, Paul Virilio, Susan Sontag und Judith Butler, auch richtig gut!) Na ja, und dann habe ich noch ein Seminar zum politischen Denken von Michel Foucault und Gilles Deleuze, bin mir aber noch unsicher, ob ich das weiter belegen werde. Das ist reiner Frontalunterricht, drei Stunden lang. In der letzten Sitzung hat mein Tischnachbar zwölf Seiten Notizen gemacht, einfach alles mitgeschrieben, was die beiden Dozenten so alles gesagt haben, aber nicht eine einzige Frage gestellt. Das ist nicht die Form von Austausch, die ich mir für die Universität vorstelle und wünsche. Besonders schrecklich ist auch, dass diese beiden Dozenten sich permanent darin zu überbieten versuchen, eine noch ‚radikalere‘ Lesart von Foucault und Deleuze anzubieten und sich richtig dabei gefallen, hier eine Gruppe von Studierenden vor sich sitzen zu haben, die das alles ganz brav mitmacht. Entgegen ihrer rhetorischen Selbstüberbietung im ‚politisch‘ und ‚links‘ sein, wirkt ihr tatsächliches Sprechverhalten richtiggehend autoritär. Dann lassen sie sich auch noch mit ‚tu‘ ansprechen und schnorren sich in der Pause Blättchen und Drehtabak von den Studierenden. Ich glaube, ich habe gerade endgültig entschieden, das Seminar zu verlassen.
Sag unbedingt Bescheid, sobald du weißt, wann du Zeit hättest, mich zu besuchen. Ich habe gerade das Bedürfnis, über so viele Dinge mit dir zu reden!
OK, entschuldigt bitte, dass ich mich erst jetzt melde, ich bin Freitagnachmittag wieder in Berlin gelandet und war abends direkt fürs Theater verabredet. Wie ich sehe, habt ihr schon wieder angefangen, danke Sidonie, dass du das für mich übernommen hast. Ich bin gerade noch dabei, mich arbeitstechnisch und emotional im Alltag zu sortieren, möchte als diejenige Person unter uns, die Alexander wohl am besten kannte, jedoch schon einmal sagen, dass ich es durchaus in Ordnung finde, hier nun weiterzumachen. Wir müssen dabei ja nicht so tun, als sei nichts passiert. (Was deine Unsicherheit auf eure Freundschaft angeht, Felix, möchte ich allerdings anmerken, dass Alexander sehr viel von dir gehalten und dich in mancher Hinsicht sogar bewundert hat. Aus seiner Erzählung weiß ich übrigens auch, dass dieses Treffen in Jena an einem wesentlich schmuckloseren Ort als dem Institutsflur und mit deutlich mehr – ich nenne es mal – ‚Verbrüderung‘ geendet ist.)
Nun gut, um euch die Peinlichkeit zu ersparen, als erstes über etwas anderes als Alexander zu schreiben, werde ich euch kurz von meinem Theaterbesuch am Freitag erzählen. Ich war in der Volksbühne und habe mir dort The Factory von Mohammad Al Attar und Omar Abusaada angeschaut. Dokumentarisches Theater, in dem es um eine Zementfabrik in Syrien ging, die von der französischen Firma Lafarge noch während des Bürgerkrieges lange Zeit weiter betrieben wurde. Dafür hat Lafarge Millionen an Bestechungsgeldern gezahlt, u.a. an den IS, weshalb die Firma in Frankreich mittlerweile u.a. wegen Finanzierung einer terroristischen Vereinigung und Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt wurde. Ein wirklich sehr aktuelles und genauso interessantes Thema – ich habe mich über weite Strecken bloß gefragt, warum ich mir das nun ausgerechnet im Theater angucken soll und ob ein investigativer Artikel, ein Buch oder ein Film da nicht mehr geleistet hätten. Die meiste Zeit haben die drei Schauspieler und die Schauspielerin nämlich bloß die Geschichte dieser Fabrik aus ihren Perspektiven nacherzählt. Inhaltlich nicht uninteressant, aber als Kunst hat es mich nicht überzeugt.
So oder so ähnlich ging es mir übrigens auch schon bei den anderen beiden Produktionen, die ich von Al Attar gehen habe. Die erste hat vor ein paar Monaten im HKW stattgefunden: dort wurde man in Kleingruppen von acht Personen zunächst an eine Karte von Aleppo geführt, auf der mehrere Orte markiert waren. Jede/r hat sich für einen Ort entschieden, über den er oder sie mehr erfahren möchte, und wurde dann im Saal an eine jeweilige Station geführt. Dort saß in meinem Fall eine junge Schauspielerin mit einem Tonaufnahmegerät, von dem sie kurz die Stimme einer arabisch sprechenden Frau abgespielt hat. Daraufhin hat die Schauspielerin auf Englisch die Geschichte dieser Frau aus der Ich-Perspektive nacherzählt. Als sie fertig war, durfte ich mich entscheiden, ob ich nun über das Aufnahmegerät eine Nachricht an die Frau in Aleppo schicken möchte. Unfassbar cheesy, ich war aber in diesem Moment leider nicht souverän genug, das der Schauspielerin zu sagen, weil ich das Gefühl hatte, das könnte irgendwie beleidigend wirken. Also habe ich in meiner Nachricht (die Schauspielerin hat mich für die Dauer der Aufnahme alleine gelassen) bloß gesagt, dass ich nicht glaube, dass ich aus meiner Lebenssituation heraus irgendetwas zu der Erfahrung sagen kann, die diese Frau mit der Zerstörung ihres Lieblingsortes durch den Krieg gemacht hat. In der Sache richtig, dass ich das überhaupt aufgenommen habe, finde ich aber schon wieder falsch. (In diesem Punkt war die Inszenierung dann vielleicht doch nicht so schlecht, hat ja zumindest zu einem Gedanken geführt. Lustiger Weise war übrigens Chris Dercon in derselben Aufführung wie und das war sogar genau an den Tag, an dem wenig später oder vielleicht sogar währenddessen die Volksbühne besetzt wurde!)
Die zweite Produktion war schon an der Volksbühne, hat aber im Hangar des Flughafens Tempelhof stattgefunden: Iphigenie. Eine Gruppe junger Frauen – alle aus Syrien geflüchtet (auch hier wurde dokumentarisch gearbeitet) – bewirbt sich für die Rolle der Iphigenie und wird dafür eine nach der anderen von einer Casting-Agentin interviewt. Im Gespräch erfährt das Publikum etwas über die Geschichten der Frauen, ihre Probleme und ihre Hoffnungen, das hatte teilweise wirklich gute Momente. Aber dann gab es da eben auch sehr peinliche Regieentscheidungen. Zum Beispiel hat die Agentin die Frauen während des Gesprächs mit einer Kamera gefilmt, das Bild (Close-Ups der Gesichter) wurde auf eine Leinwand projiziert, die über der Bühne installiert war. In einem der Gespräche wurde schnell klar, dass die Interviewte sich um die Wahrheit windet; dann wurde die Kamera ausgeschaltet und plötzlich wurde – jenseits des technisch-medialen Dispositivs – doch noch ‚Wahrheit‘ gesprochen und die ‚eigentliche‘ Geschichte erzählt. Das finde ich als Effekt einfach unfassbar billig.
Etwas Ähnliches gab es nun auch in The Factory. Eine der vier Figuren war eine französische Journalistin, die zu dieser Geschichte recherchiert hat. Hier wurde die Kamera an- und nicht abgeschaltet, um sie – wieder mit Übertragung eines Close-Ups ihres Gesichtes – die ‚wahren‘ und ‚eigentlichen‘ Motive für ihre Recherche erzählen zu lassen. Das war nur eine von vielen Stellen, an denen ich dachte, dass die Volksbühne für diesen geradezu naiven Glauben an technische Theatereffekt vielleicht einfach der falsche Ort ist. (Ein anderes Beispiel wäre, dass die Schauspieler/Innen am Anfang mit weißen Gummimasken über dem Gesicht auf die Bühne gekommen sind, die sie dann abgenommen, ganz am Ende aber wieder aufgesetzt haben. Das ist mir zu plump.) An so verschnarchten Häusern wie dem DT oder der Schaubühne würde mir das vielleicht gar nicht auffallen, aber ausgerechnet hier, wo über die letzten Jahrzehnte ein Theater gemacht wurde, das zwar auch mit Kameras usw. gearbeitet hat, dabei aber viel avancierter war, wirkte das ein bisschen wie Schultheater. Versteht mich nicht falsch: ich will jetzt gar nicht nostalgisch klingen, darum geht es mir nicht. Castorfs Volksbühne ist Vergangenheit und spätestens seit diesem Interview, in dem er behauptet hat, Frauen könnten weder Fußball spielen, noch Theater machen, wird sicherlich niemand mehr irgendeine Sehnsucht nach ihm haben. Trotzdem – und auch trotz des wirklich interessanten Themas – wirkte dieser Abend mit Blick auf dieses Haus wie ein Rückschritt.
Soviel dazu. Sidonie, jetzt weiß ich noch gar nicht, wie es dir in Paris geht. Findest du dich gut zurecht? Wie läuft es in den Seminaren? Warst du schon in den ganzen Museen? (Ich muss mal schauen, wann ich es schaffe, dich zu besuchen, muss jetzt erst einmal zusehen, dass ich mich an das Exposee für mein Promotionsthema setze. Hoffe aber, dass es vor Weihnachten noch klappt!)
Nun gut, um euch die Peinlichkeit zu ersparen, als erstes über etwas anderes als Alexander zu schreiben, werde ich euch kurz von meinem Theaterbesuch am Freitag erzählen. Ich war in der Volksbühne und habe mir dort The Factory von Mohammad Al Attar und Omar Abusaada angeschaut. Dokumentarisches Theater, in dem es um eine Zementfabrik in Syrien ging, die von der französischen Firma Lafarge noch während des Bürgerkrieges lange Zeit weiter betrieben wurde. Dafür hat Lafarge Millionen an Bestechungsgeldern gezahlt, u.a. an den IS, weshalb die Firma in Frankreich mittlerweile u.a. wegen Finanzierung einer terroristischen Vereinigung und Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt wurde. Ein wirklich sehr aktuelles und genauso interessantes Thema – ich habe mich über weite Strecken bloß gefragt, warum ich mir das nun ausgerechnet im Theater angucken soll und ob ein investigativer Artikel, ein Buch oder ein Film da nicht mehr geleistet hätten. Die meiste Zeit haben die drei Schauspieler und die Schauspielerin nämlich bloß die Geschichte dieser Fabrik aus ihren Perspektiven nacherzählt. Inhaltlich nicht uninteressant, aber als Kunst hat es mich nicht überzeugt.
So oder so ähnlich ging es mir übrigens auch schon bei den anderen beiden Produktionen, die ich von Al Attar gehen habe. Die erste hat vor ein paar Monaten im HKW stattgefunden: dort wurde man in Kleingruppen von acht Personen zunächst an eine Karte von Aleppo geführt, auf der mehrere Orte markiert waren. Jede/r hat sich für einen Ort entschieden, über den er oder sie mehr erfahren möchte, und wurde dann im Saal an eine jeweilige Station geführt. Dort saß in meinem Fall eine junge Schauspielerin mit einem Tonaufnahmegerät, von dem sie kurz die Stimme einer arabisch sprechenden Frau abgespielt hat. Daraufhin hat die Schauspielerin auf Englisch die Geschichte dieser Frau aus der Ich-Perspektive nacherzählt. Als sie fertig war, durfte ich mich entscheiden, ob ich nun über das Aufnahmegerät eine Nachricht an die Frau in Aleppo schicken möchte. Unfassbar cheesy, ich war aber in diesem Moment leider nicht souverän genug, das der Schauspielerin zu sagen, weil ich das Gefühl hatte, das könnte irgendwie beleidigend wirken. Also habe ich in meiner Nachricht (die Schauspielerin hat mich für die Dauer der Aufnahme alleine gelassen) bloß gesagt, dass ich nicht glaube, dass ich aus meiner Lebenssituation heraus irgendetwas zu der Erfahrung sagen kann, die diese Frau mit der Zerstörung ihres Lieblingsortes durch den Krieg gemacht hat. In der Sache richtig, dass ich das überhaupt aufgenommen habe, finde ich aber schon wieder falsch. (In diesem Punkt war die Inszenierung dann vielleicht doch nicht so schlecht, hat ja zumindest zu einem Gedanken geführt. Lustiger Weise war übrigens Chris Dercon in derselben Aufführung wie und das war sogar genau an den Tag, an dem wenig später oder vielleicht sogar währenddessen die Volksbühne besetzt wurde!)
Die zweite Produktion war schon an der Volksbühne, hat aber im Hangar des Flughafens Tempelhof stattgefunden: Iphigenie. Eine Gruppe junger Frauen – alle aus Syrien geflüchtet (auch hier wurde dokumentarisch gearbeitet) – bewirbt sich für die Rolle der Iphigenie und wird dafür eine nach der anderen von einer Casting-Agentin interviewt. Im Gespräch erfährt das Publikum etwas über die Geschichten der Frauen, ihre Probleme und ihre Hoffnungen, das hatte teilweise wirklich gute Momente. Aber dann gab es da eben auch sehr peinliche Regieentscheidungen. Zum Beispiel hat die Agentin die Frauen während des Gesprächs mit einer Kamera gefilmt, das Bild (Close-Ups der Gesichter) wurde auf eine Leinwand projiziert, die über der Bühne installiert war. In einem der Gespräche wurde schnell klar, dass die Interviewte sich um die Wahrheit windet; dann wurde die Kamera ausgeschaltet und plötzlich wurde – jenseits des technisch-medialen Dispositivs – doch noch ‚Wahrheit‘ gesprochen und die ‚eigentliche‘ Geschichte erzählt. Das finde ich als Effekt einfach unfassbar billig.
Etwas Ähnliches gab es nun auch in The Factory. Eine der vier Figuren war eine französische Journalistin, die zu dieser Geschichte recherchiert hat. Hier wurde die Kamera an- und nicht abgeschaltet, um sie – wieder mit Übertragung eines Close-Ups ihres Gesichtes – die ‚wahren‘ und ‚eigentlichen‘ Motive für ihre Recherche erzählen zu lassen. Das war nur eine von vielen Stellen, an denen ich dachte, dass die Volksbühne für diesen geradezu naiven Glauben an technische Theatereffekt vielleicht einfach der falsche Ort ist. (Ein anderes Beispiel wäre, dass die Schauspieler/Innen am Anfang mit weißen Gummimasken über dem Gesicht auf die Bühne gekommen sind, die sie dann abgenommen, ganz am Ende aber wieder aufgesetzt haben. Das ist mir zu plump.) An so verschnarchten Häusern wie dem DT oder der Schaubühne würde mir das vielleicht gar nicht auffallen, aber ausgerechnet hier, wo über die letzten Jahrzehnte ein Theater gemacht wurde, das zwar auch mit Kameras usw. gearbeitet hat, dabei aber viel avancierter war, wirkte das ein bisschen wie Schultheater. Versteht mich nicht falsch: ich will jetzt gar nicht nostalgisch klingen, darum geht es mir nicht. Castorfs Volksbühne ist Vergangenheit und spätestens seit diesem Interview, in dem er behauptet hat, Frauen könnten weder Fußball spielen, noch Theater machen, wird sicherlich niemand mehr irgendeine Sehnsucht nach ihm haben. Trotzdem – und auch trotz des wirklich interessanten Themas – wirkte dieser Abend mit Blick auf dieses Haus wie ein Rückschritt.
Soviel dazu. Sidonie, jetzt weiß ich noch gar nicht, wie es dir in Paris geht. Findest du dich gut zurecht? Wie läuft es in den Seminaren? Warst du schon in den ganzen Museen? (Ich muss mal schauen, wann ich es schaffe, dich zu besuchen, muss jetzt erst einmal zusehen, dass ich mich an das Exposee für mein Promotionsthema setze. Hoffe aber, dass es vor Weihnachten noch klappt!)
Die Frage, wie das Message Board ohne Alexander weiterzuführen sei, ist keine, die Du Dir überhaupt stellen solltest, Sidonie. Schreibe darüber, womit Du Dich beschäftigst, akademisch oder nicht, und es wird von selbst weitergehen. Unsere Mitteilungen hier haben doch keinen Werkcharakter. Das gilt – galt – auch für Alexander, dem der lebendige Austausch und das Ausprobieren von Gedanken meines Erachtens wichtiger waren als deren Fixierung – auch wenn er beim Fixieren recht fix zu Werke gehen konnte.
Ich habe Alexander jedenfalls – wenn ich es überhaupt für mich in Anspruch nehmen darf – erst über das Message Board richtig kennen gelernt. Obwohl wir alle in dem einen sozial vergleichsweise kleinen und engmaschigen akademischen Umfeld unterwegs sind, ist mir in der Erinnerung an Alexander sehr eindringlich bewusst geworden, wie selten wir uns in Wirklichkeit gesehen haben. Nur in der kurzen Zeit, in der sich unsere Stipendien bei der Studienstiftung überschnitten haben, sahen wir uns öfter. Aber selbst von einer mehrtägigen Veranstaltung der Studienstiftung bin ich einmal früher abgereist: zu einem Symposium, auf dem gleich zwei der ‚wichtigsten‘ Literaturwissenschaftler der Gegenwart Key Notes halten sollten. Ich nenne keine Namen – der eine brilliert im Schematisieren, der andere im Suggerieren – zum Glück musste ich nicht moderieren. Das Ganze blieb völlig folgenlos, ich hatte aber doch bei den anderen Stipendiaten – und besonders auch bei den Damen und Herren Professoren – im Vorhinein mächtig Eindruck zu hinterlassen versucht, indem ich bei jeder Gelegenheit auf meine frühere Abreise und ihren Grund hingewiesen hatte.
Diese wenig schmeichelhafte Anekdote auf eigene Kosten erzähle ich nur als Beispiel für das Störfeuer der Ambitionen, dem meine Freundschaft mit Alexander zu Anfang ausgesetzt war. Argwohn und Interesse überlagerten sich während meiner Zeit bei der Studienstiftung auf verwirrende und hässliche Weise. Ich glaube nicht, dass nur ich das so empfinde.
Nachdem ich dann glücklich meine Nische in Jena gefunden hatte, habe ich Alexander eigentlich nur noch einmal in Person getroffen. Es handelte sich um einen recht schmucklosen Umtrunk nach der Disputation eines gemeinsamen Bekannten. Alexander und ich gingen kurz auf Tuchfühlung, hatten aber beide noch andere, zufällige Gesprächspartner in dem ansonsten menschenleeren Institutsflur stehen, die wir nicht einfach sich selbst überlassen wollten. Alexander erzählte mir, glaube ich, bei dieser Gelegenheit von der freien Hiwi-Stelle bei der No Foundation. Ich kann gar nicht sagen, ob Alexander und ich überhaupt Freunde waren. Zumindest war ich aufrichtig überrascht, dass er in Hinblick auf diese Stelle an mich gedacht hat. Wenn wir Freunde waren, dann wären wir es also hier geworden.
Ich habe Alexander jedenfalls – wenn ich es überhaupt für mich in Anspruch nehmen darf – erst über das Message Board richtig kennen gelernt. Obwohl wir alle in dem einen sozial vergleichsweise kleinen und engmaschigen akademischen Umfeld unterwegs sind, ist mir in der Erinnerung an Alexander sehr eindringlich bewusst geworden, wie selten wir uns in Wirklichkeit gesehen haben. Nur in der kurzen Zeit, in der sich unsere Stipendien bei der Studienstiftung überschnitten haben, sahen wir uns öfter. Aber selbst von einer mehrtägigen Veranstaltung der Studienstiftung bin ich einmal früher abgereist: zu einem Symposium, auf dem gleich zwei der ‚wichtigsten‘ Literaturwissenschaftler der Gegenwart Key Notes halten sollten. Ich nenne keine Namen – der eine brilliert im Schematisieren, der andere im Suggerieren – zum Glück musste ich nicht moderieren. Das Ganze blieb völlig folgenlos, ich hatte aber doch bei den anderen Stipendiaten – und besonders auch bei den Damen und Herren Professoren – im Vorhinein mächtig Eindruck zu hinterlassen versucht, indem ich bei jeder Gelegenheit auf meine frühere Abreise und ihren Grund hingewiesen hatte.
Diese wenig schmeichelhafte Anekdote auf eigene Kosten erzähle ich nur als Beispiel für das Störfeuer der Ambitionen, dem meine Freundschaft mit Alexander zu Anfang ausgesetzt war. Argwohn und Interesse überlagerten sich während meiner Zeit bei der Studienstiftung auf verwirrende und hässliche Weise. Ich glaube nicht, dass nur ich das so empfinde.
Nachdem ich dann glücklich meine Nische in Jena gefunden hatte, habe ich Alexander eigentlich nur noch einmal in Person getroffen. Es handelte sich um einen recht schmucklosen Umtrunk nach der Disputation eines gemeinsamen Bekannten. Alexander und ich gingen kurz auf Tuchfühlung, hatten aber beide noch andere, zufällige Gesprächspartner in dem ansonsten menschenleeren Institutsflur stehen, die wir nicht einfach sich selbst überlassen wollten. Alexander erzählte mir, glaube ich, bei dieser Gelegenheit von der freien Hiwi-Stelle bei der No Foundation. Ich kann gar nicht sagen, ob Alexander und ich überhaupt Freunde waren. Zumindest war ich aufrichtig überrascht, dass er in Hinblick auf diese Stelle an mich gedacht hat. Wenn wir Freunde waren, dann wären wir es also hier geworden.
Lenna müsste übrigens heute oder morgen zurückkommen.
Ja, ich war auf der Beerdigung. Ich weiß aber nicht, ob ich es gerade schaffe, darüber etwas aufzuschreiben. Das war alles unglaublich katholisch, irgendwie seltsam, aber auch schön und vor allem schmerzhaft. Die ganze Familie war da, sogar sein Vater und dieser Cousin, von dem Alexander mal erzählt hat. Lenna und ich saßen hinterher noch lange mit Alexanders Mutter zusammen. Dann war da auch noch ein irgendein Freund und dessen Freundin, die saßen aber die ganze Zeit etwas angespannt alleine am Rand, bis Alexanders Vater sich irgendwann zu ihnen gesetzt hat.
Es ist ein wirklich seltsames Gefühl, Felix. Ich hatte Alexander in den letzten Wochen ja noch mehrmals getroffen. Zuerst in Bordeaux, dann sind wir zusammen nach Paris. Er hat mir sogar geholfen, eine Wohnung zu finden (ich wohne jetzt bei Freunden von seiner Großmutter in einem ehemaligen Bedienstetenzimmer unter dem Dach, alles sehr klein, aber praktisch und vergleichsweise günstig). Ich musste dann noch einmal für eine Woche nach Deutschland, danach haben wir uns noch mehrmals gesehen, zum Spazierengehen und Kaffee trinken. Alexander hat mir ein paar wirklich schöne Orte gezeigt, an die ich mich jetzt gar nicht mehr alleine zu gehen traue.
Es ist ein wirklich seltsames Gefühl, Felix. Ich hatte Alexander in den letzten Wochen ja noch mehrmals getroffen. Zuerst in Bordeaux, dann sind wir zusammen nach Paris. Er hat mir sogar geholfen, eine Wohnung zu finden (ich wohne jetzt bei Freunden von seiner Großmutter in einem ehemaligen Bedienstetenzimmer unter dem Dach, alles sehr klein, aber praktisch und vergleichsweise günstig). Ich musste dann noch einmal für eine Woche nach Deutschland, danach haben wir uns noch mehrmals gesehen, zum Spazierengehen und Kaffee trinken. Alexander hat mir ein paar wirklich schöne Orte gezeigt, an die ich mich jetzt gar nicht mehr alleine zu gehen traue.
Hallo Sidonie, warst du auf der Beerdigung? Ich war mir gar nicht richtig sicher, ob ich dort hätte hinkommen sollen oder nicht. Und wann kommt Lenna wieder?
Lieber Felix, Lenna hat mich gebeten, das Message Board an ihrer Stelle für das neue Semester zu eröffnen. (Sie ist nach der Beerdigung weiter nach Bilbao geflogen, um sich von den letzten Wochen zu erholen.) Ich weiß auch gar nicht so richtig, wie wir hier jetzt weitermachen sollen. Hätte mein Semester nicht schon vor ein paar Wochen angefangen, wäre ich lieber auch noch einmal irgendwo hingefahren. Aber so ist es nun und ich denke, dass wir irgendeinen Weg finden werden, in dieser Situation weiterzumachen, ohne Alexander dadurch unrecht zu tun. Hast du eine Idee?
Auch wenn ich eure Bemühungen hier sehr schätze und es doch wirklich immer wieder faszinierend ist, wie sehr die einfachsten (wenn auch niemals voraussetzungslosen) Grundunterscheidungen die gesamte Perspektive auf einen Gegenstand, die Gesellschaft, die Welt usw. bestimmen kann, muss ich für mich sagen, dass ich mit derartigen Großtheorien ein wenig abgeschlossen habe. I’m over it. (Nun gut, vielleicht nicht ganz „over“, zumindest aber verspüre ich überhaupt gar kein Bedürfnis, mein Denken in irgendein philosophisches oder soziologisches System zu drängen. Hier und dort kann man von einzelnen Denkern doch wesentlich mehr lernen, wenn man sich dadurch nicht gleich ihrem gesamten Begriffsraster und dessen innerer Verweisungs- und Begründungslogik unterwirft, sondern sich im entscheidenden Moment auch wieder von ihnen löst und den Versuch unternimmt, einen eigenen Gedanken zu formulieren.)
Ich bin mir gerade nicht ganz sicher, ob Vernon Subutex am Ende so viel hergeben wird, Alex. Lass uns das zu einem späteren Zeitpunkt entscheiden. Vielleicht habe ich es bis dahin auch geschafft, den zweiten Band zu lesen, der nun schon seit einiger Zeit auf meinem Nachttisch liegt und den ich jeden Morgen mit schlechtem Gewissen anschaue, weil ich einfach nicht dazu komme, ihn überhaupt auch nur aufzuschlagen. (Zum Semesterende steht einfach mal wieder so viel Arbeit an.)
À propos Semesterende: wir haben das Ende des Semesters erreicht und gehen damit in die Sommerpause. Wie es halt immer so ist, bleiben viele Gesprächsfäden lose hängen und gerade die wichtigsten Fragen unbeantwortet, aber so soll es ja auch sein, alles Definitive ist schließlich immer auch ein bisschen langweilig. Ich freue mich schon, ab Beginn des neuen Semesters im Oktober weiter mit euch zu schreiben und wünsche euch bis dahin einen guten, schönen, entspannenden und produktiven Sommer!
Ich bin mir gerade nicht ganz sicher, ob Vernon Subutex am Ende so viel hergeben wird, Alex. Lass uns das zu einem späteren Zeitpunkt entscheiden. Vielleicht habe ich es bis dahin auch geschafft, den zweiten Band zu lesen, der nun schon seit einiger Zeit auf meinem Nachttisch liegt und den ich jeden Morgen mit schlechtem Gewissen anschaue, weil ich einfach nicht dazu komme, ihn überhaupt auch nur aufzuschlagen. (Zum Semesterende steht einfach mal wieder so viel Arbeit an.)
À propos Semesterende: wir haben das Ende des Semesters erreicht und gehen damit in die Sommerpause. Wie es halt immer so ist, bleiben viele Gesprächsfäden lose hängen und gerade die wichtigsten Fragen unbeantwortet, aber so soll es ja auch sein, alles Definitive ist schließlich immer auch ein bisschen langweilig. Ich freue mich schon, ab Beginn des neuen Semesters im Oktober weiter mit euch zu schreiben und wünsche euch bis dahin einen guten, schönen, entspannenden und produktiven Sommer!
Auch wenn Du nun schon ein bisschen abgewinkt hast, mein lieber Alexander, würde ich an dieser Stelle noch einmal versuchen wollen, Dir zumindest einen Aspekt der Systemtheorie schmackhaft zu machen. Dabei wird ersichtlich, dass ich Sidonies Einschätzung zum politischen Wert der Systemtheorie eine gegenläufige Perspektive zur Seite stellen möchte.
Ganz konkret geht es mir nun um die Frage der ‚Gemeinschaft‘, die Du thematisiert hast und mit der Du – zumindest in einer gewissen Erscheinungsform – ein Problem zu haben scheinst. Diese Erscheinungsform benennst du als die Ideologie der ‚organischen‘ Gemeinschaft. Bei vielen Denkern wird die Metapher des Organismus im Gegensatz zur Maschine gedacht. Unterschieden werden beide dadurch, dass die Maschine als bloße Summe ihrer Teile definiert wird, der Organismus aber „mehr“ sein soll als das. Dieses „mehr“ bedeutet dann, dass der Organismus ein „Ganzes“ ist, das seine Teile überhaupt erst hervorbringt (das wäre die Ideologie der Nation, der Volksgemeinschaft, etc.), während die Maschine eine bloße Assemblage von Einzelnem ist, die ohne weiteres wieder demontiert werden könnte (so denken heute viele Menschen über Europa, wenn sie von einem ‚bloßen‘ „Vertragskonstrukt“ sprechen). Wie wir sehen, beruhen sowohl die Metapher der Maschine als auch diejenige des Organismus auf einem Schema, in dem das Ganze und seine Teile in einem unterschiedlichen Verhältnis von Kausalität gedacht werden.
Wenn man es sich nun zur Aufgabe machen würde, das Wirken dieser Metaphern in der Gesellschaft, im politischen Imaginären usw. kritisch zu beschreiben, dann wäre es meiner Ansicht nach problematisch, in der eigenen Beschreibungssprache auf eine Theorie der Gesellschaft zurückzugreifen, die auf demselben Schema basiert wie die in den Blick genommene Metaphorik: nämlich auf Gesellschaft als Summe der in ihr lebenden Individuen, meinetwegen umgekehrt auch als Prinzip a priori, das diese Individuen hervorbringt. Noch eklatanter wird das Problem, wenn man, wie etwa Ferdinand Tönnies, von der Unterscheidung Gemeinschaft/Gesellschaft ausgeht und damit im Grunde die normativen Prämissen der Unterscheidung Organismus/Maschine – Gemeinschaft = organisch, Gesellschaft = mechanisch (Tönnies) – bloß reproduziert.
Die Systemtheorie hätte nun den entscheidenden Vorteil, dass sie einen Begriff von Gesellschaft anbietet, der nicht auf dem Ganzes-Teile-Schema, sondern auf dem Prinzip der sozialen Ausdifferenzierung, der Leitunterscheidung System/Umwelt und der Kommunikation beruht. Jedes Teilsystem fertigt ständig so genannte ‚Selbstbeschreibungen‘ an, die der Anschlussfähigkeit und Orientierung von Kommunikation dienen und dabei vor allem die Aufgabe haben, Komplexität zu reduzieren: Organismus und Maschine stellen extreme Möglichkeiten der Reduktion von Komplexität dar. Anders nun als eine Soziologie, die auf derselben Form der Reduktion von Komplexität basiert, ermöglicht die Systemtheorie eine radikale Entsubstantialisierung des Begriffs der Gemeinschaft. Und das halte ich für einen genuin politischen Wert dieser Theorie, der sich, wenn ich Dich richtig verstehe, auch noch ziemlich genau mit Deinen eigenen politischen Motivationen decken müsste, Alexander. Vielleicht klingt diese Einladung in Deinen Ohren ja überzeugend genug, dass Du Luhmann irgendwann noch einmal eine Chance geben wirst.
Ganz konkret geht es mir nun um die Frage der ‚Gemeinschaft‘, die Du thematisiert hast und mit der Du – zumindest in einer gewissen Erscheinungsform – ein Problem zu haben scheinst. Diese Erscheinungsform benennst du als die Ideologie der ‚organischen‘ Gemeinschaft. Bei vielen Denkern wird die Metapher des Organismus im Gegensatz zur Maschine gedacht. Unterschieden werden beide dadurch, dass die Maschine als bloße Summe ihrer Teile definiert wird, der Organismus aber „mehr“ sein soll als das. Dieses „mehr“ bedeutet dann, dass der Organismus ein „Ganzes“ ist, das seine Teile überhaupt erst hervorbringt (das wäre die Ideologie der Nation, der Volksgemeinschaft, etc.), während die Maschine eine bloße Assemblage von Einzelnem ist, die ohne weiteres wieder demontiert werden könnte (so denken heute viele Menschen über Europa, wenn sie von einem ‚bloßen‘ „Vertragskonstrukt“ sprechen). Wie wir sehen, beruhen sowohl die Metapher der Maschine als auch diejenige des Organismus auf einem Schema, in dem das Ganze und seine Teile in einem unterschiedlichen Verhältnis von Kausalität gedacht werden.
Wenn man es sich nun zur Aufgabe machen würde, das Wirken dieser Metaphern in der Gesellschaft, im politischen Imaginären usw. kritisch zu beschreiben, dann wäre es meiner Ansicht nach problematisch, in der eigenen Beschreibungssprache auf eine Theorie der Gesellschaft zurückzugreifen, die auf demselben Schema basiert wie die in den Blick genommene Metaphorik: nämlich auf Gesellschaft als Summe der in ihr lebenden Individuen, meinetwegen umgekehrt auch als Prinzip a priori, das diese Individuen hervorbringt. Noch eklatanter wird das Problem, wenn man, wie etwa Ferdinand Tönnies, von der Unterscheidung Gemeinschaft/Gesellschaft ausgeht und damit im Grunde die normativen Prämissen der Unterscheidung Organismus/Maschine – Gemeinschaft = organisch, Gesellschaft = mechanisch (Tönnies) – bloß reproduziert.
Die Systemtheorie hätte nun den entscheidenden Vorteil, dass sie einen Begriff von Gesellschaft anbietet, der nicht auf dem Ganzes-Teile-Schema, sondern auf dem Prinzip der sozialen Ausdifferenzierung, der Leitunterscheidung System/Umwelt und der Kommunikation beruht. Jedes Teilsystem fertigt ständig so genannte ‚Selbstbeschreibungen‘ an, die der Anschlussfähigkeit und Orientierung von Kommunikation dienen und dabei vor allem die Aufgabe haben, Komplexität zu reduzieren: Organismus und Maschine stellen extreme Möglichkeiten der Reduktion von Komplexität dar. Anders nun als eine Soziologie, die auf derselben Form der Reduktion von Komplexität basiert, ermöglicht die Systemtheorie eine radikale Entsubstantialisierung des Begriffs der Gemeinschaft. Und das halte ich für einen genuin politischen Wert dieser Theorie, der sich, wenn ich Dich richtig verstehe, auch noch ziemlich genau mit Deinen eigenen politischen Motivationen decken müsste, Alexander. Vielleicht klingt diese Einladung in Deinen Ohren ja überzeugend genug, dass Du Luhmann irgendwann noch einmal eine Chance geben wirst.
Sidonie, du bist wirklich eine Brückenbauerin und ich finde es schön, dass du in deinen theoretischen Überlegungen gewissermaßen zwischen Felix und mir zu vermitteln versuchst. Felix und ich haben (glaube ich) schon länger festgestellt, dass (neben dem, was er Pathos nennt) Luhmann gewissermaßen unser Scheidepunkt ist und das ist irgendwie voll okay. Ich komme bei einer derartigen „Vogelperspektive“ zwar noch mit und finde das auch einigermaßen interessant, fühle mich aber dort, wo es unübersichtlicher wird und die eigenen Widersprüche schwieriger zu benennen sind (gewissermaßen im „Handgemenge“) einfach wohler.
Danke übrigens für deinen Bericht zu McCarthy, Lenna. Ich war an dem Abend leider verhindert und konnte deshalb nicht an der Vorlesung teilnehmen. Was die Kittler-Referenzen angeht: mir wurde einmal gesagt, McCarthys C (der einzige seiner Romane, den ich noch nicht gelesen habe) sei stark von Kittler beeinflusst. Die Person, die mir das erzählte, sprach sogar von einem „Kittler-Roman“. Vielleicht werde ich dem bei Gelegenheit mal auf den Grund gehen (auch wenn ich, um darüber urteilen zu können, zunächst auch noch einmal gründlicher Kittler lesen müsste). Da du auch De Certeau erwähnst: bilde ich es mir ein oder ist der „Alltag“ in den Geisteswissenschaften zuletzt zu einem Trending Topic avanciert? (Da mir gerade selbst keine konkreten Beispiele einfallen, bilde ich es mir vermutlich tatsächlich ein.)
Was Vernon Subutex angeht: Bisher habe ich nur die Rezension gelesen, habe es mir nun aber bestellt, damit wir uns noch darüber austauschen können. Vermutlich werde ich erst in der Sommerpause dazu kommen, es tatsächlich zu lesen. Reicht das?
Danke übrigens für deinen Bericht zu McCarthy, Lenna. Ich war an dem Abend leider verhindert und konnte deshalb nicht an der Vorlesung teilnehmen. Was die Kittler-Referenzen angeht: mir wurde einmal gesagt, McCarthys C (der einzige seiner Romane, den ich noch nicht gelesen habe) sei stark von Kittler beeinflusst. Die Person, die mir das erzählte, sprach sogar von einem „Kittler-Roman“. Vielleicht werde ich dem bei Gelegenheit mal auf den Grund gehen (auch wenn ich, um darüber urteilen zu können, zunächst auch noch einmal gründlicher Kittler lesen müsste). Da du auch De Certeau erwähnst: bilde ich es mir ein oder ist der „Alltag“ in den Geisteswissenschaften zuletzt zu einem Trending Topic avanciert? (Da mir gerade selbst keine konkreten Beispiele einfallen, bilde ich es mir vermutlich tatsächlich ein.)
Was Vernon Subutex angeht: Bisher habe ich nur die Rezension gelesen, habe es mir nun aber bestellt, damit wir uns noch darüber austauschen können. Vermutlich werde ich erst in der Sommerpause dazu kommen, es tatsächlich zu lesen. Reicht das?
Ich denke, dass die Unterscheidung die Politik / das Politische sich durchaus auf die Unterscheidung Staat / Gesellschaft projizieren lässt und verstehe deine Ausführungen, Felix, deshalb nicht ganz als Widerspruch zu dem von mir geschriebenen. Generell muss ich aber festhalten, dass ich Luhmann zwar immer wieder mit großem Gewinn lese (zumindest, wenn es um Fragen der Theorie und der Geschichte geht), dass ich ihn aber für ein Nachdenken über konkrete politische Probleme mit Vorsicht genieße.
In Bezug auf die Unterscheidung Staat / Gesellschaft mag Luhmann zum Beispiel von einem ‚Freiheitsgewinn‘ sprechen. Diese ‚Freiheit‘ von der ‚Politik‘ (Staat) hat doch aber eben auch zu der Tendenz geführt, ‚Gesellschaft‘ als unpolitischen Raum aufzufassen. (Bestimmte Leute, wie zum Beispiel Georg Lukács oder Alexander Mirault, würden behaupten, dass dies insbesondere auf Deutschland zutrifft.) Die Unterscheidung die Politik / das Politische – und das ‚Politische‘ hier eben verstanden als die gesellschaftliche Organisation von Verkehrsformen, Werten, etc. – versucht demgegenüber, ein politisches Verständnis von ‚Gesellschaft‘ voranzutreiben. ‚Ethik‘ hat dann eben nicht bloß etwas mit Individualeinstellungen zu tun, sondern mit der Frage nach den konkreten Formen von Vergesellschaftung, der Distribution von Werten, mit der Entstehung, Funktion und der Problematik von sozialer Differenz, Habitusformen usw. Das sollte man nicht mit Moral gleichsetzen und vor allem auch nicht mit der Anrufung eines ‚Ethos‘.
In Ethik als Reflexionstheorie der Moral weist Luhmann auf einen ähnlichen Punkt hin, wenn er über Aristoteles schreibt:
„Über den Begriff des Ethos fand man Zugang zu Unterscheidungen, die eng an die Typik gesellschaftlicher Differenzierung angeschlossen waren (und sich deshalb auch von ›Politik‹ theoretisch nicht sauber trennen ließen). Es ging primär um die Unterscheidung von Stadt/Land (oder auch pólis/oíkos, bzw. formaler: Zentrum/Peripherie) und sekundär, aber in der Folgetradition bis hin zur italienischen Frührenaissance sehr wirksam, um die Unterscheidung von Adel und Volk, also um Stratifikation. Der Ethosbegriff diente damit der auszeichnenden Hervorhebung gegenüber anderem, das zwar auch zum Sozialsystem Gesellschaft gehörte, aber nicht im eigentlichen Sinne und nicht im Sinne menschlicher Perfektion. Man hört nichts von einem Ethos der Ruderer in den Galeeren.“
Anders formuliert, muss man sich ein ‚Ethos‘ und auch eine ‚Moral‘ erst einmal leisten können. Das ist eine Frage des bereits distribuierten Privilegs oder anders formuliert: der sozialen Differenz. Und die Aufgabe der ‚Ethik‘ müsste es meiner Meinung nach sein, nach den konkreten Formen, der Entstehung und den Bedingungen dieser Differenz zu fragen, um von dort aus die Gültigkeit moralischer Urteile (gut/schlecht bzw. gut/böse) infrage zu stellen. Luhmann entwirft Ethik nicht als Begründung der Moral, sondern als ihre Reflexionstheorie. Ich würde mir Ethik eher als Kritik der Moral vorstellen und zwar in dem Sinne, dass sie durch die Offenlegung der historischen, sozialen, etc. Kontingenz ihrer normativen Setzungen zugleich deren Geltungsanspruch zurückweist.
Damit ist wohl auch angedeutet, dass ich es nicht unbedingt für glücklich halte, Luhmanns Begriff der ‚Freiheit‘ – so sehr sich darin ein gewisser Liberalismus ausdrücken mag – in einem emanzipativen, politischen Sinn zu deuten. Genau wie in der Antike ein ‚Ethos‘, muss man es sich heute erst einmal leisten können, die These zu vertreten, dass der ‚Mensch‘ außerhalb der ‚Gesellschaft‘ stehe und deshalb ihr gegenüber ‚frei‘ sei. Auch wenn ich, wie gesagt, einsehe, dass damit für eine gewisse Form der Soziologie viel gewonnen sein mag, bin ich der festen Überzeugung, dass diese These nur von einem weißen Westeuropäer und auch nur in einer Phase des durchsetzenden Wohlstands verfasst werden konnte. Auch wenn ich ab und an meine Probleme mit Adorno habe, liegt mir der Begriff der ‚Gesellschaft‘ der Kritischen Theorie im Vergleich deutlich näher, weil er ein Bewusstsein dafür hat, dass der Mensch eben nicht frei ist und zwar gerade weil er einzig und allein in der Gesellschaft existiert und existieren kann und durch ihre Normen, ihre Moral, ihre Verkehrsformen bestimmt ist. ‚Ethik‘, wie ich sie oben angedeutet habe, arbeitet am gesellschaftlichen Bewusstsein dieser Tatsache. (Sie sollte uns dabei nicht davon abhalten, an dem, was wir so machen, an all den Dingen, die wir füreinander produzieren und miteinander austauschen, seien es Handlungen, Werke oder Gedanken, kurz: aneinander unseren Spaß zu haben.)
In Bezug auf die Unterscheidung Staat / Gesellschaft mag Luhmann zum Beispiel von einem ‚Freiheitsgewinn‘ sprechen. Diese ‚Freiheit‘ von der ‚Politik‘ (Staat) hat doch aber eben auch zu der Tendenz geführt, ‚Gesellschaft‘ als unpolitischen Raum aufzufassen. (Bestimmte Leute, wie zum Beispiel Georg Lukács oder Alexander Mirault, würden behaupten, dass dies insbesondere auf Deutschland zutrifft.) Die Unterscheidung die Politik / das Politische – und das ‚Politische‘ hier eben verstanden als die gesellschaftliche Organisation von Verkehrsformen, Werten, etc. – versucht demgegenüber, ein politisches Verständnis von ‚Gesellschaft‘ voranzutreiben. ‚Ethik‘ hat dann eben nicht bloß etwas mit Individualeinstellungen zu tun, sondern mit der Frage nach den konkreten Formen von Vergesellschaftung, der Distribution von Werten, mit der Entstehung, Funktion und der Problematik von sozialer Differenz, Habitusformen usw. Das sollte man nicht mit Moral gleichsetzen und vor allem auch nicht mit der Anrufung eines ‚Ethos‘.
In Ethik als Reflexionstheorie der Moral weist Luhmann auf einen ähnlichen Punkt hin, wenn er über Aristoteles schreibt:
„Über den Begriff des Ethos fand man Zugang zu Unterscheidungen, die eng an die Typik gesellschaftlicher Differenzierung angeschlossen waren (und sich deshalb auch von ›Politik‹ theoretisch nicht sauber trennen ließen). Es ging primär um die Unterscheidung von Stadt/Land (oder auch pólis/oíkos, bzw. formaler: Zentrum/Peripherie) und sekundär, aber in der Folgetradition bis hin zur italienischen Frührenaissance sehr wirksam, um die Unterscheidung von Adel und Volk, also um Stratifikation. Der Ethosbegriff diente damit der auszeichnenden Hervorhebung gegenüber anderem, das zwar auch zum Sozialsystem Gesellschaft gehörte, aber nicht im eigentlichen Sinne und nicht im Sinne menschlicher Perfektion. Man hört nichts von einem Ethos der Ruderer in den Galeeren.“
Anders formuliert, muss man sich ein ‚Ethos‘ und auch eine ‚Moral‘ erst einmal leisten können. Das ist eine Frage des bereits distribuierten Privilegs oder anders formuliert: der sozialen Differenz. Und die Aufgabe der ‚Ethik‘ müsste es meiner Meinung nach sein, nach den konkreten Formen, der Entstehung und den Bedingungen dieser Differenz zu fragen, um von dort aus die Gültigkeit moralischer Urteile (gut/schlecht bzw. gut/böse) infrage zu stellen. Luhmann entwirft Ethik nicht als Begründung der Moral, sondern als ihre Reflexionstheorie. Ich würde mir Ethik eher als Kritik der Moral vorstellen und zwar in dem Sinne, dass sie durch die Offenlegung der historischen, sozialen, etc. Kontingenz ihrer normativen Setzungen zugleich deren Geltungsanspruch zurückweist.
Damit ist wohl auch angedeutet, dass ich es nicht unbedingt für glücklich halte, Luhmanns Begriff der ‚Freiheit‘ – so sehr sich darin ein gewisser Liberalismus ausdrücken mag – in einem emanzipativen, politischen Sinn zu deuten. Genau wie in der Antike ein ‚Ethos‘, muss man es sich heute erst einmal leisten können, die These zu vertreten, dass der ‚Mensch‘ außerhalb der ‚Gesellschaft‘ stehe und deshalb ihr gegenüber ‚frei‘ sei. Auch wenn ich, wie gesagt, einsehe, dass damit für eine gewisse Form der Soziologie viel gewonnen sein mag, bin ich der festen Überzeugung, dass diese These nur von einem weißen Westeuropäer und auch nur in einer Phase des durchsetzenden Wohlstands verfasst werden konnte. Auch wenn ich ab und an meine Probleme mit Adorno habe, liegt mir der Begriff der ‚Gesellschaft‘ der Kritischen Theorie im Vergleich deutlich näher, weil er ein Bewusstsein dafür hat, dass der Mensch eben nicht frei ist und zwar gerade weil er einzig und allein in der Gesellschaft existiert und existieren kann und durch ihre Normen, ihre Moral, ihre Verkehrsformen bestimmt ist. ‚Ethik‘, wie ich sie oben angedeutet habe, arbeitet am gesellschaftlichen Bewusstsein dieser Tatsache. (Sie sollte uns dabei nicht davon abhalten, an dem, was wir so machen, an all den Dingen, die wir füreinander produzieren und miteinander austauschen, seien es Handlungen, Werke oder Gedanken, kurz: aneinander unseren Spaß zu haben.)
Danke Felix, aber ich habe irgendwie das Gefühl, dass du die Unterscheidung zwischen der Politik und dem Politischen, die Sidonie ja anbringt, zuerst überliest, um sie dann selbst wieder anzuführen, aber darauf soll Sidonie lieber selbst antworten.
Ich möchte euch an dieser Stelle kurz von einer Vorlesung erzählen, die ich am Donnerstag besucht habe. Tom McCarthy hat an der FU Berlin die Szondi-Lecture gehalten und da wir nun schon so ausführlich über den Roman diskutiert haben, könnte euch das ja vielleicht interessieren. Die Veranstaltung fand in einem Hörsaal statt, der vielleicht zu einem Viertel besetzt und wirklich bizarr klimatisiert war, die übergroßen Fenster alle verhangen und der Saal künstlich beleuchtet. Ich habe das als Ausdruck der naiv-verträumten Menschenfeindlichkeit der Universität verstanden, wo es aufs Wohlfühlen halt nicht ankommt. Die Glasarchitektur im Zentrum Londons, wie sie in Satin Island geschildert wird, ist bestimmt attraktiver. Aber wir wissen ja, dass U. als „corporate anthropologist“ zwar ein Büro in einem solchen Gebäude hat, aber eben nicht in einer tageslichtdurchfluteten Etage mit Ausblick auf die City, sondern im Keller, mit Ausblick auf zahllose erratische Dossiers, die an den Wänden hängen, aus denen die Klimaanlage dröhnt. Der Hörsaal an der FU ist somit zwar ein architektonischer Affront gegen Redner und Publikum, den ich mit viel gutem Willen aber auch als Hommage an den letzten Roman von Tom McCarthy auffassen kann…
Der Vortrag von Tom McCarthy wurde von Professor Witte eingeleitet, der dabei einige Gedanken zur Form des Romans weiterentwickelte. Darüber wurde ja auch im neulich geposteten Bericht zum Satin Island-Workshop geschrieben. Herr Witte brachte das aber noch einmal anders auf den Punkt. Er fragte nach dem „paradox of story telling […] when all distance of observation is lost” und machte auf Momente des Obsessiven und der Eskalation aufmerksam, von denen Satin Island ja wirklich poetologisch geprägt ist.
Tom McCarthy hielt dann einen Vortrag über die Mediengeschichte von Black Boxes, womit nur anfänglich Flugschreiber gemeint waren. Bald behandelte er Särge (als literarisches Motiv, Dracula, Moby Dick), Containerschiffe, die ersten Aufzeichnungsgeräte und so manche Aberration der Technikgeschichte, wie den von Lillian Gilbreth entwickelten „chronocyclegraph“, eine Technologie, die mittels eines beleuchteten Fingerringes und photographischer Dauerbelichtung Bewegungsprofile von Handarbeit erstellt.
Die Aufschichtung von Motiven, hier: Black Boxes, mit der McCarthy, wir haben darüber geredet, in seinen Roman arbeitet, benutzt er auch in seinen theoretischen oder kritischen Textformaten. Wie ein Senkblei hat er sein Black Box-Motiv in die Literatur- und Industriegeschichte hinabgleiten lassen und dabei nicht zufällig mehrfach Friedrich Kittler erwähnt (vielleicht auch eine höfliche Verneigung vor dem deutschen Publikum), in dessen Denken die Ko-Evolution von Kunst und Technologie eine zentrale Rolle spielt. Die umfassendste begriffliche Synthese bildete in McCarthys Vortrag allerdings ein Zitat aus Michel de Certaus L’invention du quotidien (ich weiß gar nicht, wie das auf Englisch heißt), in der die Moderne insgesamt als „scriptural enterprise“ bezeichnet wird, also als schriftliches Unternehmertum. Aufschreiben sei, so McCarthy, inhärent verbunden mit dem Modernismus des Produzierens. Auch Autoren verfahren demnach entsprechenden dem omnipräsenten Dreischritt input/operation/output und sind in diesem Sinne, genau!, Black Boxes.
Die erste Frage aus dem Publikem lautete dann: „Is there a soul in the Black Box?“ „Well“, überlegte McCarthy, „perhaps a ghost.“
Ich möchte euch an dieser Stelle kurz von einer Vorlesung erzählen, die ich am Donnerstag besucht habe. Tom McCarthy hat an der FU Berlin die Szondi-Lecture gehalten und da wir nun schon so ausführlich über den Roman diskutiert haben, könnte euch das ja vielleicht interessieren. Die Veranstaltung fand in einem Hörsaal statt, der vielleicht zu einem Viertel besetzt und wirklich bizarr klimatisiert war, die übergroßen Fenster alle verhangen und der Saal künstlich beleuchtet. Ich habe das als Ausdruck der naiv-verträumten Menschenfeindlichkeit der Universität verstanden, wo es aufs Wohlfühlen halt nicht ankommt. Die Glasarchitektur im Zentrum Londons, wie sie in Satin Island geschildert wird, ist bestimmt attraktiver. Aber wir wissen ja, dass U. als „corporate anthropologist“ zwar ein Büro in einem solchen Gebäude hat, aber eben nicht in einer tageslichtdurchfluteten Etage mit Ausblick auf die City, sondern im Keller, mit Ausblick auf zahllose erratische Dossiers, die an den Wänden hängen, aus denen die Klimaanlage dröhnt. Der Hörsaal an der FU ist somit zwar ein architektonischer Affront gegen Redner und Publikum, den ich mit viel gutem Willen aber auch als Hommage an den letzten Roman von Tom McCarthy auffassen kann…
Der Vortrag von Tom McCarthy wurde von Professor Witte eingeleitet, der dabei einige Gedanken zur Form des Romans weiterentwickelte. Darüber wurde ja auch im neulich geposteten Bericht zum Satin Island-Workshop geschrieben. Herr Witte brachte das aber noch einmal anders auf den Punkt. Er fragte nach dem „paradox of story telling […] when all distance of observation is lost” und machte auf Momente des Obsessiven und der Eskalation aufmerksam, von denen Satin Island ja wirklich poetologisch geprägt ist.
Tom McCarthy hielt dann einen Vortrag über die Mediengeschichte von Black Boxes, womit nur anfänglich Flugschreiber gemeint waren. Bald behandelte er Särge (als literarisches Motiv, Dracula, Moby Dick), Containerschiffe, die ersten Aufzeichnungsgeräte und so manche Aberration der Technikgeschichte, wie den von Lillian Gilbreth entwickelten „chronocyclegraph“, eine Technologie, die mittels eines beleuchteten Fingerringes und photographischer Dauerbelichtung Bewegungsprofile von Handarbeit erstellt.
Die Aufschichtung von Motiven, hier: Black Boxes, mit der McCarthy, wir haben darüber geredet, in seinen Roman arbeitet, benutzt er auch in seinen theoretischen oder kritischen Textformaten. Wie ein Senkblei hat er sein Black Box-Motiv in die Literatur- und Industriegeschichte hinabgleiten lassen und dabei nicht zufällig mehrfach Friedrich Kittler erwähnt (vielleicht auch eine höfliche Verneigung vor dem deutschen Publikum), in dessen Denken die Ko-Evolution von Kunst und Technologie eine zentrale Rolle spielt. Die umfassendste begriffliche Synthese bildete in McCarthys Vortrag allerdings ein Zitat aus Michel de Certaus L’invention du quotidien (ich weiß gar nicht, wie das auf Englisch heißt), in der die Moderne insgesamt als „scriptural enterprise“ bezeichnet wird, also als schriftliches Unternehmertum. Aufschreiben sei, so McCarthy, inhärent verbunden mit dem Modernismus des Produzierens. Auch Autoren verfahren demnach entsprechenden dem omnipräsenten Dreischritt input/operation/output und sind in diesem Sinne, genau!, Black Boxes.
Die erste Frage aus dem Publikem lautete dann: „Is there a soul in the Black Box?“ „Well“, überlegte McCarthy, „perhaps a ghost.“
Ich finde eure Ausführungen wirklich faszinierend und ich lese sie, wie andere einen Tierfilm gucken… Diese adornitische Mischung von Abstraktion und Pathos, die ihr euch angeeignet habt, hat eine starke Wirkung. Ich muss aber sagen, dass mir da manchmal die analytische Beobachtung entwischt. Ich frage mal in medias res, warum Du dich, Sidonie, für die Verwendung des generischen Singulars bei dem Wort „Differenz“ rechtfertigst, während ich es viel erklärungsbedürftiger finde, wenn von „dem Politischen“ die Rede ist. Dazu schreibst Du dann: „Die Anerkennung jeglicher Form von Differenz als genuin politische Herausforderung, als Ort des Politischen“. Aber ist das denn nun etwas anderes als die Ethisierung von Politik, die Du, Sidonie, zuvor noch völlig zu Recht kritisiert hattest. Ein, zugegeben, sehr versierter Appell, aber eben doch Appell an die Einstellung von Individuen? Das wäre dann Moral, schöne zwar, aber doch eben – Moral.
Versteht mich nicht falsch: Ich wünsche mir ja genau dasselbe, denke aber, dass die Tugend, mit Differenz umzugehen und diese gar wertschätzen zu können, eher eine habituelle Konsequenz aus einer offenen Gesellschaft ist und nicht die moralische Voraussetzung für diese. Von Luhmann gibt es dazu ziemlich aufschlussreiche Gedanken. Er gibt z. B. in einem Text zur Differenz von Staat und Gesellschaft eine historische Herleitung der sozialen Tatsache, dass Politik heute ein sehr spezieller, einzelner Teilbereich von Gesellschaft ist. Darin sieht er allerdings einen immensen Freiheitsgewinn, nicht nur weil die Individuen gewissermaßen von der Arbeitslast der politischen Organisation entlastet würden (das allein wäre in der Tat keine Errungenschaft), sondern auch weil die Ausdifferenzierung des Politischen in die hochintrikaten Subsysteme von Politik, Recht und Wirtschaft dem offenen Horizont der Moderne Rechnung trägt: Die Umstellung von Einheit auf Differenz auch im Politischen ist die Voraussetzung für die Freiheit des Einzelnen, und die ‚technische‘ Trennung von gesellschaftlicher Ethik und politischer Organisation garantiert diese Freiheit.
Derzeit kann man allerdings unverhohlen restaurative Tendenzen beobachten: Die Sehnsucht nach ‚organischer Gemeinschaft‘, die Re-Nationalisierung in der EU, das Abtragen von Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit und die damit verbundene Konstruktion von Obrigkeitsstaaten des 21. Jahrhunderts. All dies sind Anstrengungen, die Gesellschaften auf Einheit umzustellen. Die Hoffnung, das Leben dann ‚unter Kontrolle‘ zu haben, könnte sich zwar erfüllen. Es wird aber leider nicht die eigene Kontrolle sein.
Versteht mich nicht falsch: Ich wünsche mir ja genau dasselbe, denke aber, dass die Tugend, mit Differenz umzugehen und diese gar wertschätzen zu können, eher eine habituelle Konsequenz aus einer offenen Gesellschaft ist und nicht die moralische Voraussetzung für diese. Von Luhmann gibt es dazu ziemlich aufschlussreiche Gedanken. Er gibt z. B. in einem Text zur Differenz von Staat und Gesellschaft eine historische Herleitung der sozialen Tatsache, dass Politik heute ein sehr spezieller, einzelner Teilbereich von Gesellschaft ist. Darin sieht er allerdings einen immensen Freiheitsgewinn, nicht nur weil die Individuen gewissermaßen von der Arbeitslast der politischen Organisation entlastet würden (das allein wäre in der Tat keine Errungenschaft), sondern auch weil die Ausdifferenzierung des Politischen in die hochintrikaten Subsysteme von Politik, Recht und Wirtschaft dem offenen Horizont der Moderne Rechnung trägt: Die Umstellung von Einheit auf Differenz auch im Politischen ist die Voraussetzung für die Freiheit des Einzelnen, und die ‚technische‘ Trennung von gesellschaftlicher Ethik und politischer Organisation garantiert diese Freiheit.
Derzeit kann man allerdings unverhohlen restaurative Tendenzen beobachten: Die Sehnsucht nach ‚organischer Gemeinschaft‘, die Re-Nationalisierung in der EU, das Abtragen von Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit und die damit verbundene Konstruktion von Obrigkeitsstaaten des 21. Jahrhunderts. All dies sind Anstrengungen, die Gesellschaften auf Einheit umzustellen. Die Hoffnung, das Leben dann ‚unter Kontrolle‘ zu haben, könnte sich zwar erfüllen. Es wird aber leider nicht die eigene Kontrolle sein.
Ich musste bei dem, was du geschrieben hast, Sidonie, an eine Stelle aus Adornos Vorlesung Einführung in die Dialektik denken, an der Adorno von der „Differenz“ als einer „Utopie“ spricht: „…daß das Verschiedene nebeneinander besteht, ohne sich gegenseitig zu vernichten, daß ein Verschiedenes dem anderen Raum läßt, um sich zu entfalten, und daß – könnte man hinzufügen – das Verschiedene sich liebt, das wäre eigentlich der Traum überhaupt einer versöhnten Welt“. Die Dialektik, sagt Adorno, „ist der negative Ausdruck eines Zustandes, indem sie in der Tat das Denken ist, das einer Wirklichkeit sich anmißt, in der der Widerspruch, also das aus sich heraus, aus dem eigenen Prinzip heraus auf seine eigene Vernichtung Abzielende, eigentlich an die Stelle des Glücks der Differenz überhaupt sich gesetzt hat.“ Ich mag diese Passage so sehr, weil hier ein Adorno spricht, der in dieser Tonlage oft unbekannt ist oder ignoriert wird und möchte sie an dieser Stelle ohne weitere Ausführungen stehen lassen.
Ich musste in diesem Zusammenhang übrigens vor ein paar Tagen noch an eine andere Sache denken: auf Facebook schrieb jemand in etwa „Lieber Schwarm, kann mir jemand gute Restaurants in Lissabon empfehlen?“ und ich kam mir bei diesem Wort „Schwarm“ plötzlich ins Jahr 2009 zurück versetzt vor, als überall von „Schwarmintelligenz“ gesprochen wurde und sogar die Welt Kompakt mit einem Werbespot warb, in dem Vogelschwärme zu sehen waren, zusammen mit der Frage „Sind wir reif für eine neue Zeitung?“ Das sollte wohl besonders zeitgenössisch sein. Auf jeden Fall war der „Schwarm“ (neben dem „Netzwerk“) damals eine der zentralen Metaphern der Gemeinschaft. Einige Jahre später – dazwischen liegen insbesondere Edward Snowden und Cambridge Analytica – scheint klar zu sein, dass der „Schwarm“ und die „Schwarmintelligenz“ die Ideologie derjenigen waren, bei denen es nicht zum Imker gereicht hat. Heute noch auf diese Metapher zurückzugreifen erscheint mir auf geradezu jämmerliche Art verdummt.
Nun gut, ich wollte übrigens auch dir, Alexander, noch zustimmen, was Twin Peaks angeht. Ich glaube dabei, dass gerade dieser Gut-Böse-Simplizismus und die damit einhergehende Schrulligkeit einen großen Teil des Charmes ausmachen, der ganz allgemein von Lynch ausgeht. Gewissermaßen ist sein schwächster Moment vielleicht seine größte Stärke.
Und da du es erwähnst: hast du auch Vernon Subutex oder nur die Rezension? Ich bin gerade mit dem ersten Band fertig und fände es schön, wenn wir uns darüber unerhalten könnten.
Ich musste in diesem Zusammenhang übrigens vor ein paar Tagen noch an eine andere Sache denken: auf Facebook schrieb jemand in etwa „Lieber Schwarm, kann mir jemand gute Restaurants in Lissabon empfehlen?“ und ich kam mir bei diesem Wort „Schwarm“ plötzlich ins Jahr 2009 zurück versetzt vor, als überall von „Schwarmintelligenz“ gesprochen wurde und sogar die Welt Kompakt mit einem Werbespot warb, in dem Vogelschwärme zu sehen waren, zusammen mit der Frage „Sind wir reif für eine neue Zeitung?“ Das sollte wohl besonders zeitgenössisch sein. Auf jeden Fall war der „Schwarm“ (neben dem „Netzwerk“) damals eine der zentralen Metaphern der Gemeinschaft. Einige Jahre später – dazwischen liegen insbesondere Edward Snowden und Cambridge Analytica – scheint klar zu sein, dass der „Schwarm“ und die „Schwarmintelligenz“ die Ideologie derjenigen waren, bei denen es nicht zum Imker gereicht hat. Heute noch auf diese Metapher zurückzugreifen erscheint mir auf geradezu jämmerliche Art verdummt.
Nun gut, ich wollte übrigens auch dir, Alexander, noch zustimmen, was Twin Peaks angeht. Ich glaube dabei, dass gerade dieser Gut-Böse-Simplizismus und die damit einhergehende Schrulligkeit einen großen Teil des Charmes ausmachen, der ganz allgemein von Lynch ausgeht. Gewissermaßen ist sein schwächster Moment vielleicht seine größte Stärke.
Und da du es erwähnst: hast du auch Vernon Subutex oder nur die Rezension? Ich bin gerade mit dem ersten Band fertig und fände es schön, wenn wir uns darüber unerhalten könnten.
Ja, Alexander, vielleicht hatte ich tatsächlich etwas Ähnliches im Sinn, als ich die Worte ‚Zynismus‘ und ‚Gemeinschaft‘ miteinander in Verbindung gebracht habe. Am ehesten ließe sich mein Gedanke mit einer Bemerkung zusammenfassen, die ich vor wenigen Tagen in einem Interview mit Armen Avanessian gelesen habe: „Ich habe nichts gegen Meditation, Yoga und Slow Food. Aber das sind Luxusphänomene. Die kann man zum Vergnügen betreiben, aber als politische Option finde ich das nicht mal diskussionswürdig.“ (https://www.brandeins.de/magazine/brand-eins-wirtschaftsmagazin/2018/geduld/armen-avanessian-interview-wir-haben-keinen-positiven-zukunftsbegriff-mehr) Zynisch werden die hier aufgezählten ‚Technologien des Selbst‘ wohl an dem Punkt, an dem sie als Ersatz für Politik dienen. Du würdest hier vermutlich davon sprechen, dass sich das Politische ins ‚Ethische‘ zurückzieht und dadurch entpolitisiert wird, dass die Leute also plötzlich vom ihrem ‚Ethos‘ reden, als sei das per se etwas Gutes und Bewundernswertes und ohnehin das einzige, was der Einzelne angesichts der heutigen Weltlage noch machen kann.
Mir ist aufgefallen, dass aber auch wir hier dazu tendieren, die Frage des Politischen aus einer soziologisch geprägten Perspektive zu behandeln, die zugleich mit dem Begriff des ‚Ethischen‘ zusammenschießt. Das zeigt sich für mich an den Problemen der sozialen Ausdifferenzierung, die sich in einigen unserer Beiträge als Problem einer zum Habitus geronnenen ‚Ethik‘ darstellt. Deren Verhältnis zum Politischen hast insbesondere du, Alexander, infrage gestellt, indem du von einem ‚Privatismus‘ des Ethischen gesprochen hast. Ich glaube, wir sollten uns noch einmal um ein wenig Klarheit über die Implikationen unserer Begrifflichkeiten bemühen und dabei einige Unterscheidungen berücksichtigen, die sich in relativ asymmetrischer Form aufeinander beziehen. Ich denke dabei an die Unterscheidung die Politik/das Politische, die Ethik/das Ethische, Politik/Gesellschaft, Öffentlich/Privat. (Das an dieser Stelle nur als Anregung, vielleicht haben wir ja bald etwas Zeit, uns ausführlicher darüber zu verständigen.)
Im Kontext dieser Begriffe frage ich mich, ob es vielleicht so ist, dass erst aus der Anerkennung von sozialer, aber auch jeglicher anderer Form von Differenz so etwas wie eine genuin politische Herausforderung entsteht. Diese bestünde darin, einen Raum des Politischen zu schaffen, in dem Differenz (der Einfachheit halber verwende ich den generischen Singular) zunächst einmal als solche erkannt und anerkannt werden kann. Das würde zugleich eine Politik herausfordern, die sich niemals auf a priori („gemeinschaftlich“) vorgegebene Werte berufen kann, sondern für die jeglicher Form von ‚Gemeinschaft‘ eine immer wieder neu zu stellende Frage, eine nie gänzlich zu lösende und doch immer weiter bearbeitete Aufgabe darstellt.
Ich verstehe durchaus, woher deine Abneigung gegenüber dem Begriff der ‚Gemeinschaft‘ rührt, Alexander: du meinst sicherlich die ‚organische Gemeinschaft‘ (über die u.a. Jean-Luc Nancy geschrieben hat). Im 19. und 20. Jahrhundert hat dieser Begriff mit seinem Drang zur Auslöschung des Individuums sehr viel Schaden angerichtet und auch mir wird schlecht, wenn ich so konservative Typen wie Simon Strauß auch heute noch von irgendwelchen Sehnsüchten nach einer ‚Gemeinschaft‘ (und nach ‚Verbindlichkeit’ und ‚Identität‘) reden höre, die etwas bietet, das über das Individuum hinausgeht. (Das war doch sicherlich der Bezugspunkt deines letzten Absatzes, oder? Ich habe bei Strauß übrigens gar nicht das Gefühl, dass es ihm wirklich um ‚Gemeinschaft‘ geht, sondern vor allem um männliche Selbstbehauptung.) Aber das sind ja eben sehr reaktionäre Positionen, die in ihrem Denken der Frage der ‚Gemeinschaft‘ in einer längst überkommenen Logik verhaftet bleiben, währen der Diskurs sich mittlerweile grundlegend gewandelt hat. So ließe ‚Gemeinschaft‘ sich eben auch als ein Zusammenschluss denken, in dem das Individuum nicht ausgelöscht wird, sondern überhaupt erst einen Rahmen der Anerkennung für seine Identität findet. Das scheint mir auf ziemlich viele Minderheitengruppierungen zuzutreffen, insbesondere auf die LGBTQI+-Communities, in denen gemeinschaftliche Organisationsformen dem Schutz und gleichzeitig der gesellschaftlichen Sichtbarmachung dienen können. Die ‚Gemeinschaft‘ bekommt hier einen sehr positiven, emanzipativen Wert, weil sie Individualität und Differenz nicht auslöscht, sondern vielmehr einen Raum bietet, in dem diese sich entfalten kann. In Bezug auf die unreflektierte, in Form von normativer Selbstverständlichkeit herrschende ‚Gemeinschaft‘ der ‚Mehrheit‘ liegt hier ein anti-normativer Impetus zugrunde. Wie heißt es schon bei Ibsen im Volksfeind? „Der gefährlichste Feind der Wahrheit und Freiheit bei uns – das ist die kompakte Majorität.“
Mir ist aufgefallen, dass aber auch wir hier dazu tendieren, die Frage des Politischen aus einer soziologisch geprägten Perspektive zu behandeln, die zugleich mit dem Begriff des ‚Ethischen‘ zusammenschießt. Das zeigt sich für mich an den Problemen der sozialen Ausdifferenzierung, die sich in einigen unserer Beiträge als Problem einer zum Habitus geronnenen ‚Ethik‘ darstellt. Deren Verhältnis zum Politischen hast insbesondere du, Alexander, infrage gestellt, indem du von einem ‚Privatismus‘ des Ethischen gesprochen hast. Ich glaube, wir sollten uns noch einmal um ein wenig Klarheit über die Implikationen unserer Begrifflichkeiten bemühen und dabei einige Unterscheidungen berücksichtigen, die sich in relativ asymmetrischer Form aufeinander beziehen. Ich denke dabei an die Unterscheidung die Politik/das Politische, die Ethik/das Ethische, Politik/Gesellschaft, Öffentlich/Privat. (Das an dieser Stelle nur als Anregung, vielleicht haben wir ja bald etwas Zeit, uns ausführlicher darüber zu verständigen.)
Im Kontext dieser Begriffe frage ich mich, ob es vielleicht so ist, dass erst aus der Anerkennung von sozialer, aber auch jeglicher anderer Form von Differenz so etwas wie eine genuin politische Herausforderung entsteht. Diese bestünde darin, einen Raum des Politischen zu schaffen, in dem Differenz (der Einfachheit halber verwende ich den generischen Singular) zunächst einmal als solche erkannt und anerkannt werden kann. Das würde zugleich eine Politik herausfordern, die sich niemals auf a priori („gemeinschaftlich“) vorgegebene Werte berufen kann, sondern für die jeglicher Form von ‚Gemeinschaft‘ eine immer wieder neu zu stellende Frage, eine nie gänzlich zu lösende und doch immer weiter bearbeitete Aufgabe darstellt.
Ich verstehe durchaus, woher deine Abneigung gegenüber dem Begriff der ‚Gemeinschaft‘ rührt, Alexander: du meinst sicherlich die ‚organische Gemeinschaft‘ (über die u.a. Jean-Luc Nancy geschrieben hat). Im 19. und 20. Jahrhundert hat dieser Begriff mit seinem Drang zur Auslöschung des Individuums sehr viel Schaden angerichtet und auch mir wird schlecht, wenn ich so konservative Typen wie Simon Strauß auch heute noch von irgendwelchen Sehnsüchten nach einer ‚Gemeinschaft‘ (und nach ‚Verbindlichkeit’ und ‚Identität‘) reden höre, die etwas bietet, das über das Individuum hinausgeht. (Das war doch sicherlich der Bezugspunkt deines letzten Absatzes, oder? Ich habe bei Strauß übrigens gar nicht das Gefühl, dass es ihm wirklich um ‚Gemeinschaft‘ geht, sondern vor allem um männliche Selbstbehauptung.) Aber das sind ja eben sehr reaktionäre Positionen, die in ihrem Denken der Frage der ‚Gemeinschaft‘ in einer längst überkommenen Logik verhaftet bleiben, währen der Diskurs sich mittlerweile grundlegend gewandelt hat. So ließe ‚Gemeinschaft‘ sich eben auch als ein Zusammenschluss denken, in dem das Individuum nicht ausgelöscht wird, sondern überhaupt erst einen Rahmen der Anerkennung für seine Identität findet. Das scheint mir auf ziemlich viele Minderheitengruppierungen zuzutreffen, insbesondere auf die LGBTQI+-Communities, in denen gemeinschaftliche Organisationsformen dem Schutz und gleichzeitig der gesellschaftlichen Sichtbarmachung dienen können. Die ‚Gemeinschaft‘ bekommt hier einen sehr positiven, emanzipativen Wert, weil sie Individualität und Differenz nicht auslöscht, sondern vielmehr einen Raum bietet, in dem diese sich entfalten kann. In Bezug auf die unreflektierte, in Form von normativer Selbstverständlichkeit herrschende ‚Gemeinschaft‘ der ‚Mehrheit‘ liegt hier ein anti-normativer Impetus zugrunde. Wie heißt es schon bei Ibsen im Volksfeind? „Der gefährlichste Feind der Wahrheit und Freiheit bei uns – das ist die kompakte Majorität.“
Danke für Deine Ausführungen Lenna! (Mir fällt bei der Gelegenheit ein, dass du mir Berlin Babylon vor ein paar Jahren zum Geburtstag geschenkt hast. Wie immer ein ausgezeichnetes Geschenk!)
Was Twin Peaks betrifft, würde mich jetzt interessieren, auf welche Immanenz des Lebenssinns ein solches Verlustnarrativ hindeutet. Ich glaube nämlich, dass du recht hast: die Lage ist in der neuen Staffel eindeutig verschärft. Die Stellen, die du nennst, sind dafür exemplarisch: Der wahllos abgegebene Schuss und dann die völlig asoziale Frau, die sich darüber beklagt. (Ich musste an dieser Stelle deiner Ausführungen, Lenna, übrigens an eine Rezension zu Vernon Subutex von Virginie Despentes denken, die ich auf Spiegel Online gelesen habe: http://www.spiegel.de/kultur/literatur/vernon-subutex-von-virginie-despentes-triumph-der-tirade-a-1161150.html „Triumph der Tirade“, genau das ist es doch. Vielleicht hängt das auch alles mit dem amerikanischen Talkshow- und Reality-TV zusammen, das von Lynch hier – im Gegensatz zu den Soap Opera-Elementen insbesondere der ersten Staffel – als Referenz aufgenommen wurde.) Die Szene empfand ich, selbst ohne das Goo-Erbrechen des Kindes, mindestens genauso ‚mysteriös‘ wie die Erkundung des Black-Lodge-Einganges, bei der dem Zeugen der Kopf abgefressen wird. Aber was genau ist da verloren gegangen? Das wird nie sonderlich explizit, oder? In der ersten Twin Peaks-Epoche hatte das ‚Gute‘ noch eine rührend naive Symbolisierung durch die ‚good cops‘ und das FBI als Bollwerk der Zivilität, die darüber hinaus auch von verschiedenen Funktionsträgern aus der Mitte der Gesellschaft von Twin Peaks verkörpert wurde. (Ich denke u.a. an Dr. Hayward, aber auch an die in einem anderen Sinne sehr gütige Norma.) Ganz wichtig war hier außerdem immer: die Liebe. Alle waren in der falschen Beziehung gefangen. Und das Ur-Verbrechen war die Prostitution der Töchter.
Anders gefragt: Gibt es bei Lynch überhaupt die Möglichkeit eines immanenten Lebenssinns, der über das meditative, gütige Subjekt hinausgehen würde? Ich glaube nämlich, dass alle gesellschaftliche Verbindlichkeit, die ja bei Lukács eine Rolle spielt, bei Lynch nur ein Oberflächeneffekt ist, während im Hintergrund manichäische Dämonen den Gut-Böse-Dualismus ausfechten. Und obwohl das total simplizistisch ist und wir alle wissen, dass Lynch ja irgendwie auch ein spiritualistischer Spinner ist, finden wir das trotzdem toll. Da wundere ich mich manchmal (über mich selbst).
Vielleicht führt von hier aus auch ein Weg zur Frage der ‚Gemeinschaft‘, Sidonie. Ich habe nämlich das Gefühl, dass in den letzten Monaten und Jahren gerade von rechter, konservativer Seite massiv identitäre Semantiken aufgefahren wurden, die auf vermeintlich ursprüngliche ‚Gemeinschaften‘ abzielen. (Findet ihr es eigentlich auch immer skurril, dass von rechter Seite behauptet wird, die ‚Linke‘ habe sich in den letzten Jahrzehnten zu sehr auf Identitätspolitik konzentriert, obwohl ja gerade die ‚Rechte‘ schon lange nichts anderes mehr betreibt als genau das: Identitätspolitik, um von ihrer desaströsen Wirtschaftspolitik abzulenken?) Ganz wie bei Tönnies wird die ‚organische Gemeinschaft‘ hier der ‚mechanischen Gesellschaft‘ als ein Wärmenest für das vereinzelte Individuum in der so genannten ‚Postmoderne‘ entgegengestellt: die Nation gegen Europa, ‚Deutsche‘ gegen ‚Ausländer‘, Christen gegen Araber und/oder gegen Juden, usw. usf. In meinen Augen ist das alles reaktionärer Unsinn, ein komplettes Versagen an dem, was Lukács ‚transzendentale Obdachlosigkeit‘ genannt hat (er selbst ist daran ja auch gescheitert und deshalb Kommunist geworden, so wie es Schlegel zum Katholizismus verschlagen hat), was man ja aber auch einfach ‚Freiheit‘ nennen könnte. Zwar nicht im Sinne eines Zustands, der erreicht sei, sondern als historischer Prozess der ‚Befreiung‘ oder zumindest Infragestellung von normativen Wertesystemen. Ohne jegliche Behauptung einer Teleologie ist darin eine Errungenschaft zu erkennen. Auch und gerade in der damit einhergehenden Individualisierung. Wer von einer Sehnsucht nach ‚Gemeinschaft‘ spricht, fällt dahinter zurück und hat sich deshalb in meinen Augen diskreditiert. (Nicht unbedingt als ‚Rechter‘, sondern vor allem als Trottel, der an seiner eigenen Freiheit scheitert.)
Was Twin Peaks betrifft, würde mich jetzt interessieren, auf welche Immanenz des Lebenssinns ein solches Verlustnarrativ hindeutet. Ich glaube nämlich, dass du recht hast: die Lage ist in der neuen Staffel eindeutig verschärft. Die Stellen, die du nennst, sind dafür exemplarisch: Der wahllos abgegebene Schuss und dann die völlig asoziale Frau, die sich darüber beklagt. (Ich musste an dieser Stelle deiner Ausführungen, Lenna, übrigens an eine Rezension zu Vernon Subutex von Virginie Despentes denken, die ich auf Spiegel Online gelesen habe: http://www.spiegel.de/kultur/literatur/vernon-subutex-von-virginie-despentes-triumph-der-tirade-a-1161150.html „Triumph der Tirade“, genau das ist es doch. Vielleicht hängt das auch alles mit dem amerikanischen Talkshow- und Reality-TV zusammen, das von Lynch hier – im Gegensatz zu den Soap Opera-Elementen insbesondere der ersten Staffel – als Referenz aufgenommen wurde.) Die Szene empfand ich, selbst ohne das Goo-Erbrechen des Kindes, mindestens genauso ‚mysteriös‘ wie die Erkundung des Black-Lodge-Einganges, bei der dem Zeugen der Kopf abgefressen wird. Aber was genau ist da verloren gegangen? Das wird nie sonderlich explizit, oder? In der ersten Twin Peaks-Epoche hatte das ‚Gute‘ noch eine rührend naive Symbolisierung durch die ‚good cops‘ und das FBI als Bollwerk der Zivilität, die darüber hinaus auch von verschiedenen Funktionsträgern aus der Mitte der Gesellschaft von Twin Peaks verkörpert wurde. (Ich denke u.a. an Dr. Hayward, aber auch an die in einem anderen Sinne sehr gütige Norma.) Ganz wichtig war hier außerdem immer: die Liebe. Alle waren in der falschen Beziehung gefangen. Und das Ur-Verbrechen war die Prostitution der Töchter.
Anders gefragt: Gibt es bei Lynch überhaupt die Möglichkeit eines immanenten Lebenssinns, der über das meditative, gütige Subjekt hinausgehen würde? Ich glaube nämlich, dass alle gesellschaftliche Verbindlichkeit, die ja bei Lukács eine Rolle spielt, bei Lynch nur ein Oberflächeneffekt ist, während im Hintergrund manichäische Dämonen den Gut-Böse-Dualismus ausfechten. Und obwohl das total simplizistisch ist und wir alle wissen, dass Lynch ja irgendwie auch ein spiritualistischer Spinner ist, finden wir das trotzdem toll. Da wundere ich mich manchmal (über mich selbst).
Vielleicht führt von hier aus auch ein Weg zur Frage der ‚Gemeinschaft‘, Sidonie. Ich habe nämlich das Gefühl, dass in den letzten Monaten und Jahren gerade von rechter, konservativer Seite massiv identitäre Semantiken aufgefahren wurden, die auf vermeintlich ursprüngliche ‚Gemeinschaften‘ abzielen. (Findet ihr es eigentlich auch immer skurril, dass von rechter Seite behauptet wird, die ‚Linke‘ habe sich in den letzten Jahrzehnten zu sehr auf Identitätspolitik konzentriert, obwohl ja gerade die ‚Rechte‘ schon lange nichts anderes mehr betreibt als genau das: Identitätspolitik, um von ihrer desaströsen Wirtschaftspolitik abzulenken?) Ganz wie bei Tönnies wird die ‚organische Gemeinschaft‘ hier der ‚mechanischen Gesellschaft‘ als ein Wärmenest für das vereinzelte Individuum in der so genannten ‚Postmoderne‘ entgegengestellt: die Nation gegen Europa, ‚Deutsche‘ gegen ‚Ausländer‘, Christen gegen Araber und/oder gegen Juden, usw. usf. In meinen Augen ist das alles reaktionärer Unsinn, ein komplettes Versagen an dem, was Lukács ‚transzendentale Obdachlosigkeit‘ genannt hat (er selbst ist daran ja auch gescheitert und deshalb Kommunist geworden, so wie es Schlegel zum Katholizismus verschlagen hat), was man ja aber auch einfach ‚Freiheit‘ nennen könnte. Zwar nicht im Sinne eines Zustands, der erreicht sei, sondern als historischer Prozess der ‚Befreiung‘ oder zumindest Infragestellung von normativen Wertesystemen. Ohne jegliche Behauptung einer Teleologie ist darin eine Errungenschaft zu erkennen. Auch und gerade in der damit einhergehenden Individualisierung. Wer von einer Sehnsucht nach ‚Gemeinschaft‘ spricht, fällt dahinter zurück und hat sich deshalb in meinen Augen diskreditiert. (Nicht unbedingt als ‚Rechter‘, sondern vor allem als Trottel, der an seiner eigenen Freiheit scheitert.)
Endlich habe ich wieder einmal Zeit, mich in das Gespräch einzuklinken. Zu allem werde ich mich an dieser Stelle nicht äußern können, die „Final Frontier“ betreffend muss ich jedoch Stanley Kubricks 2001 erwähnen, den ich vorletzte Woche im Kino gesehen habe. Ich hätte das hier ja gar nicht erwähnt, aber der Gang unserer Unterhaltungen lädt nun einmal dazu ein.
Zum 50. Jubiläum seiner Veröffentlichung hat Christopher Nolan neue Kopien des originalen 70-Milimeter-Filmmaterials anfertigen lassen. Herrlich, ich wünschte, so etwas gäbe es öfter! Nun, Kubrick bearbeitet die Frage nach der Frontier – selbst als ein Pionier der Filmproduktion – auf eine Weise, die die kinematographische Form selbst an ihre Grenzen führt. Vielleicht ist 2001 nicht mal ein besonders ‚guter‘ Film, weil er seine Form wirklich überfordert. Ich finde, er ist gerade deswegen ein besonders guter Film, aber das sind Gedanken, die zu verallgemeinern ich Alexander überlasse.… Nun gut, nachdem im mittleren Akt des Filmes ein Queste-Plot überstanden und der, wie Lotman sagt, ‚bewegliche‘ Held die Grenze zu einem neuen Raum überschreitet, legt der Film genau diese Kategorie ab: Räumlichkeit wird in einem grandiosen Bilderrausch aufgehoben. Mit anderen Mitteln wird auch Zeitlichkeit von Linearität auf Zirkularität umgestellt und auf diese Weise die Kategorien von Extension und Begrenzung negiert.
Kubrick behandelt das Problem der Grenze und ihrer Überschreitung zum Ende seines Films als philosophisches: Gefragt wird nicht mehr nach Raum und Zeit als Koordinaten der menschlichen Entdeckungs- und Eroberungslust, sondern als Kategorien des Bewusstseins – siehe Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. Die letzte Grenze, die der Queste-Held überschreitet, ist die der menschlichen Anschauungsformen und er wird zirkulär an den Ausgangsort seiner Reise zurückversetzt: Als Embryo beobachtet er nun die Erde von ihrem Orbit aus und wir müssen annehmen, dass er dort nichts anderes als sich selbst sieht bzw. die menschliche Gattung insgesamt, die in ihrem ziellosen, gewalttätigen Streben in einem Zirkel der ewigen Wiederkehr gefangen ist. 2001 ist visuell und konzeptuell ein unfassbar progressiver Film und dabei derart pessimistisch in seiner Aussage. Das hat mir richtiggehend die Augen geöffnet über ein künstlerisches Hauptproblem unserer Epoche: Ihr fehlt es an ästhetischem Pessimismus!
Eine Bemerkung möchte ich an dieser Stelle noch zu Bad Banks loswerden: mir kam diese Serie ästhetisch etwas überambitioniert vor, als wolle dort jemand unbedingt beweisen, dass ‚man‘ ‚so etwas‘ in ‚Deutschland‘ auch kann – vergleichbar mit dem, was Du, Lenna, über die gesuchte Handlungskomplexität bei Dark schreibst. Auch Deiner Bemerkung darüber, dass das fast vollständige Ausbleiben unnötiger Erklärung in Bad Banks im Kontext einer öffentlich-rechtlichen Produktion eine erstaunenswerte Wohltat ist, stimme ich Dir zu. Ich denke dabei vor allem an die Szene, in der Jana und Thao in einem Nachtclub mit zwei wildfremden Männern bei eindeutig sexuellen Handlungen zu sehen sind. Normalweise würde hier ein psychologisierender Dialog nach dem Motto „bei all dem Druck auf der Arbeit muss man irgendwann einfach mal Dampf ablassen“ folgen, dabei versteht man das ja auch so, das fand ich gut.
Zum 50. Jubiläum seiner Veröffentlichung hat Christopher Nolan neue Kopien des originalen 70-Milimeter-Filmmaterials anfertigen lassen. Herrlich, ich wünschte, so etwas gäbe es öfter! Nun, Kubrick bearbeitet die Frage nach der Frontier – selbst als ein Pionier der Filmproduktion – auf eine Weise, die die kinematographische Form selbst an ihre Grenzen führt. Vielleicht ist 2001 nicht mal ein besonders ‚guter‘ Film, weil er seine Form wirklich überfordert. Ich finde, er ist gerade deswegen ein besonders guter Film, aber das sind Gedanken, die zu verallgemeinern ich Alexander überlasse.… Nun gut, nachdem im mittleren Akt des Filmes ein Queste-Plot überstanden und der, wie Lotman sagt, ‚bewegliche‘ Held die Grenze zu einem neuen Raum überschreitet, legt der Film genau diese Kategorie ab: Räumlichkeit wird in einem grandiosen Bilderrausch aufgehoben. Mit anderen Mitteln wird auch Zeitlichkeit von Linearität auf Zirkularität umgestellt und auf diese Weise die Kategorien von Extension und Begrenzung negiert.
Kubrick behandelt das Problem der Grenze und ihrer Überschreitung zum Ende seines Films als philosophisches: Gefragt wird nicht mehr nach Raum und Zeit als Koordinaten der menschlichen Entdeckungs- und Eroberungslust, sondern als Kategorien des Bewusstseins – siehe Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. Die letzte Grenze, die der Queste-Held überschreitet, ist die der menschlichen Anschauungsformen und er wird zirkulär an den Ausgangsort seiner Reise zurückversetzt: Als Embryo beobachtet er nun die Erde von ihrem Orbit aus und wir müssen annehmen, dass er dort nichts anderes als sich selbst sieht bzw. die menschliche Gattung insgesamt, die in ihrem ziellosen, gewalttätigen Streben in einem Zirkel der ewigen Wiederkehr gefangen ist. 2001 ist visuell und konzeptuell ein unfassbar progressiver Film und dabei derart pessimistisch in seiner Aussage. Das hat mir richtiggehend die Augen geöffnet über ein künstlerisches Hauptproblem unserer Epoche: Ihr fehlt es an ästhetischem Pessimismus!
Eine Bemerkung möchte ich an dieser Stelle noch zu Bad Banks loswerden: mir kam diese Serie ästhetisch etwas überambitioniert vor, als wolle dort jemand unbedingt beweisen, dass ‚man‘ ‚so etwas‘ in ‚Deutschland‘ auch kann – vergleichbar mit dem, was Du, Lenna, über die gesuchte Handlungskomplexität bei Dark schreibst. Auch Deiner Bemerkung darüber, dass das fast vollständige Ausbleiben unnötiger Erklärung in Bad Banks im Kontext einer öffentlich-rechtlichen Produktion eine erstaunenswerte Wohltat ist, stimme ich Dir zu. Ich denke dabei vor allem an die Szene, in der Jana und Thao in einem Nachtclub mit zwei wildfremden Männern bei eindeutig sexuellen Handlungen zu sehen sind. Normalweise würde hier ein psychologisierender Dialog nach dem Motto „bei all dem Druck auf der Arbeit muss man irgendwann einfach mal Dampf ablassen“ folgen, dabei versteht man das ja auch so, das fand ich gut.
PS: Ich sehe schon, dass ich den ganzen Sommer alleine in Berlin verbringen werde. Eder wurde auf eine Konferenz nach Cambridge (USA) eingeladen und bleibt dann noch gleich für zwei Wochen dort, deshalb müssen wir unsere gemeinsamen Reisepläne auf den Winter oder das nächste Frühjahr verschieben. (Story of my life.)
Ach Sidonie, nun habe ich ein schönes Bild von dir vor Augen, auf dem du am Steuer eines kleinen U-Boots sitzt und den Meeresgrund nach Cooper absuchst – allerdings nach Dale und nicht nach Dan. Was letzteren betrifft würde ich sagen, dass du ihm in deiner Analyse ja schon sehr gut auf die Schliche gekommen bist! (Auch ohne U-Boot.)
Bad Banks habe ich erst mit einiger Verspätung gesehen, da meine Aufmerksamkeit zunächst von Babylon Berlin (Alex, du hast den Titel mit Berlin Babylon verwechselt, das ist ein grandioser Dokumentarfilm über die Architekten des Potsdamer Platzes mit toller Musik von den Einstürzenden Neubauten) überlagert wurde, das damals leider (zu Unrecht) alle mediale Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte. Bad Banks hat mir dann tatsächlich großen Spaß gemacht: die schnelle Erzählweise, die Bildkomposition, usw. Allein diese Daueruntermalung aller Szenen mit generisch atmosphärischer Filmmusik war mir eindeutig zu penetrant. Irgendwo habe ich die reichlich vertrottelte Kritik gelesen, die Serie erkläre gar nicht ausreichend, wie die Finanzwelt nun tatsächlich funktioniert, mir persönlich hat es aber vollkommen ausgereicht, dass hier anhand dieser ganzen tollen Figuren mit ihrem Eurozone-Business-Denglisch (allen voran natürlich Manuel Fenger, what a guy!) von der Crazyness der Finanzwelt erzählt wird. Wer mehr Erklärungen möchte, kann ja zum Beispiel The Big Short von Adam McKay gucken. Für eine deutsche Produktion ist es zur Abwechslung gerade bemerkenswert, dass endlich einmal nicht alles kaputterklärt wird. (Auch wenn ich persönlich mit diesem – wiederum sehr deutschen – Minderwertigkeitskomplex à la „endlich mal eine gute deutsche Serie“ herzlich wenig anfangen kann. Aber auch das ist an Bad Banks ja wieder angenehm: dass es eine internationale, mehrsprachige, eher europäische als deutsche Serie ist.)
Was deine Frage zur Erträglichkeit von „Mystery“ bei Twin Peaks angeht, Alex, habe ich keine direkte Antwort. Von den Serien, die du zum Vergleich genannt hast, kenne ich ehrlich gesagt auch nur Dark. Der Unterschied mag nun vor allem darin liegen, dass das Mysterie-Element dort doch vor allem der arg gewollten Konstruktion einer „Komplexität“ der Erzählung dient, die, um heutigen Großambitionen zu genügen, gleich auf drei Zeitebenen spielen muss, zwischen denen einzelne Figuren hin- und herreisen. Bei Twin Peaks hingegen verhandeln diese Elemente immer auch sowohl individuelle als auch kollektive, psychische und gesellschaftliche Zustände, Ängste und Visionen. Eines der Grundmotive in Lynchs Werk ist ja die unterdrückte, vielleicht als phantasmagorisch zu bezeichnende Unter- oder Kehrseite der bürgerlichen Welt: die Idylle, in der sich ein Riss ausbreitet. Gerade den Übergang von der zweiten Staffel zu Twin Peaks: The Return habe ich in dieser Hinsicht so verstanden, dass mit dem Eintritt Coopers in die „Black Lodge“ jegliche Hoffnung auf eine „Immanenz des Lebenssinns“ verloren gegangen ist. Dieser endgültige Eintritt in einen Zustand der „transzendentalen Obdachlosigkeit“ (ich habe gerade für ein Seminar noch einmal Die Theorie des Romans von Georg Lukács gelesen, immer wieder toll!), die in dieser Staffel ja regelrecht ausgestellt wird, hat auf sowohl inhaltlicher als auch auf formaler Ebene weitreichende Folgen. Ich will das gerade nur an einigen wenigen Beobachtungen festmachen. Mir ist zum Beispiel aufgefallen, dass The Return immer wieder Motive des sozialen Abstiegs aufnimmt. Von einfachen Lebensverhältnissen, ja sogar Armut wussten auch die alten Staffeln, allerdings zumeist verbunden mit einer Haltung der Menschlichkeit und Würde. In der neuen Staffel findet diese sich zwar auch noch (vor allem in der von Harry Dean Stanton gespielten Figur), dennoch werden hier vermehrt Junkies, Verwahrlosung, Einsamkeit und Elend usw. gezeigt. Eine zweite Beobachtung läge darin, dass viele Figuren es nicht mehr schaffen, sich in Gesprächen miteinander auszutauschen. Sehr zäh lässt sich das an Audrey Horne und ihrem Mann beobachten, ich denke aber auch an die Frau von Sherrif Truman, die immer nur auftritt, um in einem nicht zu stoppenden Monolog ihren Lebenstext aufzusagen, vor allem aber an die „roadrage“ Frau, die hupend in ihrem Auto sitzt und wie in einer Nachmittagstalkshow Bobby Briggs ihre Privatmisere ins Gesicht brüllt, bis dem Kind auf dem Beifahrersitz in einer Art epileptischem Anfall genau der Schleim aus dem Mund läuft, der sich gerade noch verbal aus der schreienden Frau ergossen hatte. Darin, dass das soziale Miteinander hier als nachhaltig beschädigt dargestellt wird, würde ich durchaus eine zeitdiagnostische Ebene sehen. Formal mobilisiert die „transzendentale Obdachlosigkeit“ umgekehrt zumindest bei mir ein starkes Gefühl der Freiheit. Dadurch, dass es keine starke, narrative Integration der einzelnen Szenen in einen übergreifenden Plot gibt und ich oft das Gefühl hatte, einigen Szenen mit oft anonymen Nebenfiguren eher zufällig beizuwohnen, konnte ich mich zur Darstellung immer in einer Verhältnis der distanzierten Beobachterin setzen (ungefähr so, wie Brecht sich das für das epische Theater gedacht hat): ohne mich sofort fälschlicherweise mit irgendwem identifizieren zu „müssen“ oder „sollen“, konnte ich mir so in jedem Moment ganz bewusst die Frage stellen, wie ich mich zum Gezeigten verhalte. Das hat mir wirklich gefallen und jedes Mal, wenn eine Folge zu Ende war, bin ich richtig traurig geworden, nun eine ganze Woche auf die nächste Folge warten zu müssen: es hätte für immer so weitergehen können. (Ich bin beim Schreiben etwas von deiner Frage abgekommen, werde aber noch einmal weiter darüber nachdenken.)
Bad Banks habe ich erst mit einiger Verspätung gesehen, da meine Aufmerksamkeit zunächst von Babylon Berlin (Alex, du hast den Titel mit Berlin Babylon verwechselt, das ist ein grandioser Dokumentarfilm über die Architekten des Potsdamer Platzes mit toller Musik von den Einstürzenden Neubauten) überlagert wurde, das damals leider (zu Unrecht) alle mediale Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte. Bad Banks hat mir dann tatsächlich großen Spaß gemacht: die schnelle Erzählweise, die Bildkomposition, usw. Allein diese Daueruntermalung aller Szenen mit generisch atmosphärischer Filmmusik war mir eindeutig zu penetrant. Irgendwo habe ich die reichlich vertrottelte Kritik gelesen, die Serie erkläre gar nicht ausreichend, wie die Finanzwelt nun tatsächlich funktioniert, mir persönlich hat es aber vollkommen ausgereicht, dass hier anhand dieser ganzen tollen Figuren mit ihrem Eurozone-Business-Denglisch (allen voran natürlich Manuel Fenger, what a guy!) von der Crazyness der Finanzwelt erzählt wird. Wer mehr Erklärungen möchte, kann ja zum Beispiel The Big Short von Adam McKay gucken. Für eine deutsche Produktion ist es zur Abwechslung gerade bemerkenswert, dass endlich einmal nicht alles kaputterklärt wird. (Auch wenn ich persönlich mit diesem – wiederum sehr deutschen – Minderwertigkeitskomplex à la „endlich mal eine gute deutsche Serie“ herzlich wenig anfangen kann. Aber auch das ist an Bad Banks ja wieder angenehm: dass es eine internationale, mehrsprachige, eher europäische als deutsche Serie ist.)
Was deine Frage zur Erträglichkeit von „Mystery“ bei Twin Peaks angeht, Alex, habe ich keine direkte Antwort. Von den Serien, die du zum Vergleich genannt hast, kenne ich ehrlich gesagt auch nur Dark. Der Unterschied mag nun vor allem darin liegen, dass das Mysterie-Element dort doch vor allem der arg gewollten Konstruktion einer „Komplexität“ der Erzählung dient, die, um heutigen Großambitionen zu genügen, gleich auf drei Zeitebenen spielen muss, zwischen denen einzelne Figuren hin- und herreisen. Bei Twin Peaks hingegen verhandeln diese Elemente immer auch sowohl individuelle als auch kollektive, psychische und gesellschaftliche Zustände, Ängste und Visionen. Eines der Grundmotive in Lynchs Werk ist ja die unterdrückte, vielleicht als phantasmagorisch zu bezeichnende Unter- oder Kehrseite der bürgerlichen Welt: die Idylle, in der sich ein Riss ausbreitet. Gerade den Übergang von der zweiten Staffel zu Twin Peaks: The Return habe ich in dieser Hinsicht so verstanden, dass mit dem Eintritt Coopers in die „Black Lodge“ jegliche Hoffnung auf eine „Immanenz des Lebenssinns“ verloren gegangen ist. Dieser endgültige Eintritt in einen Zustand der „transzendentalen Obdachlosigkeit“ (ich habe gerade für ein Seminar noch einmal Die Theorie des Romans von Georg Lukács gelesen, immer wieder toll!), die in dieser Staffel ja regelrecht ausgestellt wird, hat auf sowohl inhaltlicher als auch auf formaler Ebene weitreichende Folgen. Ich will das gerade nur an einigen wenigen Beobachtungen festmachen. Mir ist zum Beispiel aufgefallen, dass The Return immer wieder Motive des sozialen Abstiegs aufnimmt. Von einfachen Lebensverhältnissen, ja sogar Armut wussten auch die alten Staffeln, allerdings zumeist verbunden mit einer Haltung der Menschlichkeit und Würde. In der neuen Staffel findet diese sich zwar auch noch (vor allem in der von Harry Dean Stanton gespielten Figur), dennoch werden hier vermehrt Junkies, Verwahrlosung, Einsamkeit und Elend usw. gezeigt. Eine zweite Beobachtung läge darin, dass viele Figuren es nicht mehr schaffen, sich in Gesprächen miteinander auszutauschen. Sehr zäh lässt sich das an Audrey Horne und ihrem Mann beobachten, ich denke aber auch an die Frau von Sherrif Truman, die immer nur auftritt, um in einem nicht zu stoppenden Monolog ihren Lebenstext aufzusagen, vor allem aber an die „roadrage“ Frau, die hupend in ihrem Auto sitzt und wie in einer Nachmittagstalkshow Bobby Briggs ihre Privatmisere ins Gesicht brüllt, bis dem Kind auf dem Beifahrersitz in einer Art epileptischem Anfall genau der Schleim aus dem Mund läuft, der sich gerade noch verbal aus der schreienden Frau ergossen hatte. Darin, dass das soziale Miteinander hier als nachhaltig beschädigt dargestellt wird, würde ich durchaus eine zeitdiagnostische Ebene sehen. Formal mobilisiert die „transzendentale Obdachlosigkeit“ umgekehrt zumindest bei mir ein starkes Gefühl der Freiheit. Dadurch, dass es keine starke, narrative Integration der einzelnen Szenen in einen übergreifenden Plot gibt und ich oft das Gefühl hatte, einigen Szenen mit oft anonymen Nebenfiguren eher zufällig beizuwohnen, konnte ich mich zur Darstellung immer in einer Verhältnis der distanzierten Beobachterin setzen (ungefähr so, wie Brecht sich das für das epische Theater gedacht hat): ohne mich sofort fälschlicherweise mit irgendwem identifizieren zu „müssen“ oder „sollen“, konnte ich mir so in jedem Moment ganz bewusst die Frage stellen, wie ich mich zum Gezeigten verhalte. Das hat mir wirklich gefallen und jedes Mal, wenn eine Folge zu Ende war, bin ich richtig traurig geworden, nun eine ganze Woche auf die nächste Folge warten zu müssen: es hätte für immer so weitergehen können. (Ich bin beim Schreiben etwas von deiner Frage abgekommen, werde aber noch einmal weiter darüber nachdenken.)
Jetzt endlich zurück zu Cooper. Die Kultursemiotik der Grenze betrifft der Cooper-Fall nur indirekt. Es handelt sich dabei durchaus auch um eine Art Liebhaberprojekt, deshalb wird es jetzt vielleicht auch wirklich etwas nerdy: Cooper hinterließ also seine Krawatte, ein paar Fingerabdrücke und ansonsten keine Spur. Das FBI ermittelt seit einigen Jahren nicht mehr aktiv in dem Fall, dafür hat sich aber um den Paläontologen Tom Kaye ein Netzwerk veritabler Nerds gebildet, die den Fall weiter ausforschen. Sie konnten z. B. auf Coopers Krawatte DNA-Material sicherstellen (von dem man allerdings nicht sagen kann, ob es tatsächlich von ihm stammt) und Spuren von Titan und seltenen Erden. Diese fanden in den 1970er Jahren angeblich allein im Flugzeugbau Verwendung, weshalb man zu der Annahme kam, Cooper habe bei Boeing gearbeitet.
Eine weitere Spur ist der Alias, den er sich gab: Dan Cooper ist eigentlich ein fiktiver Testpilot, der sich unter anderem auch durch waghalsige Fallschirmsprünge auszeichnet. Es handelt sich dabei um eine Figur aus einem belgischen Comic, was Anlass zu der Vermutung gab, Cooper sei (vielleicht als Armee-Angehöriger) in Europa gewesen. Die Cooper-Comics gab es angeblich aber auch in Kanada, was ja von Seattle aus nicht weit entfernt liegt. Vielleicht kam Cooper also von… tja, jenseits der Grenze?
2011 ging eine mittlerweile erwachsene Frau mit der Behauptung an die Öffentlichkeit, sie habe als achtjähriges Mädchen ihren bereits verstorbenen Onkel, L. D. Cooper, an jenem Erntedank-Wochenende 1971 dabei beobachtet, die Köpfe mit einem anderen Onkel konspirativ zusammenzustecken. Später sei er mit Blessuren und einem blutigen T-Shirt nach Hause gekommen, auch sei er Fan der unwahrscheinlichen Comicserie aus Belgien gewesen. Nachgewiesen werden konnte wie immer nichts. Es gibt etliche solcher Denunziationen und Wichtigtuereien. Beim FBI sind zahllose Hinweise eingegangen über Leute, die urplötzlich zu Geld gekommen waren und Coopers Phantombild entfernt ähnelten. Das Buch des führenden FBI-Ermittlers, Ralph P. Himmelsbach, erwähnt mehrere solcher Hinweise (selbst vonseiten erfahrener Cops), denen er pflichtbewusst nachging: immer ins Leere. Himmelsbach kann man auf YouTube auch in einigen TV-Mitschnitten sehen. Während die Lösung des Falles immer unwahrscheinlicher wurde, hat er sich anscheinend eine neue Mission erteilt. So kämpft er mittlerweile gegen die öffentliche Heroisierung Coopers zu einem gewieften Verbrecher „that beat the system“ und versucht dagegen bei jeder Gelegenheit, aus seinem Täterprofil die Charakterisierung eines „rotten, sleazy crook“ herzuleiten. Himmelsbach sieht hier einen kriminell vorbelasteten Täter am Werk, den wohl die Verzweiflung zu einer Aktion trieb, die genauso waghalsig wie unbeholfen war: Die fehlende Schutzkleidung, der Ausstieg bei Dunkelheit und Sturm, die unerklärliche Wahl zweier minderwertiger Fallschirme, all dies spreche gegen eine Glorifizierung Coopers.
Die Vermutung, Cooper habe den Sprung nicht überlebt, liegt nahe. Man hat große Waldgebiete auf der Suche nach seinem Fallschirm überflogen: vergeblich. (Vielleicht, weil er ihn überhaupt nie hatte öffnen können.) Allerdings konnte Cooper später auch nie über Vermisstenanzeigen identifiziert werden, was entweder dafür spricht, dass er den Sprung doch überlebt hat und Montag wieder zur Arbeit ging, oder dass er auch in den übrigen Belangen seines Lebens ein Phantom gewesen ist. Der Absprungbereich kann nur grob geschätzt werden und die Gegend ist ein schwer zugängliches und sehr dichtes Waldgebiet. Eine groß angelegte Suchaktion ließ von Cooper keine Spur finden. Daraus folgt aber keineswegs, dass seine Leiche nicht doch irgendwo zwischen Seattle und Portland zu Staub zerfallen ist. (Auszuschließen ist wohl einzig der Grund des Merwin-Stausees, den ein findiger Schatzsucher mit einem eigenen kleinen U-Boot absuchte. Er war anscheinend derart besessen von seiner die Absturzstelle betreffenden Theorie, dass er den immensen Aufwand an Geld und Zeit aus eigenen Mitteln bestritt.)
1980 wurden beim Ausgraben einer Feuerstelle von einem Jungen einige Bündel aus Coopers Lösegeld gefunden. Sie waren stark verrottet, konnten aber durch die Seriennummern eindeutig zugeordnet werden. Die Fundstelle an der Tina-Bar, einer beliebten Angelstelle am Columbia-River, ließ zuletzt darauf schließen, dass der frühere Suchbereich nicht zutreffend kalkuliert worden war. Die oberhalb der Fundstelle liegenden Zuflüsse des Columbia, die das Geld einzig hatten anschwämmen können, führen in ein anderes Gebiet, das nie genau abgesucht worden war. Bald zehn Jahre nach Coopers Verschwinden wurde keine koordinierte Suchaktion mehr anberaumt.
Über die bloßen Tatbestände seines Verschwindens geht die kulturelle Signifikanz der Figur weit hinaus. Für viele ist Coopers Sprung ein Sprung ins Ungewisse und damit ein unwiderstehlich starker Anziehungspunkt für die eigene Einbildungskraft. Die plausiblen, dämpfenden Einschätzungen zu Coopers Charakter und seinen Überlebenschancen stoßen bei mir immer auf einen emotionalen Widerstand. Etwas in mir wünscht sich, dass der Cooper-Sprung gelungen ist. Wenn auch nur, damit man ihm vielleicht später doch noch auf die Schliche kommen kann. Und sei es in Gestalt Dale Bartholomew Coopers, der dann ja ganz à la Lynch die komplementäre Figur des ihn verfolgenden FBI-Agenten eingenommen hätte. (Und der dann ja eine andere Grenze überschreiten wird, nämlich diejenige zur „Black Lodge“. Auch Dale Cooper ist eine Figur, die verschwindet.)
Ich glaube, die Attraktion eines solchen Grenzgängers ist in erster Linie eine ästhetische. Neugier paart sich mit produktiver Einbildungskraft und jede, die sich mit dem Stoff beschäftigt, erfindet dabei ihre eigenen Geschichten. Ohne diese poetische Erfindungslust, die sich vom Unbekannten angezogen fühlt, wäre der Grenze bestimmt keine solche mythische Valenz zu eigen. Die Ambivalenz dieser emotionalen Involvierung liegt logischerweise in ihrer Tendenz zur Selbstaufhebung. Die Grenze, hinter der das Unbekannte liegt, ist zum Überschreiten da. Und Cooper ist hoffentlich davongekommen, damit man ihn finden kann. Solange (also: für immer) bleibt er ein Mythos und für meine Hausarbeit relevant.
Eine weitere Spur ist der Alias, den er sich gab: Dan Cooper ist eigentlich ein fiktiver Testpilot, der sich unter anderem auch durch waghalsige Fallschirmsprünge auszeichnet. Es handelt sich dabei um eine Figur aus einem belgischen Comic, was Anlass zu der Vermutung gab, Cooper sei (vielleicht als Armee-Angehöriger) in Europa gewesen. Die Cooper-Comics gab es angeblich aber auch in Kanada, was ja von Seattle aus nicht weit entfernt liegt. Vielleicht kam Cooper also von… tja, jenseits der Grenze?
2011 ging eine mittlerweile erwachsene Frau mit der Behauptung an die Öffentlichkeit, sie habe als achtjähriges Mädchen ihren bereits verstorbenen Onkel, L. D. Cooper, an jenem Erntedank-Wochenende 1971 dabei beobachtet, die Köpfe mit einem anderen Onkel konspirativ zusammenzustecken. Später sei er mit Blessuren und einem blutigen T-Shirt nach Hause gekommen, auch sei er Fan der unwahrscheinlichen Comicserie aus Belgien gewesen. Nachgewiesen werden konnte wie immer nichts. Es gibt etliche solcher Denunziationen und Wichtigtuereien. Beim FBI sind zahllose Hinweise eingegangen über Leute, die urplötzlich zu Geld gekommen waren und Coopers Phantombild entfernt ähnelten. Das Buch des führenden FBI-Ermittlers, Ralph P. Himmelsbach, erwähnt mehrere solcher Hinweise (selbst vonseiten erfahrener Cops), denen er pflichtbewusst nachging: immer ins Leere. Himmelsbach kann man auf YouTube auch in einigen TV-Mitschnitten sehen. Während die Lösung des Falles immer unwahrscheinlicher wurde, hat er sich anscheinend eine neue Mission erteilt. So kämpft er mittlerweile gegen die öffentliche Heroisierung Coopers zu einem gewieften Verbrecher „that beat the system“ und versucht dagegen bei jeder Gelegenheit, aus seinem Täterprofil die Charakterisierung eines „rotten, sleazy crook“ herzuleiten. Himmelsbach sieht hier einen kriminell vorbelasteten Täter am Werk, den wohl die Verzweiflung zu einer Aktion trieb, die genauso waghalsig wie unbeholfen war: Die fehlende Schutzkleidung, der Ausstieg bei Dunkelheit und Sturm, die unerklärliche Wahl zweier minderwertiger Fallschirme, all dies spreche gegen eine Glorifizierung Coopers.
Die Vermutung, Cooper habe den Sprung nicht überlebt, liegt nahe. Man hat große Waldgebiete auf der Suche nach seinem Fallschirm überflogen: vergeblich. (Vielleicht, weil er ihn überhaupt nie hatte öffnen können.) Allerdings konnte Cooper später auch nie über Vermisstenanzeigen identifiziert werden, was entweder dafür spricht, dass er den Sprung doch überlebt hat und Montag wieder zur Arbeit ging, oder dass er auch in den übrigen Belangen seines Lebens ein Phantom gewesen ist. Der Absprungbereich kann nur grob geschätzt werden und die Gegend ist ein schwer zugängliches und sehr dichtes Waldgebiet. Eine groß angelegte Suchaktion ließ von Cooper keine Spur finden. Daraus folgt aber keineswegs, dass seine Leiche nicht doch irgendwo zwischen Seattle und Portland zu Staub zerfallen ist. (Auszuschließen ist wohl einzig der Grund des Merwin-Stausees, den ein findiger Schatzsucher mit einem eigenen kleinen U-Boot absuchte. Er war anscheinend derart besessen von seiner die Absturzstelle betreffenden Theorie, dass er den immensen Aufwand an Geld und Zeit aus eigenen Mitteln bestritt.)
1980 wurden beim Ausgraben einer Feuerstelle von einem Jungen einige Bündel aus Coopers Lösegeld gefunden. Sie waren stark verrottet, konnten aber durch die Seriennummern eindeutig zugeordnet werden. Die Fundstelle an der Tina-Bar, einer beliebten Angelstelle am Columbia-River, ließ zuletzt darauf schließen, dass der frühere Suchbereich nicht zutreffend kalkuliert worden war. Die oberhalb der Fundstelle liegenden Zuflüsse des Columbia, die das Geld einzig hatten anschwämmen können, führen in ein anderes Gebiet, das nie genau abgesucht worden war. Bald zehn Jahre nach Coopers Verschwinden wurde keine koordinierte Suchaktion mehr anberaumt.
Über die bloßen Tatbestände seines Verschwindens geht die kulturelle Signifikanz der Figur weit hinaus. Für viele ist Coopers Sprung ein Sprung ins Ungewisse und damit ein unwiderstehlich starker Anziehungspunkt für die eigene Einbildungskraft. Die plausiblen, dämpfenden Einschätzungen zu Coopers Charakter und seinen Überlebenschancen stoßen bei mir immer auf einen emotionalen Widerstand. Etwas in mir wünscht sich, dass der Cooper-Sprung gelungen ist. Wenn auch nur, damit man ihm vielleicht später doch noch auf die Schliche kommen kann. Und sei es in Gestalt Dale Bartholomew Coopers, der dann ja ganz à la Lynch die komplementäre Figur des ihn verfolgenden FBI-Agenten eingenommen hätte. (Und der dann ja eine andere Grenze überschreiten wird, nämlich diejenige zur „Black Lodge“. Auch Dale Cooper ist eine Figur, die verschwindet.)
Ich glaube, die Attraktion eines solchen Grenzgängers ist in erster Linie eine ästhetische. Neugier paart sich mit produktiver Einbildungskraft und jede, die sich mit dem Stoff beschäftigt, erfindet dabei ihre eigenen Geschichten. Ohne diese poetische Erfindungslust, die sich vom Unbekannten angezogen fühlt, wäre der Grenze bestimmt keine solche mythische Valenz zu eigen. Die Ambivalenz dieser emotionalen Involvierung liegt logischerweise in ihrer Tendenz zur Selbstaufhebung. Die Grenze, hinter der das Unbekannte liegt, ist zum Überschreiten da. Und Cooper ist hoffentlich davongekommen, damit man ihn finden kann. Solange (also: für immer) bleibt er ein Mythos und für meine Hausarbeit relevant.
Nun, Lenna, was die Frage der politischen Motivation meiner Auseinandersetzung mit dem Thema der „Grenze“ anbelangt, würde ich zunächst einmal ganz allgemein sagen, dass es doch zur Bemühung jeglichen Verständnisses von politischen, sozialen und/oder literarischen Gegenwartsprozessen unabdingbar einer Aufmerksamkeit für die historischen Tiefendimensionen bedarf, aus denen diese Hervorgehen oder auf die sie verweisen. Das betrifft zum Beispiel semantische Evolutionen und den Wandel ideologischer Traditionen.
Meine Auseinandersetzung mit der „Frontier“ ist sicherlich insofern politisch motiviert, als ich angesichts der aktuellen, politischen Entwicklung in den U.S.A. versuche, mir etwas mehr Klarheit über den Bruch innerhalb eines spezifischen, kollektiven Selbstbildes zu verschaffen, das mir für die Vereinigten Staaten immer grundlegend schien: nämlich über den Bruch im Mythos der U.S.A. als Einwanderungsland, als „land of the free“, in dem jeder werden kann, wer er sein möchte. Die Frontier scheint mir in dieser Hinsicht dadurch besonders interessant, dass sie als „Grenze“ ja primär nicht als eine Abgrenzung von, sondern vielmehr eine Grenze hin zu verstanden wurde: als Öffnung hin zu ‚opportunity‘ und Selbstverwirklichung – und genau diese Dimension scheint endgültig verloren. (Vielleicht ist sie auch schon früher verloren gegangen, hat ihre Wirkung längst eingebüßt und erst jetzt manifestiert sich auf politischer Ebene dieser seit spätestens 9/11 vollzogener Bruch im Selbstbild der U.S.A. Davon erzählt doch auch die Serie Homeland, nicht wahr?)
Nun gut, das ist also meine Motivation. Dennoch halte ich es nicht für zwingend nötig, die politische Großwetterlage explizit zum Ausgangspunkt einer kleinen Hausarbeit über Mad Men zu machen. (Kann man machen, wäre mir aber zu eitel.) Das Wissen, das ich daraus ziehe, werde ich vielleicht an anderer Stelle einmal öffentlich einbringen können, damit auch andere davon profitieren, das wäre meine Hoffnung. (Falls ihr mal über eine gute Aktion lesen wollt, die aus geisteswissenschaftlichem Wissen hervorgehen kann, empfehle ich euch diesen Artikel: http://www.deutschlandfunkkultur.de/buendnis-fuer-kreuzvielfalt-an-bayerischen-hochschulen-das.2156.de.html?dram:article_id=419331 Über die politische Wirksamkeit braucht man sich auch hier keine Illusionen machen, trotzdem super!) Bis dahin tausche ich mich einfach weiter mit euch aus, das ist mir auch immer ein riesiger Gewinn! Zum Beispiel fand ich es sehr interessant, anhand eurer Ausführungen zu Manon Lescaut noch einmal ganz klar zu sehen, dass auch der Go-West-Mythos eine Geschichte hat, dass nämlich New Orleans unter französischer Leitung nicht als Ort der Selbstverwirklichung, sondern als Strafkolonie geführt wurde (ganz ähnlich der Funktion, in der die Engländer Australien benutzt haben). Danke für diese Einsicht!
Alexander, du wirst dich mit Blick auf die Fortsetzung der Geschichte noch ein wenig gedulden müssen, ich komme hoffentlich morgen dazu, dir darauf zu antworten! Bis dahin muss ich noch ein paar kurze Kommentare loswerden: Hat etwa keiner von euch Bad Banks gesehen? „Natur ist das asozialste System, das es gibt. Dagegen ist Kapitalismus die Wohlfahrt.“ Jana Liekam ist die Beste (mit ganz großem B), so toll! (Bald hoffentlich mehr dazu!) Mit deinen Urlaubsplänen kann ich dir leider nicht helfen, Lenna, ich werde für drei Wochen auf einen Sprachkurs nach La Rochelle fahren und hinterher direkt weiter auf eine Sommerakademie („Jenseits der Fiktion? Autobiographie und Autofiktion in der europäischen Gegenwartsliteratur“). Vielleicht komme ich dich ja aber danach mal wieder für ein paar Tage in Berlin besuchen, bevor mein Umzug ansteht! Ach, und Alexander! Ich habe das Wort „unzynisch“ eher illustrativ benutzt und hatte keine Verallgemeinerung auf „das Verhältnis von Zynismus und Gemeinschaft“ beabsichtigt. Da dich dieses Thema ja aber irgendwie anzusprechen scheint, bin ich gespannt, was du noch dazu zu sagen hast.
Meine Auseinandersetzung mit der „Frontier“ ist sicherlich insofern politisch motiviert, als ich angesichts der aktuellen, politischen Entwicklung in den U.S.A. versuche, mir etwas mehr Klarheit über den Bruch innerhalb eines spezifischen, kollektiven Selbstbildes zu verschaffen, das mir für die Vereinigten Staaten immer grundlegend schien: nämlich über den Bruch im Mythos der U.S.A. als Einwanderungsland, als „land of the free“, in dem jeder werden kann, wer er sein möchte. Die Frontier scheint mir in dieser Hinsicht dadurch besonders interessant, dass sie als „Grenze“ ja primär nicht als eine Abgrenzung von, sondern vielmehr eine Grenze hin zu verstanden wurde: als Öffnung hin zu ‚opportunity‘ und Selbstverwirklichung – und genau diese Dimension scheint endgültig verloren. (Vielleicht ist sie auch schon früher verloren gegangen, hat ihre Wirkung längst eingebüßt und erst jetzt manifestiert sich auf politischer Ebene dieser seit spätestens 9/11 vollzogener Bruch im Selbstbild der U.S.A. Davon erzählt doch auch die Serie Homeland, nicht wahr?)
Nun gut, das ist also meine Motivation. Dennoch halte ich es nicht für zwingend nötig, die politische Großwetterlage explizit zum Ausgangspunkt einer kleinen Hausarbeit über Mad Men zu machen. (Kann man machen, wäre mir aber zu eitel.) Das Wissen, das ich daraus ziehe, werde ich vielleicht an anderer Stelle einmal öffentlich einbringen können, damit auch andere davon profitieren, das wäre meine Hoffnung. (Falls ihr mal über eine gute Aktion lesen wollt, die aus geisteswissenschaftlichem Wissen hervorgehen kann, empfehle ich euch diesen Artikel: http://www.deutschlandfunkkultur.de/buendnis-fuer-kreuzvielfalt-an-bayerischen-hochschulen-das.2156.de.html?dram:article_id=419331 Über die politische Wirksamkeit braucht man sich auch hier keine Illusionen machen, trotzdem super!) Bis dahin tausche ich mich einfach weiter mit euch aus, das ist mir auch immer ein riesiger Gewinn! Zum Beispiel fand ich es sehr interessant, anhand eurer Ausführungen zu Manon Lescaut noch einmal ganz klar zu sehen, dass auch der Go-West-Mythos eine Geschichte hat, dass nämlich New Orleans unter französischer Leitung nicht als Ort der Selbstverwirklichung, sondern als Strafkolonie geführt wurde (ganz ähnlich der Funktion, in der die Engländer Australien benutzt haben). Danke für diese Einsicht!
Alexander, du wirst dich mit Blick auf die Fortsetzung der Geschichte noch ein wenig gedulden müssen, ich komme hoffentlich morgen dazu, dir darauf zu antworten! Bis dahin muss ich noch ein paar kurze Kommentare loswerden: Hat etwa keiner von euch Bad Banks gesehen? „Natur ist das asozialste System, das es gibt. Dagegen ist Kapitalismus die Wohlfahrt.“ Jana Liekam ist die Beste (mit ganz großem B), so toll! (Bald hoffentlich mehr dazu!) Mit deinen Urlaubsplänen kann ich dir leider nicht helfen, Lenna, ich werde für drei Wochen auf einen Sprachkurs nach La Rochelle fahren und hinterher direkt weiter auf eine Sommerakademie („Jenseits der Fiktion? Autobiographie und Autofiktion in der europäischen Gegenwartsliteratur“). Vielleicht komme ich dich ja aber danach mal wieder für ein paar Tage in Berlin besuchen, bevor mein Umzug ansteht! Ach, und Alexander! Ich habe das Wort „unzynisch“ eher illustrativ benutzt und hatte keine Verallgemeinerung auf „das Verhältnis von Zynismus und Gemeinschaft“ beabsichtigt. Da dich dieses Thema ja aber irgendwie anzusprechen scheint, bin ich gespannt, was du noch dazu zu sagen hast.
Also, ich finde die Geschichte schon ein bisschen spannend, muss ich sagen. Wie geht sie denn weiter, Sidonie? Wenn Cooper bei solch schlechten Wetterbedingungen aus dem Flugzeug gesprungen ist, dann wird er doch wohl am allerwahrscheinlichsten tödlich verunglückt sein. Hat man seine Leiche denn nie gefunden? (Du bist mir übrigens auch noch eine Antwort auf die Frage des Zynismus und der Gemeinschaft „schuldig“!)
In Hinblick auf deine Serienauswahl, Lenna, würde ich dir weitestgehend zustimmen. Dass du Im Angesicht des Verbrechens mit aufgenommen hast, rechne ich dir sehr hoch an. Es ist wirklich schade, dass diese Serie dermaßen in Vergessenheit geraten ist. (Allein dieses schier unerschöpfliche Repertoire an weisen Sprüchen: „Dat Leben is kurz, die Tage sind lang.“) Wenn ich mich richtig erinnere, habe ich irgendwann einmal irgendwo gelesen, dass die Produktionsfirma mit der ersten Staffel insolvent gegangen ist und es deshalb wohl keine Fortsetzung geben wird. Dominik Graf war der Zeit – also: der ja immer etwas verschlafenen Zeit in Deutschland – vielleicht zu sehr voraus. Heute hätte er sicherlich das doppelte Budget zur Verfügung. (Ohne, dass die Serie mehr bräuchte. Ich will übrigens auch gar nicht wissen, wieviel Kohle mittlerweile für so einen Schund wie Ku’damm 56 oder Berlin Babylon aus dem Fenster geworfen wird.)
Was denkst du – oder was denkt ihr alle – eigentlich über die Neuauflage von Twin Peaks? (Weil Lenna vom „Mystery Channel“ gesprochen hat: Wieso ist die Mystery-Ebene in Twin Peaks eigentlich um soviel erträglicher als (zum Beispiel) in so unangenehm gehypten Schrottserien wie Stranger Things, Dark oder Zone Blanche?)
In Sachen Urlaub: Ich werde mich auf jeden Fall den gesamten August in Richtung Sud Ouest absetzen. Aber das ist nun ja noch eine ganze Weile hin. Wolltest du nicht zusammen mit Eder nach Bilbao fliegen?
In Hinblick auf deine Serienauswahl, Lenna, würde ich dir weitestgehend zustimmen. Dass du Im Angesicht des Verbrechens mit aufgenommen hast, rechne ich dir sehr hoch an. Es ist wirklich schade, dass diese Serie dermaßen in Vergessenheit geraten ist. (Allein dieses schier unerschöpfliche Repertoire an weisen Sprüchen: „Dat Leben is kurz, die Tage sind lang.“) Wenn ich mich richtig erinnere, habe ich irgendwann einmal irgendwo gelesen, dass die Produktionsfirma mit der ersten Staffel insolvent gegangen ist und es deshalb wohl keine Fortsetzung geben wird. Dominik Graf war der Zeit – also: der ja immer etwas verschlafenen Zeit in Deutschland – vielleicht zu sehr voraus. Heute hätte er sicherlich das doppelte Budget zur Verfügung. (Ohne, dass die Serie mehr bräuchte. Ich will übrigens auch gar nicht wissen, wieviel Kohle mittlerweile für so einen Schund wie Ku’damm 56 oder Berlin Babylon aus dem Fenster geworfen wird.)
Was denkst du – oder was denkt ihr alle – eigentlich über die Neuauflage von Twin Peaks? (Weil Lenna vom „Mystery Channel“ gesprochen hat: Wieso ist die Mystery-Ebene in Twin Peaks eigentlich um soviel erträglicher als (zum Beispiel) in so unangenehm gehypten Schrottserien wie Stranger Things, Dark oder Zone Blanche?)
In Sachen Urlaub: Ich werde mich auf jeden Fall den gesamten August in Richtung Sud Ouest absetzen. Aber das ist nun ja noch eine ganze Weile hin. Wolltest du nicht zusammen mit Eder nach Bilbao fliegen?
Entschuldigt, aber bin ich hier im Mystery Channel gelandet? (Zuerst dachte ich ja, deine Lesart von Man Men anhand der „Grenze“ sei politisch motiviert, aber irgendwie klingt diese Geschichte dann plötzlich doch eher nerdy. Trotzdem schönes Thema, Sidonie!)
Ich muss ja gestehen, dass ich Mad Men gar nicht zu Ende geschaut habe. Am Anfang hat mir die Serie wirklich Spaß gemacht: dieser Spirit der Verführung, der Visionen und (Ent-)Täuschungen. Nach Staffel drei oder vier war aber einfach die Luft raus. Irgendwann habe ich noch einmal irgendeine spätere Staffel (ich glaube, es war die fünfte) angefangen, dann aber gelangweilt ausgeschaltet: der depressive Don Draper auf Hawaii, der an irgendeiner fremden Hochzeit teilnimmt, der depressive Don Draper zurück in New York, der eine suizidale Werbung entwirft. Das war mir alles zu zäh. (Aus den späteren Staffeln habe ich nur noch Screenshots von diesen ganzen schlimmen late 60s, early 70s-Klamotten und -Frisuren gesehen und war heilfroh, mir diese stilistische Verfallsgeschichte nicht länger angetan zu haben. Don Draper bei irgendwelchen Eso-Hippies: darauf kann ich gut und gerne verzichten.)
Habt ihr eigentlich auch das Gefühl, dass die Luft in Sachen Serien insgesamt so langsam ein wenig raus ist? Früher gab es Twin Peaks, The Sopranos, The Wire, Im Angesicht des Verbrechens, dann meinetwegen einige Staffeln Mad Men, die erste Staffel Homeland, die erste Staffel Transparent und zuletzt vielleicht noch Mr. Robot. Das verliert sich aber inmitten einer völligen Überproduktion, die (zumindest bei mir) mit einer gewissen Übersättigung einhergeht. Großartige, formale Innovationen erwarte ich mir da momentan kaum noch.
OK, dann habe ich zuletzt noch eine andere Frage an euch: Hat jemand eine Idee, wohin ich diesen Sommer in den Urlaub fahren könnte?
Ich muss ja gestehen, dass ich Mad Men gar nicht zu Ende geschaut habe. Am Anfang hat mir die Serie wirklich Spaß gemacht: dieser Spirit der Verführung, der Visionen und (Ent-)Täuschungen. Nach Staffel drei oder vier war aber einfach die Luft raus. Irgendwann habe ich noch einmal irgendeine spätere Staffel (ich glaube, es war die fünfte) angefangen, dann aber gelangweilt ausgeschaltet: der depressive Don Draper auf Hawaii, der an irgendeiner fremden Hochzeit teilnimmt, der depressive Don Draper zurück in New York, der eine suizidale Werbung entwirft. Das war mir alles zu zäh. (Aus den späteren Staffeln habe ich nur noch Screenshots von diesen ganzen schlimmen late 60s, early 70s-Klamotten und -Frisuren gesehen und war heilfroh, mir diese stilistische Verfallsgeschichte nicht länger angetan zu haben. Don Draper bei irgendwelchen Eso-Hippies: darauf kann ich gut und gerne verzichten.)
Habt ihr eigentlich auch das Gefühl, dass die Luft in Sachen Serien insgesamt so langsam ein wenig raus ist? Früher gab es Twin Peaks, The Sopranos, The Wire, Im Angesicht des Verbrechens, dann meinetwegen einige Staffeln Mad Men, die erste Staffel Homeland, die erste Staffel Transparent und zuletzt vielleicht noch Mr. Robot. Das verliert sich aber inmitten einer völligen Überproduktion, die (zumindest bei mir) mit einer gewissen Übersättigung einhergeht. Großartige, formale Innovationen erwarte ich mir da momentan kaum noch.
OK, dann habe ich zuletzt noch eine andere Frage an euch: Hat jemand eine Idee, wohin ich diesen Sommer in den Urlaub fahren könnte?
Ich sag’s ja: ich glaube auch nicht an diese Theorie. (Obwohl es in Mad Men viele motivische Andeutungen in diese Richtung gibt. Denk allein an das letzte Meeting vor Dons Verschwinden: während er nervös zuhört, gleitet sein Blick aus dem Fenster auf ein vorbeiziehendes Flugzeug. Dann der Geist von Bert Cooper, der Don erscheint: Don Bert Cooper: D. B. Cooper (Dan Cooper wird manchmal auch als D. B. Cooper überliefert, deshalb auch: Dale Bartholomew Cooper). Don Draper und Dan Cooper ähneln sich in Typus und Auftritt, usw. usf.)
Die Geschichte von Dan Cooper ist aber auch an sich schon spannend genug. Es handelt sich dabei nämlich um den Fall einer ‚erfolgreichen‘ Flugzeugentführung, der einzigen, die niemals aufgeklärt werden konnte. (Festhalten, jetzt wird es spannend!) Trotz minutiöser und äußerst aufwendiger Polizeiarbeit konnte keine Spuren ans Licht gebracht werden, die über die unmittelbaren Tatbestände des Verbrechens selbst hinausgingen. Niemand: kein Taxifahrer, keine Rezeptionistin, kein Kassierer hatte den Mann gesehen oder gar gesprochen, der im November 1971 am Flughafen der Stadt Portland ein Flugticket für einen Kurzstreckenflug nach Seattle kaufte. In sein Flugticket, das er bar bezahlte, ließ er den Namen „Dan Cooper“ eintragen. Weitere Identifikationen oder Kontrollen waren nicht vorgesehen. (Ich denke, man muss an dieser Stelle erwähnen, dass Flugzeugentführungen zu dieser Zeit ein neuartiges Phänomen waren und die meisten als politische Demonstration von Leuten zu betrachten wurden, die sich in das von den U.S.A. mit einem Embargo belegte Kuba abzusetzen versuchten.) Bereits Coopers Einsatz einer „non-directional weapon“ (einer Bombe, die sich später als Attrappe erwies) galt als ‚Pionierleistung‘ gegenüber konventionell bewaffneten Flugzeugentführern, die zuvor mehrfach von Crews und Sky Marshalls überwunden werden konnten. Auch Coopers Forderung von 200.000 Dollar und vier Fallschirmen – Flugzeugentführung als heist-Plot – war ein novum. Der ganze Fall traf die Behörden und die Öffentlichkeit unvorbereitet und Teil der Faszination und auch der ungebrochenen Sympathie für Cooper erklärt sich wohl daraus, dass er etwas völlig Neues ersonnen und durchgezogen hat.
In Seattle hatte Cooper die etwa dreißig anderen Passagiere gegen das Geld und die Fallschirme ausgetauscht und das Flugzeug betanken lassen. Kaum hatte die Maschine den Weg nach Süden angetreten – vorgeblich wollte Cooper über die Grenze nach Mexiko fliehen – befahl er der Crew, die Flughöhe und die Geschwindigkeit zu verringern und ihn in der Kabine allein zu lassen. Abgesehen von Geheimagenten, Piloten und Flugzeugingenieuren wusste eigentlich niemand, dass die mit einer eigenen Treppe versehene Heckluke einer Boeing 727 auch während des Fluges zu öffnen ist. Cooper wusste dies. Er band die etwa zehn Kilo schwere Tasche mit den 10.000 registrierten 20-Dollar-Scheinen, die er erhalten hatte, um seinen Körper, wählte zwei der vier Fallschirme aus (wobei er keineswegs die besten nahm) und begab sich zum Heck des Flugzeugs. Es war aufgrund vieler Verzögerungen mittlerweile tiefdunkle Nacht und ein schwerer Herbststurm rüttelte an der relativ kleinen Verkehrsmaschine. Der Lärm der direkt am Flugzeugrumpf angebrachten Turbinen musste ohrenbetäubend sein, die Temperatur war unter null. Cooper trug einen schwarzen Business-Anzug, Trenchcoat und Loafer. Weder hatte er Handschuhe noch Helm, seine Ansteck-Krawatte ließ er im Flugzeug zurück, als er sprang.
Die Geschichte von Dan Cooper ist aber auch an sich schon spannend genug. Es handelt sich dabei nämlich um den Fall einer ‚erfolgreichen‘ Flugzeugentführung, der einzigen, die niemals aufgeklärt werden konnte. (Festhalten, jetzt wird es spannend!) Trotz minutiöser und äußerst aufwendiger Polizeiarbeit konnte keine Spuren ans Licht gebracht werden, die über die unmittelbaren Tatbestände des Verbrechens selbst hinausgingen. Niemand: kein Taxifahrer, keine Rezeptionistin, kein Kassierer hatte den Mann gesehen oder gar gesprochen, der im November 1971 am Flughafen der Stadt Portland ein Flugticket für einen Kurzstreckenflug nach Seattle kaufte. In sein Flugticket, das er bar bezahlte, ließ er den Namen „Dan Cooper“ eintragen. Weitere Identifikationen oder Kontrollen waren nicht vorgesehen. (Ich denke, man muss an dieser Stelle erwähnen, dass Flugzeugentführungen zu dieser Zeit ein neuartiges Phänomen waren und die meisten als politische Demonstration von Leuten zu betrachten wurden, die sich in das von den U.S.A. mit einem Embargo belegte Kuba abzusetzen versuchten.) Bereits Coopers Einsatz einer „non-directional weapon“ (einer Bombe, die sich später als Attrappe erwies) galt als ‚Pionierleistung‘ gegenüber konventionell bewaffneten Flugzeugentführern, die zuvor mehrfach von Crews und Sky Marshalls überwunden werden konnten. Auch Coopers Forderung von 200.000 Dollar und vier Fallschirmen – Flugzeugentführung als heist-Plot – war ein novum. Der ganze Fall traf die Behörden und die Öffentlichkeit unvorbereitet und Teil der Faszination und auch der ungebrochenen Sympathie für Cooper erklärt sich wohl daraus, dass er etwas völlig Neues ersonnen und durchgezogen hat.
In Seattle hatte Cooper die etwa dreißig anderen Passagiere gegen das Geld und die Fallschirme ausgetauscht und das Flugzeug betanken lassen. Kaum hatte die Maschine den Weg nach Süden angetreten – vorgeblich wollte Cooper über die Grenze nach Mexiko fliehen – befahl er der Crew, die Flughöhe und die Geschwindigkeit zu verringern und ihn in der Kabine allein zu lassen. Abgesehen von Geheimagenten, Piloten und Flugzeugingenieuren wusste eigentlich niemand, dass die mit einer eigenen Treppe versehene Heckluke einer Boeing 727 auch während des Fluges zu öffnen ist. Cooper wusste dies. Er band die etwa zehn Kilo schwere Tasche mit den 10.000 registrierten 20-Dollar-Scheinen, die er erhalten hatte, um seinen Körper, wählte zwei der vier Fallschirme aus (wobei er keineswegs die besten nahm) und begab sich zum Heck des Flugzeugs. Es war aufgrund vieler Verzögerungen mittlerweile tiefdunkle Nacht und ein schwerer Herbststurm rüttelte an der relativ kleinen Verkehrsmaschine. Der Lärm der direkt am Flugzeugrumpf angebrachten Turbinen musste ohrenbetäubend sein, die Temperatur war unter null. Cooper trug einen schwarzen Business-Anzug, Trenchcoat und Loafer. Weder hatte er Handschuhe noch Helm, seine Ansteck-Krawatte ließ er im Flugzeug zurück, als er sprang.
Nun gut, Sidonie, darüber können wir uns gerne einmal bei anderer Gelegenheit unterhalten. Gerade habe ich erst einmal ein paar Gedanken und Fragen, die an deine Ausführungen zu Mad Men und Turner anschließen.
Zum einen verstehe ich nun endlich den Untertitel des Films Star Trek: The Final Frontier besser. Die Frontier ist hier von der Erde ins All verlegt, was allerdings mit einer gewaltigen Verschiebung einhergeht oder diese provoziert: Die Erkundung und Erschließung des Raumes „jenseits“ der Frontier ist nämlich kein Projekt für Individuen mehr, sondern nur von der gesamten menschlichen „Gemeinschaft“ (und der Föderation) zu bewerkstelligen. Dabei fällt mir noch ein, dass es doch auch bei Mad Men am Ende dieses Moment der Gemeinschaft gibt, als alle zusammen im Fernsehen die Mondlandung verfolgen. (Daraus entsteht dann doch auch die Werbeidee für diesen Burgerladen.)
Zum anderen habe ich mich gefragt, worauf du mit dem Hinweis auf die Frage des Zynismus hinauswillst. Meinst du, dass heute klar ist, dass diese ganze Hippie-Semantik der „Erfahrung von Gemeinschaft“ bloß die ideologische Kulisse („Ideologie“ hier ganz im Sinne eines „notwendig falschen Bewußtseins“) für brutal berechnete Strategien der Selbstoptimierung gibt? Ich musste an diesem Punkt auch an ein Gespräch denken, das ich einmal auf dem Weg zum Flughafen in der Regionalbahn mitgehört habe. Eine Gruppe von Arbeitskolleginnen und —kollegen befand sich auf dem Weg in ein „Team Retreat“ und tauschte sich lauthals über Pooltemperaturen und Massagetermine aus. Das „Retreat“ scheint längst im Bereich der „Teambuilding-Maßnahmen“ (trauriges Wort, traurige Welt) angekommen.
Zuletzt noch die Frage: Ist Don Draper am Ende der Serie nicht Multimillionär? Warum sollte er also ein Flugzeug überfallen?
Zum einen verstehe ich nun endlich den Untertitel des Films Star Trek: The Final Frontier besser. Die Frontier ist hier von der Erde ins All verlegt, was allerdings mit einer gewaltigen Verschiebung einhergeht oder diese provoziert: Die Erkundung und Erschließung des Raumes „jenseits“ der Frontier ist nämlich kein Projekt für Individuen mehr, sondern nur von der gesamten menschlichen „Gemeinschaft“ (und der Föderation) zu bewerkstelligen. Dabei fällt mir noch ein, dass es doch auch bei Mad Men am Ende dieses Moment der Gemeinschaft gibt, als alle zusammen im Fernsehen die Mondlandung verfolgen. (Daraus entsteht dann doch auch die Werbeidee für diesen Burgerladen.)
Zum anderen habe ich mich gefragt, worauf du mit dem Hinweis auf die Frage des Zynismus hinauswillst. Meinst du, dass heute klar ist, dass diese ganze Hippie-Semantik der „Erfahrung von Gemeinschaft“ bloß die ideologische Kulisse („Ideologie“ hier ganz im Sinne eines „notwendig falschen Bewußtseins“) für brutal berechnete Strategien der Selbstoptimierung gibt? Ich musste an diesem Punkt auch an ein Gespräch denken, das ich einmal auf dem Weg zum Flughafen in der Regionalbahn mitgehört habe. Eine Gruppe von Arbeitskolleginnen und —kollegen befand sich auf dem Weg in ein „Team Retreat“ und tauschte sich lauthals über Pooltemperaturen und Massagetermine aus. Das „Retreat“ scheint längst im Bereich der „Teambuilding-Maßnahmen“ (trauriges Wort, traurige Welt) angekommen.
Zuletzt noch die Frage: Ist Don Draper am Ende der Serie nicht Multimillionär? Warum sollte er also ein Flugzeug überfallen?
Wenn ich Alexanders letzten Beitrag lese und dann Lennas Behauptung daneben halte, ihr hättet in den letzten Jahren alles euch betreffende schon geklärt, dann werde ich den Verdacht nicht los, dass mindestens einer von euch doch noch Redebedarf hat. Wenn ihr mal in meine Sprechstunde kommen wollt, sagt Bescheid.
Danke auf jeden Fall für die Ausführungen. Was die „Grenzen“ und Amerika betrifft habe ich vor allem gefragt, weil ich gerade an einer Hausarbeit über Man Men schreibe, insbesondere über Donald Drapers Reise von New York über Wisconsin, Minnesota, Oklahoma und Utah nach Californien (7. Staffel). Ich verfolge dieses Motiv auf zwei Ebenen. Zum einen beschäftige ich mich damit gewissermaßen auf ideengeschichtlicher Ebene. Mein primärer Bezugspunkt ist dabei Frederick Jackson Turner, der in einer Reihe von Aufsätzen zur Significance of the Frontier in American History (1893) versucht hat, eine Art von geopolitischer Emanzipationsgeschichte Amerikas zu erzählen. Im Unterschied zu den europäischen Grenzen, die zwischen dicht beieinander siedelnden Völkern liefen, habe jenseits der historischen, amerikanischen Frontier „free land“ gelegen — und obwohl Turner die Frontier deshalb als „meeting point between savagery and civilization“ bezeichnet, betont er das Freiheitsversprechen, das in der Möglichkeit eines Ausstiegs aus der Zivilisation und den mit dem Vorrücken der Frontier immer wieder neu etablierten Formen der Vergesellschaftung lag. Zwei seiner zentralen Begriffe sind dabei diejenigen der „opportunity“ und des „self-made man“:
„The self-made man was the Western man’s ideal, was the kind of man that all men might become. Out of his wilderness experience, out of the freedom of his opportunities, he fashioned a formula for social regeneration – the freedom of the individual to seek his own.“
Die Grenze zwischen Wildnis und Zivilisation ist vielleicht das ursprüngliche, nicht aber das einzige kulturelle Signifikat, an dem sich die amerikanische Mythisierung des Pionierdaseins entzündet. Turner hat in Gestalt der Grenze ein zutiefst amerikanisches Symbol behandelt, das die umfassendere Idee des Neubeginns repräsentiert – darin liegt die eigentliche Funktion der Grenze, weshalb Wildnis auch kein Selbstzweck ist, sondern nur der Anlass für neue Zivilisation. Das ändert nichts daran, dass jenseits der Grenze ein Ort liegt, dessen Verheißung wesentlich negativ ist: Hier sind die historischen Widersprüche des alten Kontinents ihrer Wirksamkeit erhoben, Moral, Religion und Arbeit können in Abwesenheit politischer und klerikaler Institutionen endlich frei entfaltet und zum Erblühen gebracht werden. Mir fällt auf, dass dieses speziell amerikanische Utopiedenken keine genuine Sozialutopie entwirft, sondern die Verwirklichung des eigentlichen Lebens eine Erwartung ist, die sich voll und ganz an Individuen richtet, die an einem (vermeintlich) neuen und von der Zivilisation noch nicht korrumpierten Ort ganz von vorn beginnen.
Hat die amerikanische Landnahme dann aber die Westküste erreicht, muss der territoriale, manifeste Gehalt der Grenze in etwas Anderes übersetzt werden. Noch immer kann ein amerikanisches Leben – in Mad Men wird dies mehrfach dramaturgisch gebraucht – den Blick nach Westen richten und hoffen, in Kalifornien den unlösbaren Verstrickungen des eigenen Lebens zu entfliehen und noch einmal neu zu beginnen. Die symbolischen Gehalte der Grenze zwischen Zivilisation und Wildnis ist aber nur noch indirekt aktiv, in Motiven und mythopoetischen Substrukturen, die ich gern genauer untersuchen möchte.
Das Finale von Mad Men inszeniert z. B. eine Art Kommune, die direkt an der Pazifikküste ein spirituelles Retreat betreibt. Ich bin im Nachhinein ziemlich beeindruckt, wie souverän das erzählerisch bearbeitet worden ist, indem man einerseits genug Klischees esoterischer Hochstapelei hat anklingen lassen, andererseits aber die Ernsthaftigkeit der spirituellen und biographischen Notlage derjenigen miterzählt, die sich zu einer Zeit in einem solchen Guru-Ressort einfanden, als dieses Sinnangebot noch relativ neu war und unzynisch in Betracht gezogen werden konnte. Nicht zufällig flüchtet sich Don Drapers ‚Nichte‘ an diesen Ort aus Anlass von Verarmung und Schwangerschaft, den beiden ursprünglichen Plagen Dons und Peggys. Letztlich werden die kalifornischen Reverien aber auf allen Ebenen einkassiert und in das kapitalistische Großprojekt reintegriert, wofür ja auch das Ende der Serie steht: Ausgehend von Erfahrungen in Meditation, ‚alternativen‘ Lebensformen und Interkulturalität hat Don den Geistesblitz für den nächsten Paradigmenwechsel in der Werbung.
Im Laufe meiner Recherchen zu Mad Men bin ich auf eine ‚Figur‘ gestoßen, anhand derer die mythische Funktion der Grenze ebenfalls in eine nach-territoriale symbolische Ordnung übersetzt wird. Manche behaupten, es handele sich bei Mad Men um die Vorgeschichte eines gewissen Dan Cooper – ein moderner folk hero der 1971 mit einer Tasche voll Geld aus einer fliegenden Passagiermaschine sprang und für immer verschwand. Ich glaube zwar nicht so recht an die Theorie, Don Draper sei Dan Cooper, aber allein die Tatsache, dass „My Special Agent“ Dale Cooper aus Twin Peaks ebenfalls auf diese Figur verweist, macht sie unfassbar interessant!
Danke auf jeden Fall für die Ausführungen. Was die „Grenzen“ und Amerika betrifft habe ich vor allem gefragt, weil ich gerade an einer Hausarbeit über Man Men schreibe, insbesondere über Donald Drapers Reise von New York über Wisconsin, Minnesota, Oklahoma und Utah nach Californien (7. Staffel). Ich verfolge dieses Motiv auf zwei Ebenen. Zum einen beschäftige ich mich damit gewissermaßen auf ideengeschichtlicher Ebene. Mein primärer Bezugspunkt ist dabei Frederick Jackson Turner, der in einer Reihe von Aufsätzen zur Significance of the Frontier in American History (1893) versucht hat, eine Art von geopolitischer Emanzipationsgeschichte Amerikas zu erzählen. Im Unterschied zu den europäischen Grenzen, die zwischen dicht beieinander siedelnden Völkern liefen, habe jenseits der historischen, amerikanischen Frontier „free land“ gelegen — und obwohl Turner die Frontier deshalb als „meeting point between savagery and civilization“ bezeichnet, betont er das Freiheitsversprechen, das in der Möglichkeit eines Ausstiegs aus der Zivilisation und den mit dem Vorrücken der Frontier immer wieder neu etablierten Formen der Vergesellschaftung lag. Zwei seiner zentralen Begriffe sind dabei diejenigen der „opportunity“ und des „self-made man“:
„The self-made man was the Western man’s ideal, was the kind of man that all men might become. Out of his wilderness experience, out of the freedom of his opportunities, he fashioned a formula for social regeneration – the freedom of the individual to seek his own.“
Die Grenze zwischen Wildnis und Zivilisation ist vielleicht das ursprüngliche, nicht aber das einzige kulturelle Signifikat, an dem sich die amerikanische Mythisierung des Pionierdaseins entzündet. Turner hat in Gestalt der Grenze ein zutiefst amerikanisches Symbol behandelt, das die umfassendere Idee des Neubeginns repräsentiert – darin liegt die eigentliche Funktion der Grenze, weshalb Wildnis auch kein Selbstzweck ist, sondern nur der Anlass für neue Zivilisation. Das ändert nichts daran, dass jenseits der Grenze ein Ort liegt, dessen Verheißung wesentlich negativ ist: Hier sind die historischen Widersprüche des alten Kontinents ihrer Wirksamkeit erhoben, Moral, Religion und Arbeit können in Abwesenheit politischer und klerikaler Institutionen endlich frei entfaltet und zum Erblühen gebracht werden. Mir fällt auf, dass dieses speziell amerikanische Utopiedenken keine genuine Sozialutopie entwirft, sondern die Verwirklichung des eigentlichen Lebens eine Erwartung ist, die sich voll und ganz an Individuen richtet, die an einem (vermeintlich) neuen und von der Zivilisation noch nicht korrumpierten Ort ganz von vorn beginnen.
Hat die amerikanische Landnahme dann aber die Westküste erreicht, muss der territoriale, manifeste Gehalt der Grenze in etwas Anderes übersetzt werden. Noch immer kann ein amerikanisches Leben – in Mad Men wird dies mehrfach dramaturgisch gebraucht – den Blick nach Westen richten und hoffen, in Kalifornien den unlösbaren Verstrickungen des eigenen Lebens zu entfliehen und noch einmal neu zu beginnen. Die symbolischen Gehalte der Grenze zwischen Zivilisation und Wildnis ist aber nur noch indirekt aktiv, in Motiven und mythopoetischen Substrukturen, die ich gern genauer untersuchen möchte.
Das Finale von Mad Men inszeniert z. B. eine Art Kommune, die direkt an der Pazifikküste ein spirituelles Retreat betreibt. Ich bin im Nachhinein ziemlich beeindruckt, wie souverän das erzählerisch bearbeitet worden ist, indem man einerseits genug Klischees esoterischer Hochstapelei hat anklingen lassen, andererseits aber die Ernsthaftigkeit der spirituellen und biographischen Notlage derjenigen miterzählt, die sich zu einer Zeit in einem solchen Guru-Ressort einfanden, als dieses Sinnangebot noch relativ neu war und unzynisch in Betracht gezogen werden konnte. Nicht zufällig flüchtet sich Don Drapers ‚Nichte‘ an diesen Ort aus Anlass von Verarmung und Schwangerschaft, den beiden ursprünglichen Plagen Dons und Peggys. Letztlich werden die kalifornischen Reverien aber auf allen Ebenen einkassiert und in das kapitalistische Großprojekt reintegriert, wofür ja auch das Ende der Serie steht: Ausgehend von Erfahrungen in Meditation, ‚alternativen‘ Lebensformen und Interkulturalität hat Don den Geistesblitz für den nächsten Paradigmenwechsel in der Werbung.
Im Laufe meiner Recherchen zu Mad Men bin ich auf eine ‚Figur‘ gestoßen, anhand derer die mythische Funktion der Grenze ebenfalls in eine nach-territoriale symbolische Ordnung übersetzt wird. Manche behaupten, es handele sich bei Mad Men um die Vorgeschichte eines gewissen Dan Cooper – ein moderner folk hero der 1971 mit einer Tasche voll Geld aus einer fliegenden Passagiermaschine sprang und für immer verschwand. Ich glaube zwar nicht so recht an die Theorie, Don Draper sei Dan Cooper, aber allein die Tatsache, dass „My Special Agent“ Dale Cooper aus Twin Peaks ebenfalls auf diese Figur verweist, macht sie unfassbar interessant!
Nun, wie ich bereits angedeutet hatte, wird Manon zur Bestrafung nach Amerika verschifft und Des Grieux, der sich durch seine Liebe an sie „gekettet“ glaubt, folgt ihr. Mit einem Freiheitsnarrativ ist das in diesem Sinne nicht verbunden, zumal New Orleans als ein sehr schlichter und strenger Ort beschrieben wird. Der einzige Unterschied besteht zunächst darin, dass die beiden sich gegenüber dem Vorsteher der Kolonie als Ehepaar ausgeben und dadurch für eine Weile „in geregelten Verhältnissen“ ihre Liebe frei ausleben können: „C’est au Nouvel-Orléans qu’il faut venir, disais-je souvent à Manon, quand on veut goûter les vraies douceurs de l’amour. C’est ici qu’on s’aime sans intérêt, sans jalousie, sans inconstance. Nos compatriotes y viennent chercher de l’or ; ils ne s’imaginent pas que nous y avons trouvé des trésors bien plus estimables.“ (Des Grieux bekommt sogar eine Anstellung, die beiden können sich Hausangestellte leisten, usw.) Das bricht erst zusammen, als sie tatsächlich heiraten wollen und sich in dieser Absicht dem Vorsteher offenbaren: der möchte Manon nun nämlich einem Verwandten zur Frau geben, der bereits ein Auge auf sie geworfen hatte. Des Grieux und sein Konkurrent schlagen sich im Duell, anschließend versuchen Des Grieux und Manon in die Wildnis zu fliehen und sich bis zu den Engländern durchzuschlagen. Manon stirbt jedoch auf dem Weg. Nein, von Freiheit im Westen ist hier keine Spur.
Lenna, du fragst dich in Bezug auf die Rahmenhandlung, warum ein Mann aus der Mitte der Gesellschaft am Schicksal solch „infamer Menschen“ teilnimmt. Aber das wird doch ganz klar gesagt: er erkennt in Manon und Des Grieux Menschen, die seinem eigenen Milieu entstammen, sonst würde er sich auch gar nicht weiter für sie interessieren. Als er zum ersten Mal Manon erblickt, heißt es: „…il y en avait une dont l’air et la figure étaient si peu conformes à sa condition, qu’en tout autre état je l’eusse prise pour une personne du premier rang.“ Nur, weil Manon derart aus der Gruppe von „filles de joie“ heraussticht, empfindet er „du respect et de la pitié.“ Ganz ähnlich heißt es über Des Grieux: „Je n’ai jamais vu de plus vive image de la douleur. Il était mis fort simplement ; mais on distingue, au premier coup d’œil, un homme qui a de la naissance et de l’éducation. […] Il se leva ; et je découvris dans ses yeus, dans sa figure et dans tous ses mouvements, un air si fin et si noble que je me sentis porté naturellement à lui vouloir du bien.“ Um einen „Pakt der Freundschaft“ geht hier nun wirklich nicht, sondern um Rang- und Klassenzugehörigkeit.
Damit möchte ich das von dir, Lenna, zum Zusammenhang von Freundschaft und Erzählen geschriebene keineswegs schmälern, das finde ich wirklich wichtig und bereichernd. Mir ging es aber tatsächlich um etwas anderes: es hat mich einfach so umgehauen, dass Des Grieux‘ Freund Tiberge, den er immer wieder um Geld betrogen hat, ihm von Frankreich aus nach Amerika hinterherreist, um ihn zu finden und zu retten. Dass Des Grieux sich aufgrund seiner Amour fou zusammen mit Manon einschiffen lässt, ist ein Akt der Unfreiheit. Als Freund reist Tiberge ihm aber aus viel freieren Stücken nach. Das verlangt so viel und ist deshalb auch viel größer als die Liebe zwischen Des Grieux und Manon! Und es macht auch mal wieder klar: dass man oftmals nicht nur aufgrund, sondern immer auch trotz bestimmter Eigenschaften mit bestimmten Personen befreundet ist. Die Liebe verdeckt diese Tatsache (das meint man doch, wenn man sagt: „Liebe macht blind.“), Freundschaft geht mit ihr um.
Lenna, du fragst dich in Bezug auf die Rahmenhandlung, warum ein Mann aus der Mitte der Gesellschaft am Schicksal solch „infamer Menschen“ teilnimmt. Aber das wird doch ganz klar gesagt: er erkennt in Manon und Des Grieux Menschen, die seinem eigenen Milieu entstammen, sonst würde er sich auch gar nicht weiter für sie interessieren. Als er zum ersten Mal Manon erblickt, heißt es: „…il y en avait une dont l’air et la figure étaient si peu conformes à sa condition, qu’en tout autre état je l’eusse prise pour une personne du premier rang.“ Nur, weil Manon derart aus der Gruppe von „filles de joie“ heraussticht, empfindet er „du respect et de la pitié.“ Ganz ähnlich heißt es über Des Grieux: „Je n’ai jamais vu de plus vive image de la douleur. Il était mis fort simplement ; mais on distingue, au premier coup d’œil, un homme qui a de la naissance et de l’éducation. […] Il se leva ; et je découvris dans ses yeus, dans sa figure et dans tous ses mouvements, un air si fin et si noble que je me sentis porté naturellement à lui vouloir du bien.“ Um einen „Pakt der Freundschaft“ geht hier nun wirklich nicht, sondern um Rang- und Klassenzugehörigkeit.
Damit möchte ich das von dir, Lenna, zum Zusammenhang von Freundschaft und Erzählen geschriebene keineswegs schmälern, das finde ich wirklich wichtig und bereichernd. Mir ging es aber tatsächlich um etwas anderes: es hat mich einfach so umgehauen, dass Des Grieux‘ Freund Tiberge, den er immer wieder um Geld betrogen hat, ihm von Frankreich aus nach Amerika hinterherreist, um ihn zu finden und zu retten. Dass Des Grieux sich aufgrund seiner Amour fou zusammen mit Manon einschiffen lässt, ist ein Akt der Unfreiheit. Als Freund reist Tiberge ihm aber aus viel freieren Stücken nach. Das verlangt so viel und ist deshalb auch viel größer als die Liebe zwischen Des Grieux und Manon! Und es macht auch mal wieder klar: dass man oftmals nicht nur aufgrund, sondern immer auch trotz bestimmter Eigenschaften mit bestimmten Personen befreundet ist. Die Liebe verdeckt diese Tatsache (das meint man doch, wenn man sagt: „Liebe macht blind.“), Freundschaft geht mit ihr um.
„La discrétion est la première des vertus; on lui doit bien des instants de bonheur.“ — Diesen wunderbaren Satz aus Point de lendemain vorweg zitiert, muss ich sagen, dass ich mich ein wenig über die Geschichten, die ihr da erzählt, wundere. Ich selbst zumindest habe diese Veranstaltungen immer als komplett asexuell und völlig verklemmt empfunden, dafür aber fachlich als ausgesprochene Bereicherung. (Vielleicht habe ich dort auch einfach aus anderen Motiven (von weniger Nöten gejagt) teilgenommen, wer weiß.) Von der Poetik der Dauererregung eines Vivant Denon war das in meiner persönlichen Erfahrung zumindest weit entfernt. (Was nicht bedeuten soll, dass ich keinen Spaß hatte.)
Was Point de lendemain selbst betrifft, bin ich erstaunt, wie stark das von dir, Felix, dazu im Kontext von Luhmann notierte, hier explizit thematisch wird. Ich denke da vor allem an diese Stelle:
„Cependant la conversation changea d’objet: elle devint moins sérieuse. On osa même plaisanter sur les plaisirs de l’amour, l’analyser, en séparer le moral, le réduire au simple, et prouver que les faveurs n’étaient que du plaisir; qu’il n’y avait d’engagement (philosophiquement parlant) que ceux que l’on contractait avec le public, en lui laissant pénétrer nos secrets, et en commettant avec lui quelques indiscrétions.“
Am tollsten fand ich definitiv die beiden Frauenfiguren, also die Comtesse und Madame de T…, die ja anscheinend alle Fäden in der Hand halten und dabei die Gunst, die sie den Männern gewähren, nach Maßgabe der Befriedigung ihrer eigenen Bedürfnisse verteilen. Dennoch muss ich sagen, dass mir diese Form der Erzählung einer einzelnen Nacht auf nicht mehr als 40–50 Seiten zu limitiert oder sogar isoliert ist. Entschuldigt, wenn ich etwas zu stark aus heutiger Perspektive argumentiere, aber wie ihr wisst, drängt sich bei mir alles immer in Richtung des Romans. Und alles, was hier über soziale Konventionen und die Dynamiken der Ungewissheit erzählt wird, würde im Roman eben kaum mehr als eine Episode ausmachen, um die herum noch tausende, erzählerische Spiegel aufzustellen wären, in denen sich das Erzählte unendlich bricht und wiederholt und dabei immer reicher wird. (So wie bei Proust.)
Aus dem, was Alexander und Lenna geschrieben haben, scheint mir Manon Lescaut im Vergleich interessanter. Ich habe das Buch selbst noch nicht gelesen (ihr legt mir hier wirklich so unglaublich viele tolle Sachen nahe, dass ich kaum mit dem Lesen hinterherkomme), deshalb wollte ich fragen, ob mir jemand etwas Genaueres über diese Episode in Amerika erzählen kann. Geht es dabei allein um das Motiv der Bestrafung im Exil oder ist das auch schon mit der Erzählung der Freiheit im Westen verbunden? Das wäre ja vielleicht in Hinblick auf die Verschiebung der „Grenze“, von der Lenna geschrieben hat, noch einmal interessant.
Was Point de lendemain selbst betrifft, bin ich erstaunt, wie stark das von dir, Felix, dazu im Kontext von Luhmann notierte, hier explizit thematisch wird. Ich denke da vor allem an diese Stelle:
„Cependant la conversation changea d’objet: elle devint moins sérieuse. On osa même plaisanter sur les plaisirs de l’amour, l’analyser, en séparer le moral, le réduire au simple, et prouver que les faveurs n’étaient que du plaisir; qu’il n’y avait d’engagement (philosophiquement parlant) que ceux que l’on contractait avec le public, en lui laissant pénétrer nos secrets, et en commettant avec lui quelques indiscrétions.“
Am tollsten fand ich definitiv die beiden Frauenfiguren, also die Comtesse und Madame de T…, die ja anscheinend alle Fäden in der Hand halten und dabei die Gunst, die sie den Männern gewähren, nach Maßgabe der Befriedigung ihrer eigenen Bedürfnisse verteilen. Dennoch muss ich sagen, dass mir diese Form der Erzählung einer einzelnen Nacht auf nicht mehr als 40–50 Seiten zu limitiert oder sogar isoliert ist. Entschuldigt, wenn ich etwas zu stark aus heutiger Perspektive argumentiere, aber wie ihr wisst, drängt sich bei mir alles immer in Richtung des Romans. Und alles, was hier über soziale Konventionen und die Dynamiken der Ungewissheit erzählt wird, würde im Roman eben kaum mehr als eine Episode ausmachen, um die herum noch tausende, erzählerische Spiegel aufzustellen wären, in denen sich das Erzählte unendlich bricht und wiederholt und dabei immer reicher wird. (So wie bei Proust.)
Aus dem, was Alexander und Lenna geschrieben haben, scheint mir Manon Lescaut im Vergleich interessanter. Ich habe das Buch selbst noch nicht gelesen (ihr legt mir hier wirklich so unglaublich viele tolle Sachen nahe, dass ich kaum mit dem Lesen hinterherkomme), deshalb wollte ich fragen, ob mir jemand etwas Genaueres über diese Episode in Amerika erzählen kann. Geht es dabei allein um das Motiv der Bestrafung im Exil oder ist das auch schon mit der Erzählung der Freiheit im Westen verbunden? Das wäre ja vielleicht in Hinblick auf die Verschiebung der „Grenze“, von der Lenna geschrieben hat, noch einmal interessant.
Mein lieber Alexander, was uns betrifft, haben wir in den letzten Jahren ja schon über alles geredet. Als Zeichen unserer langjährigen Freundschaft möchte ich dir deshalb an dieser Stelle lediglich einige Überlegungen zur Frage nach dem Zusammenhang von Erzählen und Freundschaft widmen, die an die Beobachtungen zu Manon Lescaut anschließen, die du neulich skizziert hast. (Nicht unerwähnt lassen möchte ich allerdings, dass ich es ja durchaus etwas klischiert finde, dass du eine Flasche Schnaps mit dir durch die Gegend getragen hast, um über unsere Trennung hinwegzukommen. Ich verbuche das einfach mal entschuldigend unter deiner damaligen Jugend.)
Die Rahmenhandlung von Manon Lescaut ist tatsächlich bemerkenswert. Gerade weil sie von der Handlung des Romans wenig tangiert ist, stellt sich mir die Frage, worin eigentlich die Funktion besteht, dass ein unbeteiligter Amtsträger aus der Mitte der Gesellschaft am Leben derart infamer Menschen Anteil nimmt.
Für Des Grieux scheint Liebe ja ein Prozess aktiver Selbstzerstörung, deshalb frage ich mich, welche Leidenschaft hier eigentlich erzählt wird: eine erotische oder diejenige einer Auslöschungslust? Der Roman beginnt jedenfalls mit Motiven der Gefangenschaft und beiden diesen Leidenschaften kann ja auch ein Moment von Befreiung innewohnen – Befreiung von Konventionen und Ordnungsprinzipien des gesellschaftlichen Lebens, Befreiung aber auch von den erniedrigenden Notwendigkeiten und Forderungen der Selbsterhaltung. Manon ist die Verkörperung einer fast übermenschlichen Amoralität (mehr als ein Jahrhundert vor Nietzsche!), darin liegt ihre Größe und ihre Faszination, die Des Grieux mit der Kraft des Obsessiven an sie kettet.
Benjamin hat in seinem Erzähler-Essay an den Erzählanlass der alteuropäischen Epik erinnert, der nämlich darin besteht, dass ein Held ins Unbekannte reist und dem Publikum durch den Epiker von dieser Fremde berichtet wird. Ist es nicht so, dass mit dem modernen Roman der Erzählanlass nicht mehr im Fremden der räumlichen Distanz liegt, sondern das Erzählen von jenseits der Grenze nun eine sittliche Grenze meint? Der Held ist immer noch eine transgressive Figur, übertritt aber gesellschaftliche Konventionen und moralische Gesetze.
Die Figur des Freundes kann man deshalb auch als poetologische Metapher für das Erzählen derartig sittlich-transgressiver Romane auffassen: Gegenüber dem Protagonisten verkörpert er eine Art moralischen Kreditgeber (tatsächlich gibt er ihm ja auch Geld) und damit vielleicht auch die inhärente moralische Ambivalenz des Lesens/Zuhörens einer Geschichte insgesamt. Denn fordert nicht jede – gut erzählte – Geschichte ein freundschaftliches Entgegenkommen ein, angefangen mit der Geduld des Zuhörens über den Trost des Verständnisses bis hin zu der Bereitschaft, sich kompromittieren zu lassen?
Freundschaft ist deshalb aber nicht das ‚interessantere Konzept‘, so funktioniert der Text doch gar nicht! Amour fou und Freundschaft werden nicht gegeneinander getestet und am Ende ist die Freundschaft noch übrig. Nein, beide sind für den Text strukturell maßgeblich, das eine als inhaltliches Zentrum, das andere als moralische Bedingung seiner Erzählbarkeit, die sich in einer bestimmten Form, der Erzählsituation der Rahmenhandlung, niederschlägt. Ob Freundschaft lebenspraktisch das interessantere Konzept ist, wäre wiederum eine andere Frage.
Die Rahmenhandlung von Manon Lescaut ist tatsächlich bemerkenswert. Gerade weil sie von der Handlung des Romans wenig tangiert ist, stellt sich mir die Frage, worin eigentlich die Funktion besteht, dass ein unbeteiligter Amtsträger aus der Mitte der Gesellschaft am Leben derart infamer Menschen Anteil nimmt.
Für Des Grieux scheint Liebe ja ein Prozess aktiver Selbstzerstörung, deshalb frage ich mich, welche Leidenschaft hier eigentlich erzählt wird: eine erotische oder diejenige einer Auslöschungslust? Der Roman beginnt jedenfalls mit Motiven der Gefangenschaft und beiden diesen Leidenschaften kann ja auch ein Moment von Befreiung innewohnen – Befreiung von Konventionen und Ordnungsprinzipien des gesellschaftlichen Lebens, Befreiung aber auch von den erniedrigenden Notwendigkeiten und Forderungen der Selbsterhaltung. Manon ist die Verkörperung einer fast übermenschlichen Amoralität (mehr als ein Jahrhundert vor Nietzsche!), darin liegt ihre Größe und ihre Faszination, die Des Grieux mit der Kraft des Obsessiven an sie kettet.
Benjamin hat in seinem Erzähler-Essay an den Erzählanlass der alteuropäischen Epik erinnert, der nämlich darin besteht, dass ein Held ins Unbekannte reist und dem Publikum durch den Epiker von dieser Fremde berichtet wird. Ist es nicht so, dass mit dem modernen Roman der Erzählanlass nicht mehr im Fremden der räumlichen Distanz liegt, sondern das Erzählen von jenseits der Grenze nun eine sittliche Grenze meint? Der Held ist immer noch eine transgressive Figur, übertritt aber gesellschaftliche Konventionen und moralische Gesetze.
Die Figur des Freundes kann man deshalb auch als poetologische Metapher für das Erzählen derartig sittlich-transgressiver Romane auffassen: Gegenüber dem Protagonisten verkörpert er eine Art moralischen Kreditgeber (tatsächlich gibt er ihm ja auch Geld) und damit vielleicht auch die inhärente moralische Ambivalenz des Lesens/Zuhörens einer Geschichte insgesamt. Denn fordert nicht jede – gut erzählte – Geschichte ein freundschaftliches Entgegenkommen ein, angefangen mit der Geduld des Zuhörens über den Trost des Verständnisses bis hin zu der Bereitschaft, sich kompromittieren zu lassen?
Freundschaft ist deshalb aber nicht das ‚interessantere Konzept‘, so funktioniert der Text doch gar nicht! Amour fou und Freundschaft werden nicht gegeneinander getestet und am Ende ist die Freundschaft noch übrig. Nein, beide sind für den Text strukturell maßgeblich, das eine als inhaltliches Zentrum, das andere als moralische Bedingung seiner Erzählbarkeit, die sich in einer bestimmten Form, der Erzählsituation der Rahmenhandlung, niederschlägt. Ob Freundschaft lebenspraktisch das interessantere Konzept ist, wäre wiederum eine andere Frage.
Nun gut, anscheinend hat meine Erinnerung mir tatsächlich einen kleinen Streich gespielt. Dennoch habe ich Deine kleine Erzählung mit großen Genuss gelesen, vielen Dank, Alexander! Und wenn ich mir das alles ganz anders vorgestellt habe, so nur – oder zumindest auch (!) –, weil ich es dir von ganzem Herzen gegönnt hätte! Zukünftig werde ich mich lieber an das Original halten, deshalb auch die Frage an Sidonie: Wie weit bist du mit Deiner Lektüre?
PS: Auf der Rückfahrt bin ich beim Einsteigen in den Zug ausgerechnet in die beiden „Sieztanten“ gestolpert. Die haben mir aus Mitleid gegenüber meinem Zustand im Bordbistro einen Kaffee nach dem anderen spendiert. Als wir in Berlin angekommen sind, waren wir fast so etwas wie Freunde und haben uns sogar zum Salsa tanzen verabredet. Das war ein bisschen unheimlich. Wie ihr euch denken könnt, ist dieses Date aber nie zu Stande gekommen. (Sehe ich etwa aus, als wolle ich zwischen irgendwelchen Kieferorthopäden, Versicherungsvertretern und Optikern – Typus: tailliertes Hemd in der Hose, brauner Ledergürtel, rahmenloses Brillengestell – meinen Hüftschwung üben? Salsa ist das Letzte!)
Es ist schon ein starkes Stück, dass ihr mich regelrecht dazu zwingt, hier so eine intime Geschichte zu erzählen. Ich muss dich auch gleich enttäuschen, lieber Felix, deine Imagination ist mal wieder mit dir durchgebrannt: es war mit Sicherheit alles ganz anders, als du es dir vorstellst (da sieht man mal wieder, was die Lektüre von Romanen den Leuten antut). Zunächst einmal bin ich etwas darüber verwirrt, dass du diese Episode nach Salem verlegst, wo ich noch nie im Leben war. Das einzige Mal, dass wir uns ein Zimmer geteilt haben, war auf dem Kolleg in Greifswald, ganz am anderen Ende Deutschlands, und das ist jetzt schon so lange her, dass ich erst einmal in meinem Tagebuch nachlesen musste, um mir das alles wieder richtig in Erinnerung zu rufen.
Aus meinen Aufzeichnungen geht hervor, dass ich bereits sehr schlecht gelaunt an die Ostsee gereist bin. Meine damalige Freundin (ja, ich meine Lenna) und ich hatten uns gerade getrennt und die Aussicht auf eine Woche Diskussion über „Ästhetik nach Kant: Chancen und Probleme“ hatte meine Stimmung nicht unbedingt verbessert. In meiner Gruppe lag die Arbeitsmoral am Boden, was über allerlei zwischenmenschliche Zumutungen kompensiert wurde: so ließen sich zum Beispiel unsere Dozentinnen plötzlich nicht mehr mit Nach-, sondern mit Vornamen ansprechen, weil sie mitbekommen hatten, dass das in einigen anderen Arbeitsgruppen schon längst der Fall war und sie nun selbst nicht mehr als, wie es eine von ihnen ausdrückte, „Sieztanten“ dastehen wollten.
Es gab in dieser Woche einige Exkursionen nach Rügen oder Szczecin, vor denen ich mich aus einem reichlich nervösen Ruhebedürfnis gedrückt habe. Stattdessen bin ich über die an unsere Herberge grenzenden Felder spaziert oder habe Kuchen gegessen. Auf einem meiner Spaziergänge sind mir am Ende eines Feldweges T. und L. (ich bin mal so rücksichtsvoll, ihre Namen nicht auszuschreiben) aufgefallen, die zu zweit auf einer Steinbank saßen und in ein Gespräch vertieft schienen. Da ich keine Lust hatte, mich mit irgendjemandem zu unterhalten, bin ich umgedreht und habe mich in unserem Zimmer aufs Bett gelegt, um zu lesen (passender Zufall: Der gelbe Bleistift von Christian Kracht!).
Im Verlauf der Woche konnte man T. und L. immer wieder eng beieinander stehen sehen und dabei, ohne, dass sie sich irgendwie berührt oder vertrottelt Händchen gehalten hätten, aus ihren müden, aber vertrauensvollen Blicken darauf schließen, dass sie schon in der Nacht über alles gesprochen hatten, dass zwischen ihnen alles wichtige gesagt worden war oder in kommenden Nächten gesagt werden würde und dass sie deshalb tagsüber in beinahe stillem Einverständnis nebeneinander sein konnten, ohne noch viel zu reden. Ich dachte sogar, dass es die für Außenstehende so offensichtliche wie verschwörerische Tiefe ihrer Beziehung verletzt hätte, hätten sie ihr Gespräch im Beisein anderer fortgesetzt.
Der letzte Tag vor unserer Abreise hatte nun besondere Strapazen für mich bereit. Beim Mittagessen hatte ich mich mit irgendeinem Kommilitonen über eine Stelle bei Kant in die Haare gekriegt (ich glaube, es ging um den Begriff der ‚Hypotypose‘ in §59 der Kritik der Urteilskraft und die Frage, ob Kant damit ein analogisches Verhältnis von Ethik und Ästhetik behauptet), ja richtig gestritten und beinahe angeschrien und obwohl ich hinterher dir gegenüber, Felix, behauptet hatte, es gehe mir gut, habe ich ehrlich gesagt noch am Nachmittag angefangen, Schnaps zu trinken. Am Abendbrottisch war ich im Grunde schon vollkommen erledigt und von allem genervt, insbesondere von F., der die ganze Woche über den Clown des Kollegs gespielt hatte. Als dieser nun in die Stille einer kurzen Gesprächspause hinein sagte: „Ey Alex, kennste Alpenpornos?“, konnte ich mich nicht mehr halten, habe laut angefangen zu lachen und musste mir schon bald mit einer Serviette die Tränen aus dem Gesicht wischen. F., der meinen Ausbruch nicht als Verzweiflung, sondern als Zustimmung aufgefasst hatte, fing jetzt leider an, einige (fiktive?) vermeintlich lustige Pornotitel aufzusagen, die zu wiederholen ich euch an dieser Stelle lieber erspare. Er merkte gar nicht, dass der Rest des Tisches nicht mit, sondern vielmehr über ihn lachte. Da muss man ja verrückt werden.
Nach den Abendvorträgen saß ich also völlig debil in der „Scheune“ (so hieß der Raum, den man uns zum Betrinken zugewiesen hatte) und musste nun folgendes Gespräch zwischen den beiden ehemaligen „Sieztanten“ und einem anderen Dozenten mithören: Dozentin 1: „Ich bin am Anfang immer voll dabei, in der Mitte lasse ich ein bisschen nach, aber am Ende bin ich wieder voll da!“ Dozentin 2: „Bei allem?“ Dozentin 1: „Bei allem!? Dozentin 2: „Bei allem!!!“ Während die beiden nun schon über den sexuellen Vibe ihres Gesprächs kicherten, fragte der dabeistehende, offensichtlich für jegliche Form von Unterton unempfängliche Dozent in aller Unschuld: „Auch im Seminarraum?“ Da hat es mir endgültig gereicht: Ich habe mir meine Flasche geschnappt und bin an die frische Luft gegangen, um dem allen zu entfliehen.
Direkt neben der Tür saßen T. und L. auf einem kleinen Vorsprung. Im ersten Moment hatte ich das Gefühl, die beiden zu stören und wollte schon wieder reingehen, konnte mich dann aber doch nicht dazu entschließen, weil es mit Sicherheit völlig verwirrt gewirkt hätte. Weil die beiden meine Orientierungslosigkeit erraten (eher: gesehen) hatten, luden sie mich ein, mich zu ihnen zu setzen und so kam es, dass wir am Ende die ganze Nacht miteinander verbracht haben.
Zunächst saßen wir noch eine ganze Weile draußen. T. hatte mir eine Zigarette angeboten und ihr werdet sicherlich verstehen, dass ich in diesem Moment sofort bereit war, mein erst einige Monate zuvor begonnenes Nichtraucherprojekt wieder abzubrechen. Im Gegenzug schenkte ich den beiden großzügig aus meiner Flasche in ihre gerade noch mit Wein gefüllten Plastikbecher ein. T. legte mir seinen Arm um die Schulter und sagte sehr wissend: „totenhütte, sonnenschutz“. Mein Streitgespräch vom Mittagstisch hatte er mitgehört – und gab mir Recht. (Sollte er das auch nur zum Trost gesagt haben, würde ich es ihm dennoch oder gerade deshalb sehr hoch anrechnen.) Die Gespräche dieser Nacht wiederzugeben, bin ich nicht mehr in der Lage. Sagen wir, es ging um erste und letzte Dinge: Liebe, Sex und Zärtlichkeit. Ein kleiner broken hearts club, den wir irgendwann, als es uns draußen zu kalt wurde, auf dem Zimmer von L. fortsetzten, bis die Flasche schließlich leer war. Du hast dir sicherlich eine andere Form von Intimität vorgestellt, Felix — und ja: es lag durchaus etwas in der Luft, es gab da eine Spannung, das Wissen um die Möglichkeit, usw. usf. Das einzige aber, was passiert ist: dass die beiden mich für ein paar Stunden Teil ihrer Verschwörung haben sein lassen; dass wir gemeinsam für eine Weile das ganze unerträgliche Geschwätz des Tages hinter uns gelassen und uns von ganzem Herzen unterhalten haben. (Ich freue mich gerade, dass ihr mich dazu gebracht habt, euch diese Geschichte zu erzählen.)
Wie ich an den Bademantel gekommen bin? Wegen Überbuchung hatte L. ein luxuriöser ausgestattetes Einzelzimmer zugewiesen bekommen und da hing in ihrem Bad eben ein Bademantel. Den habe ich mir übergezogen, bevor ich den beiden zum Abschied einen Kuss gegeben und sie dann allein gelassen habe. So bin ich zurück in unser Zimmer gekommen und ich werde dir für immer dankbar sein, Felix, dass du eine Stunde später meinen Koffer für mich gepackt hast. Ich selbst wäre dazu nicht mehr in der Lage gewesen.
Aus meinen Aufzeichnungen geht hervor, dass ich bereits sehr schlecht gelaunt an die Ostsee gereist bin. Meine damalige Freundin (ja, ich meine Lenna) und ich hatten uns gerade getrennt und die Aussicht auf eine Woche Diskussion über „Ästhetik nach Kant: Chancen und Probleme“ hatte meine Stimmung nicht unbedingt verbessert. In meiner Gruppe lag die Arbeitsmoral am Boden, was über allerlei zwischenmenschliche Zumutungen kompensiert wurde: so ließen sich zum Beispiel unsere Dozentinnen plötzlich nicht mehr mit Nach-, sondern mit Vornamen ansprechen, weil sie mitbekommen hatten, dass das in einigen anderen Arbeitsgruppen schon längst der Fall war und sie nun selbst nicht mehr als, wie es eine von ihnen ausdrückte, „Sieztanten“ dastehen wollten.
Es gab in dieser Woche einige Exkursionen nach Rügen oder Szczecin, vor denen ich mich aus einem reichlich nervösen Ruhebedürfnis gedrückt habe. Stattdessen bin ich über die an unsere Herberge grenzenden Felder spaziert oder habe Kuchen gegessen. Auf einem meiner Spaziergänge sind mir am Ende eines Feldweges T. und L. (ich bin mal so rücksichtsvoll, ihre Namen nicht auszuschreiben) aufgefallen, die zu zweit auf einer Steinbank saßen und in ein Gespräch vertieft schienen. Da ich keine Lust hatte, mich mit irgendjemandem zu unterhalten, bin ich umgedreht und habe mich in unserem Zimmer aufs Bett gelegt, um zu lesen (passender Zufall: Der gelbe Bleistift von Christian Kracht!).
Im Verlauf der Woche konnte man T. und L. immer wieder eng beieinander stehen sehen und dabei, ohne, dass sie sich irgendwie berührt oder vertrottelt Händchen gehalten hätten, aus ihren müden, aber vertrauensvollen Blicken darauf schließen, dass sie schon in der Nacht über alles gesprochen hatten, dass zwischen ihnen alles wichtige gesagt worden war oder in kommenden Nächten gesagt werden würde und dass sie deshalb tagsüber in beinahe stillem Einverständnis nebeneinander sein konnten, ohne noch viel zu reden. Ich dachte sogar, dass es die für Außenstehende so offensichtliche wie verschwörerische Tiefe ihrer Beziehung verletzt hätte, hätten sie ihr Gespräch im Beisein anderer fortgesetzt.
Der letzte Tag vor unserer Abreise hatte nun besondere Strapazen für mich bereit. Beim Mittagessen hatte ich mich mit irgendeinem Kommilitonen über eine Stelle bei Kant in die Haare gekriegt (ich glaube, es ging um den Begriff der ‚Hypotypose‘ in §59 der Kritik der Urteilskraft und die Frage, ob Kant damit ein analogisches Verhältnis von Ethik und Ästhetik behauptet), ja richtig gestritten und beinahe angeschrien und obwohl ich hinterher dir gegenüber, Felix, behauptet hatte, es gehe mir gut, habe ich ehrlich gesagt noch am Nachmittag angefangen, Schnaps zu trinken. Am Abendbrottisch war ich im Grunde schon vollkommen erledigt und von allem genervt, insbesondere von F., der die ganze Woche über den Clown des Kollegs gespielt hatte. Als dieser nun in die Stille einer kurzen Gesprächspause hinein sagte: „Ey Alex, kennste Alpenpornos?“, konnte ich mich nicht mehr halten, habe laut angefangen zu lachen und musste mir schon bald mit einer Serviette die Tränen aus dem Gesicht wischen. F., der meinen Ausbruch nicht als Verzweiflung, sondern als Zustimmung aufgefasst hatte, fing jetzt leider an, einige (fiktive?) vermeintlich lustige Pornotitel aufzusagen, die zu wiederholen ich euch an dieser Stelle lieber erspare. Er merkte gar nicht, dass der Rest des Tisches nicht mit, sondern vielmehr über ihn lachte. Da muss man ja verrückt werden.
Nach den Abendvorträgen saß ich also völlig debil in der „Scheune“ (so hieß der Raum, den man uns zum Betrinken zugewiesen hatte) und musste nun folgendes Gespräch zwischen den beiden ehemaligen „Sieztanten“ und einem anderen Dozenten mithören: Dozentin 1: „Ich bin am Anfang immer voll dabei, in der Mitte lasse ich ein bisschen nach, aber am Ende bin ich wieder voll da!“ Dozentin 2: „Bei allem?“ Dozentin 1: „Bei allem!? Dozentin 2: „Bei allem!!!“ Während die beiden nun schon über den sexuellen Vibe ihres Gesprächs kicherten, fragte der dabeistehende, offensichtlich für jegliche Form von Unterton unempfängliche Dozent in aller Unschuld: „Auch im Seminarraum?“ Da hat es mir endgültig gereicht: Ich habe mir meine Flasche geschnappt und bin an die frische Luft gegangen, um dem allen zu entfliehen.
Direkt neben der Tür saßen T. und L. auf einem kleinen Vorsprung. Im ersten Moment hatte ich das Gefühl, die beiden zu stören und wollte schon wieder reingehen, konnte mich dann aber doch nicht dazu entschließen, weil es mit Sicherheit völlig verwirrt gewirkt hätte. Weil die beiden meine Orientierungslosigkeit erraten (eher: gesehen) hatten, luden sie mich ein, mich zu ihnen zu setzen und so kam es, dass wir am Ende die ganze Nacht miteinander verbracht haben.
Zunächst saßen wir noch eine ganze Weile draußen. T. hatte mir eine Zigarette angeboten und ihr werdet sicherlich verstehen, dass ich in diesem Moment sofort bereit war, mein erst einige Monate zuvor begonnenes Nichtraucherprojekt wieder abzubrechen. Im Gegenzug schenkte ich den beiden großzügig aus meiner Flasche in ihre gerade noch mit Wein gefüllten Plastikbecher ein. T. legte mir seinen Arm um die Schulter und sagte sehr wissend: „totenhütte, sonnenschutz“. Mein Streitgespräch vom Mittagstisch hatte er mitgehört – und gab mir Recht. (Sollte er das auch nur zum Trost gesagt haben, würde ich es ihm dennoch oder gerade deshalb sehr hoch anrechnen.) Die Gespräche dieser Nacht wiederzugeben, bin ich nicht mehr in der Lage. Sagen wir, es ging um erste und letzte Dinge: Liebe, Sex und Zärtlichkeit. Ein kleiner broken hearts club, den wir irgendwann, als es uns draußen zu kalt wurde, auf dem Zimmer von L. fortsetzten, bis die Flasche schließlich leer war. Du hast dir sicherlich eine andere Form von Intimität vorgestellt, Felix — und ja: es lag durchaus etwas in der Luft, es gab da eine Spannung, das Wissen um die Möglichkeit, usw. usf. Das einzige aber, was passiert ist: dass die beiden mich für ein paar Stunden Teil ihrer Verschwörung haben sein lassen; dass wir gemeinsam für eine Weile das ganze unerträgliche Geschwätz des Tages hinter uns gelassen und uns von ganzem Herzen unterhalten haben. (Ich freue mich gerade, dass ihr mich dazu gebracht habt, euch diese Geschichte zu erzählen.)
Wie ich an den Bademantel gekommen bin? Wegen Überbuchung hatte L. ein luxuriöser ausgestattetes Einzelzimmer zugewiesen bekommen und da hing in ihrem Bad eben ein Bademantel. Den habe ich mir übergezogen, bevor ich den beiden zum Abschied einen Kuss gegeben und sie dann allein gelassen habe. So bin ich zurück in unser Zimmer gekommen und ich werde dir für immer dankbar sein, Felix, dass du eine Stunde später meinen Koffer für mich gepackt hast. Ich selbst wäre dazu nicht mehr in der Lage gewesen.
Ich nehme die Provokation an und antworte ausnahmsweise nicht erst am Wochenende. In Bezug auf Alexander lasst mich nur so viel sagen: eines der letzten Erinnerungsbilder, das ich von ihm aus der Zeit unserer gemeinsam absolvierten Sommerakademie an der Schule Schloss Salem habe, zeigt Alexander, wie er um sechs Uhr morgens in einem – definitiv nicht seinem – Bademantel zurück auf unser Zimmer kommt. Die Geschichte seines eigenen Point de lendemain – das freut mich, Sidonie! – muss er, das werdet Ihr verstehen, selbst erzählen – sofern er denn möchte.
Lasst mich stattdessen einige allgemeinere Observationen zu den sozialen Verkehrsformen auf diesen Veranstaltungen anhängen: Diese sind in der Regel sowohl fachlicher Art, als auch auf plaisir gerichtet. Auf Sommerakademien ist für ersteres der Vormittag reserviert, für letzteres der Rest des Tages. Das Anbandeln beginnt zumeist unmittelbar nach der Ankunft, manchmal wird auch an Liebschaften von vorangegangen Veranstaltungen angeknüpft. Auf der Akademie, an der Alexander und ich vor zwei Jahren teilgenommen haben, konnte man schon im Verlauf der ersten Woche eine Vielzahl an Paarbildungen beobachten. Das funktionierte dort u. a. über abendliche Feiern, von denen ich mich aufgrund einer noch fertigzustellenden Hausarbeit fernhalten musste. Daneben gab es ein Whiteboard für die Organisation von Gruppenaktivitäten, auf dem sich immer offensichtlichere Angebote wie „In der Turnhalle auf der großen Matte liegen (Massage)“ fanden. Zwischen den die Schule umgebenden Weinreben konnte man Pärchen liegen sehen und morgens, auf dem Weg zum Frühstück, Jungs dabei beobachten, wie sie sich aus dem Mädchenbau schlichen. Großes Gelächter hat ein Mathematiker verursacht, der mehrere Tage hintereinander in einem ausgewaschenen T-Shirt mit dem Aufdruck ›Rational Chic‹ herumgelaufen ist. Zum ersten Mal sah ich ihn eng mit einem Mädchen beisammensitzen, den Arm um ihre Schultern gelegt und die Augen auf ein Lehrbuch gerichtet, aus dem beide gemeinsam lasen und sich Notizen machten. Zwei Jungen aus meiner Arbeitsgruppe haben diese Szene in etwa so kommentiert: „Die hatte doch vorgestern noch was mit dem Chemiker.“ – „Mit dem Hochbegabten?“ – „Nein, der andere Mathematiker ist der Hochbegabte.“ – „Du meinst den Großen?“ – „Den von unserem Flur.“ – „Keine Ahnung.“ Wenn Mr. ›Rational Chic‹ und seine neue Freundin nicht gerade im Musikzimmer Duette sangen, lagen sie auf der Wiese vor der Kirche, sie zwischen seinen gespreizten Beinen sitzend, mit dem Rücken an seine Brust gelehnt, sodass er ihr gemütlich vor den Augen der verwirrt vorbeistolpernden Touristen von hinten… Am Abschlussabend wurde am Whiteboard sogar eine Liste ausgehängt, auf der – zwecks plaisir – Zimmerwechsel organisiert werden konnten. Bei der Elitenförderung wird nichts dem Zufall überlassen. In einem der Nachbarzimmer war der Hochbegabte tätig, glaube ich.
Lasst mich stattdessen einige allgemeinere Observationen zu den sozialen Verkehrsformen auf diesen Veranstaltungen anhängen: Diese sind in der Regel sowohl fachlicher Art, als auch auf plaisir gerichtet. Auf Sommerakademien ist für ersteres der Vormittag reserviert, für letzteres der Rest des Tages. Das Anbandeln beginnt zumeist unmittelbar nach der Ankunft, manchmal wird auch an Liebschaften von vorangegangen Veranstaltungen angeknüpft. Auf der Akademie, an der Alexander und ich vor zwei Jahren teilgenommen haben, konnte man schon im Verlauf der ersten Woche eine Vielzahl an Paarbildungen beobachten. Das funktionierte dort u. a. über abendliche Feiern, von denen ich mich aufgrund einer noch fertigzustellenden Hausarbeit fernhalten musste. Daneben gab es ein Whiteboard für die Organisation von Gruppenaktivitäten, auf dem sich immer offensichtlichere Angebote wie „In der Turnhalle auf der großen Matte liegen (Massage)“ fanden. Zwischen den die Schule umgebenden Weinreben konnte man Pärchen liegen sehen und morgens, auf dem Weg zum Frühstück, Jungs dabei beobachten, wie sie sich aus dem Mädchenbau schlichen. Großes Gelächter hat ein Mathematiker verursacht, der mehrere Tage hintereinander in einem ausgewaschenen T-Shirt mit dem Aufdruck ›Rational Chic‹ herumgelaufen ist. Zum ersten Mal sah ich ihn eng mit einem Mädchen beisammensitzen, den Arm um ihre Schultern gelegt und die Augen auf ein Lehrbuch gerichtet, aus dem beide gemeinsam lasen und sich Notizen machten. Zwei Jungen aus meiner Arbeitsgruppe haben diese Szene in etwa so kommentiert: „Die hatte doch vorgestern noch was mit dem Chemiker.“ – „Mit dem Hochbegabten?“ – „Nein, der andere Mathematiker ist der Hochbegabte.“ – „Du meinst den Großen?“ – „Den von unserem Flur.“ – „Keine Ahnung.“ Wenn Mr. ›Rational Chic‹ und seine neue Freundin nicht gerade im Musikzimmer Duette sangen, lagen sie auf der Wiese vor der Kirche, sie zwischen seinen gespreizten Beinen sitzend, mit dem Rücken an seine Brust gelehnt, sodass er ihr gemütlich vor den Augen der verwirrt vorbeistolpernden Touristen von hinten… Am Abschlussabend wurde am Whiteboard sogar eine Liste ausgehängt, auf der – zwecks plaisir – Zimmerwechsel organisiert werden konnten. Bei der Elitenförderung wird nichts dem Zufall überlassen. In einem der Nachbarzimmer war der Hochbegabte tätig, glaube ich.

Schaut, was heute angekommen ist! Werde es gleich am Wochenende lesen! (PS: Nicht streiten.)
Ach, Felix, du bist wirklich ein Held der Arbeit! Jetzt wissen wir zumindest auch, warum du uns immer nur am Wochenende mit deinen Wortmeldungen beglückst. Ein bisschen klingt es bei dir aber auch nach dieser unheilvollen „Mischung aus Arroganz und Larmoyanz“, von der Peter Strohschneider neulich in einem Interview in der ZEIT gesprochen hat. Wenn du allen, die nicht Deutsche Klassik im Europäischen Kontext studieren, die Befähigung zu gründlichem Denken absprichst… Schon gut, schon gut, ich weiß, du meinst es nicht so.
Da ich mal davon ausgehe, dass du mit der Person, auf die du Rücksicht nimmst, nicht Sidonie meinst (davon wüsste ich): Was hat Alexander wieder angestellt?
Da ich mal davon ausgehe, dass du mit der Person, auf die du Rücksicht nimmst, nicht Sidonie meinst (davon wüsste ich): Was hat Alexander wieder angestellt?
Warum ich mein Interesse an einem lebensweltlichen Problemzusammenhang in der Literaturgeschichte erkunde, statt in der – sogenannten – Wirklichkeit? Lenna! Ich weiß gar nicht, wo ich ansetzen soll. Gerade Du solltest doch ein klares Bewusstsein dafür haben, dass die Realität einer Gesellschaft scheinhafter und imaginativ verzerrter ist als ein fiktionaler Text es je sein könnte, zumal wenn man ihn mit einem gewissen historischen Abstand liest.
Einen etwas objektiveren Grund, warum die Beschäftigung mit dem 18. Jh. besonders fruchtbar ist, nennt Alexander Kluge in seinem Nachtwort zu Mme La Fayettes Princesse de Clèves – ein Roman, über den wir uns unbedingt noch austauschen sollten! Kluge bemerkt, dass ab 1700 in der Aristokratie ein normativer Wandel hin zu einem (proto-)bürgerlichen Bewusstsein sich abzeichnet, ohne dass der Hochadel den sozioökonomischen Restriktionen des Bürgertums bereits unterliege. Das ganze 18. Jh. kann man als einen derartigen Übergangszeitraum betrachten, in dem sich ein Bewusstseinswandel aufgrund der großen Freiheit seiner adeligen Trägerschicht sehr ausdrucksvoll und reichhaltig manifestieren kann, z. B. in Literatur.
Außerdem wolltest Du, wenn ich Dich richtig verstehe, auch wissen, warum ich einen freieren Umgang mit der Liebe aus einer Distanz von 200 bis 300 Jahren beobachte, statt selbst zu handeln und mich in der eigenen Gegenwart und in den eigenen Kontexten für eine freiere Praxis zu engagieren? Nun, tue ich nicht das eine, indem ich das andere betreibe? Davon bin ich überzeugt, wenn auch die philologische Vorgehensweise heuristischen Mehraufwand betreibt, der für die meisten unserer Zeitgenoss/Innen vermutlich wenig attraktiv ist. Historische und (fremd-)sprachliche Umwege, geduldiges Lesen, auch um das Thema herum, die gründliche oder wenigstens umfängliche Zurkenntnisnahme der Forschungsliteratur… Wer erlegt sich derartige Zumutungen auf, wenn der erotischen Unterversorgtheit doch einfach per App abgeholfen werden kann?
Diese Fetischisierung des direkten Zugriffs auf Probleme, des unmittelbar lösungsorientierten Handelns, von der unsere Zeit geprägt ist, scheint mir an der Oberfläche das beherzte Zupacken des homo pragmaticus zu verkörpern. Ein nüchterner Blick auf die Verhältnisse macht indessen zweifellos klar, wie hilflos und an der Wirklichkeit vorbei an diesem Ideal reiner Machbarkeit festgehalten wird. Ich dagegen teile den „Hang zum Indirekten“, von dem André Gide spricht: eine Inklination, die sowohl ästhetische als auch moralische Vorlieben nach sich zieht.
Schließlich: Will ich die Paradoxie, von der wir ausgegangen sind, letztlich überhaupt lösen? Dass eine Beziehung auf Leidenschaft und Pflichtbewusstsein beruhen soll, ist ja nicht allein ein Paradox, sondern zugleich ein hohes Ideal. Meine Beschäftigung mit der historischen Behandlung von Liebe ist vielleicht mehr eine aufwändig verlängerte Ratlosigkeit anstatt eines aufmüpfigen Besserwissens, von dem die sogenannten ‚alternativen Lebensformen‘ heutzutage ja unerfreulicherweise regelrecht überformt sind.
Ich bin Teil meiner Gegenwart und lebe und handle innerhalb ihrer Widersprüche. Über diese kann ich mich nicht einfach erheben und der gute Vorsatz allein wird nicht verhindern, dass Menschen sich in neue Widersprüche verstricken, neue Unfreiheiten produzieren und sich neuen Regeln unterwerfen, wenn sie sich, angefüllt mit ganz bestimmten, zeitgemäßen Absichten und Frustrationen, in Clubs organisieren oder polyamore Hybridbeziehungen führen, in denen auch stets eine arme Seele am stillen Ende der Aufmerksamkeitsverteilung platziert werden wird. Von der bodenlosen Peinlichkeit solcher trotzigen Befreiungsexzesse einmal ganz abgesehen. Und glaube mir, in der Studienstiftung wird man Zeuge erotischer Entgrenzungsversuche, die, wenn schon nicht an Attraktivität, so doch an Schamlosigkeit, dem Berliner Nachtleben wohl kaum nachstehen. Mit Rücksicht auf eine andere Person in diesem Message Board, werde ich mich in dieser Hinsicht allerdings in Diskretion zu üben wissen.
Einen etwas objektiveren Grund, warum die Beschäftigung mit dem 18. Jh. besonders fruchtbar ist, nennt Alexander Kluge in seinem Nachtwort zu Mme La Fayettes Princesse de Clèves – ein Roman, über den wir uns unbedingt noch austauschen sollten! Kluge bemerkt, dass ab 1700 in der Aristokratie ein normativer Wandel hin zu einem (proto-)bürgerlichen Bewusstsein sich abzeichnet, ohne dass der Hochadel den sozioökonomischen Restriktionen des Bürgertums bereits unterliege. Das ganze 18. Jh. kann man als einen derartigen Übergangszeitraum betrachten, in dem sich ein Bewusstseinswandel aufgrund der großen Freiheit seiner adeligen Trägerschicht sehr ausdrucksvoll und reichhaltig manifestieren kann, z. B. in Literatur.
Außerdem wolltest Du, wenn ich Dich richtig verstehe, auch wissen, warum ich einen freieren Umgang mit der Liebe aus einer Distanz von 200 bis 300 Jahren beobachte, statt selbst zu handeln und mich in der eigenen Gegenwart und in den eigenen Kontexten für eine freiere Praxis zu engagieren? Nun, tue ich nicht das eine, indem ich das andere betreibe? Davon bin ich überzeugt, wenn auch die philologische Vorgehensweise heuristischen Mehraufwand betreibt, der für die meisten unserer Zeitgenoss/Innen vermutlich wenig attraktiv ist. Historische und (fremd-)sprachliche Umwege, geduldiges Lesen, auch um das Thema herum, die gründliche oder wenigstens umfängliche Zurkenntnisnahme der Forschungsliteratur… Wer erlegt sich derartige Zumutungen auf, wenn der erotischen Unterversorgtheit doch einfach per App abgeholfen werden kann?
Diese Fetischisierung des direkten Zugriffs auf Probleme, des unmittelbar lösungsorientierten Handelns, von der unsere Zeit geprägt ist, scheint mir an der Oberfläche das beherzte Zupacken des homo pragmaticus zu verkörpern. Ein nüchterner Blick auf die Verhältnisse macht indessen zweifellos klar, wie hilflos und an der Wirklichkeit vorbei an diesem Ideal reiner Machbarkeit festgehalten wird. Ich dagegen teile den „Hang zum Indirekten“, von dem André Gide spricht: eine Inklination, die sowohl ästhetische als auch moralische Vorlieben nach sich zieht.
Schließlich: Will ich die Paradoxie, von der wir ausgegangen sind, letztlich überhaupt lösen? Dass eine Beziehung auf Leidenschaft und Pflichtbewusstsein beruhen soll, ist ja nicht allein ein Paradox, sondern zugleich ein hohes Ideal. Meine Beschäftigung mit der historischen Behandlung von Liebe ist vielleicht mehr eine aufwändig verlängerte Ratlosigkeit anstatt eines aufmüpfigen Besserwissens, von dem die sogenannten ‚alternativen Lebensformen‘ heutzutage ja unerfreulicherweise regelrecht überformt sind.
Ich bin Teil meiner Gegenwart und lebe und handle innerhalb ihrer Widersprüche. Über diese kann ich mich nicht einfach erheben und der gute Vorsatz allein wird nicht verhindern, dass Menschen sich in neue Widersprüche verstricken, neue Unfreiheiten produzieren und sich neuen Regeln unterwerfen, wenn sie sich, angefüllt mit ganz bestimmten, zeitgemäßen Absichten und Frustrationen, in Clubs organisieren oder polyamore Hybridbeziehungen führen, in denen auch stets eine arme Seele am stillen Ende der Aufmerksamkeitsverteilung platziert werden wird. Von der bodenlosen Peinlichkeit solcher trotzigen Befreiungsexzesse einmal ganz abgesehen. Und glaube mir, in der Studienstiftung wird man Zeuge erotischer Entgrenzungsversuche, die, wenn schon nicht an Attraktivität, so doch an Schamlosigkeit, dem Berliner Nachtleben wohl kaum nachstehen. Mit Rücksicht auf eine andere Person in diesem Message Board, werde ich mich in dieser Hinsicht allerdings in Diskretion zu üben wissen.
PS: Was die kaum noch latente Xenophobie in der Wahl der Schule angeht, gebe ich dir Recht. Aber können wir bitte aufhören, uns über Essen zu unterhalten? Ist uns denn so langweilig, dass uns keine interessanten Themen einfallen? Felix, du bist mir übrigens noch eine Antwort schuldig!
Auch im Nachhinein finde ich es wirklich schwierig, aus der Distanz etwas über die Poetikvorlesung zu sagen, halte es Kracht aber auf jeden Fall zugute, dass er, was sich als Autobiographie extrem gut verkauft hätte, in Frankfurt derart abgefackelt hat. Dass das alles nun Poetik heißt, ist sicherlich ein heilsamer Stock in die Speichen einer ahistorischen Postmoderne-Forschung. Andererseits leben wir in einer Zeit, in der subjektive Betroffenheit zumeist das letzte Wort in konfliktträchtigen Situationen bekommt, auch in Sachen Kunst. Insofern ist Krachts Offenlegung wiederum ziemlich zeitgeistig – die zentrale Überbietung mag wiederum wohl darin, dass er ein Mann ist und damit ein gewisses Klischee aufbricht. Erinnert ihr euch übrigens an den Vortrag, den Elias auf dem Unform-Workshop gehalten hat? Seine Thesen über Salem und den institutionsindizierten Nazispuk haben ja anscheinend den Kern von Kracht ‚Autorenpoetik’ getroffen!
Sidonie, es wird doch auf beiden Seiten Identitätspolitik betrieben und zwar mindestens auf Ebene der Klassenzugehörigkeit, vielleicht aber auch auf Ebene von nationaler Identität. Dieses „regional und saisonal“-Motto der Bio Märkte erscheint mir zum Beispiel sehr befremdlich, weil da mit der Konzentration auf Essen aus „teutschen Landen“ so eine gruselige Heimatverbundenheit anklingt, die sich mit der unhaltbaren Behauptung einer „ursprünglicheren“ Lebensmittelqualität verbindet. Dass an den Kartoffeln aus dem Bio-Markt dann auch noch unnötigerweise die ganze Erde vom heimischen Acker klebt, ist eine so geniale wie brutale Marketing-Idee: Da schwingt für mich ein fürchterlicher Subtext der Bodenhaftung mit, der mir vor dem Hintergrund des gerade in den letzten Jahren zunehmenden Konservatismus symptomatisch erscheint. Während die „neuen Bürgerlichen“ nun schon unverhohlen reaktionär sind, gibt sich das einkommensstarke, urbane Milieu zwar als liberal und weltoffen. Diese Gediegenheit zeigt aber oft genug eine wertkonservative und bigotte Grundhaltung: Spätestens dann, wenn sich Verteilungskämpfe abzeichnen (wie zum Beispiel in Sachen Schulbildung der Kinder), beruft man sich auf Ansprüche, die aus Leistung, Herkunft und Kultur abgeleitet werden und verteidigt diese zugleich als Privilegien. Eine „gute“ Schule in Berlin, das ist doch ein voll und ganz etablierter und komplett transparenter Euphemismus für eine Schule mit möglichst geringem „Ausländeranteil“. Man sucht und findet diese in den von mir beschriebenen Stadtteilen. Meine Befürchtung ist, dass der einzige wesentliche Unterschied zwischen der bewussten und der latenten bürgerlichen Lebensform darin besteht, dass erstere die politische Agenda bereits hat, die letztere bald genug übernehmen wird.
Gibt es eigentlich schon etwas Neues zu Kracht? Habe gestern oder vorgestern bloß einen reichlich nichtssagenden Artikel im Tagesspiegel gelesen.
Gibt es eigentlich schon etwas Neues zu Kracht? Habe gestern oder vorgestern bloß einen reichlich nichtssagenden Artikel im Tagesspiegel gelesen.
Unsere Beiträge sind mittlerweile so lang geworden, dass ich es manchmal schwierig finde, überhaupt die Zeit zu finden, auf all die Dinge, die nun gleichzeitig in Gespräch sind, gebührend zu antworten. Aber vielleicht muss das ja auch gar nicht immer passieren, vielleicht kann manches auch erst einmal offen bleiben und zu einem späteren Zeitpunkt wieder aufgegriffen werden. Ich werde nun zumindest nicht auf alles gleichzeitig antworten können.
Danke auf jeden Fall für deine umfangreichen Ausführungen, Felix! Ich habe mir Point de lendemain gerade bestellt und freue mich schon auf die Lektüre. Ich finde es übrigens schön, dass wir irgendwie alle einen gemeinsamen Nenner darin finden, dass unsere Vorstellungen von Beziehungen sich primär an Idealen der Freiheit orientieren, ohne damit die Idee der Verbindlichkeit notwendig aufgeben zu müssen. Sie gewinnt bloß eine ganz andere Form, da sie nicht als bestimmendes, sondern als bestimmtes Prinzip gedacht wird. Die Verbindlichkeit würde gerade darin bestehen, sich Freiheit nicht nur zu gewähren, sondern aktiv daran zu arbeiten, der Partnerin oder dem Partner Freiheit zu ermöglichen. (Das würde wohl bedeuten, dass die amour durch die plaisir bestimmt werden sollte.)
In Bezug auf deine (polemischen) Ausführungen zur Bürgerlichkeit, Alex, scheint es mir hilfreich und sogar entscheidend, einen Unterschied zu berücksichtigen, der bei dir hin und wieder anklingt, dem du dann aber nicht weiter zu folgen scheinst. Dieser Unterschied würde darin liegen, ob die „Bürgerlichkeit“ als Selbst- oder als Fremdzuschreibung gebraucht wird. Auf jeder Seite dieser Unterscheidung kann es mannigfaltige Formen geben, in denen sich der Bezug auf „Bürgerlichkeit“ konkretisiert. Vielleicht lassen sich aber zwei Tendenzen skizzieren, die das von dir gesagte bzw. beklagte charakterisieren. Als Selbstzuschreibung findet sich die „Bürgerlichkeit“ zuletzt wohl vor allem bei so unangenehmen Figuren wie Matthias Mattussek oder Jan Fleischhauer. Insbesondere bei ersterem wird unüberschaubar deutlich, dass die Berufung auf die „Bürgerlichkeit“ mit der Absicht auf eine Ab- und Ausgrenzung geschieht, da gebe ich dir Recht. Etwas anderes ist es doch aber, Leuten, die in Bio-Märkten einkaufen, in einem Akt der Fremdzuschreibung eine „Verbürgerlichung“ vorzuwerfen, nur weil sie – vielleicht mit verantwortungssethischem Sendungsbewusstsein, aber sicher nicht aus menschenverachtenden Motiven – versuchen, ihr komfortables Einkommen an der, wie sie glauben, richtigen Stelle auszugeben. Hilft dir diese Unterscheidung?
In Bezug auf Kracht glaube ich, dass der größte Fehler nun darin bestehen würde, die Poetikvorlesung als eine Art „Schlüssel“ dem „Werk“ gegenüberzustellen, anstatt sie als Teil desselben aufzufassen. Gerade die von dir angesprochene „Literarizität“ von Krachts Vortrag (soweit diese aus den wenigen Zitaten hervorgeht), aber auch die Tatsache, dass Kracht seine öffentliche „Offenbarung“ dadurch gleich wieder auratisiert (und vielleicht sogar ironisiert?), dass er jegliche Mitschnitte in Bild und Ton verbietet, weisen doch darauf hin, dass es sich hier – trotz oder zusätzlich zu aller Schüchternheit und Unsicherheit auf Seiten Krachts – um eine genuine Form der Inszenierung einer Offenbarung handelt. Ich bin deshalb um so gespannter, wie er in den nächsten Sitzungen fortfahren wird und lasse mich dann ggf. gerne eines Besseren belehren.
Danke auf jeden Fall für deine umfangreichen Ausführungen, Felix! Ich habe mir Point de lendemain gerade bestellt und freue mich schon auf die Lektüre. Ich finde es übrigens schön, dass wir irgendwie alle einen gemeinsamen Nenner darin finden, dass unsere Vorstellungen von Beziehungen sich primär an Idealen der Freiheit orientieren, ohne damit die Idee der Verbindlichkeit notwendig aufgeben zu müssen. Sie gewinnt bloß eine ganz andere Form, da sie nicht als bestimmendes, sondern als bestimmtes Prinzip gedacht wird. Die Verbindlichkeit würde gerade darin bestehen, sich Freiheit nicht nur zu gewähren, sondern aktiv daran zu arbeiten, der Partnerin oder dem Partner Freiheit zu ermöglichen. (Das würde wohl bedeuten, dass die amour durch die plaisir bestimmt werden sollte.)
In Bezug auf deine (polemischen) Ausführungen zur Bürgerlichkeit, Alex, scheint es mir hilfreich und sogar entscheidend, einen Unterschied zu berücksichtigen, der bei dir hin und wieder anklingt, dem du dann aber nicht weiter zu folgen scheinst. Dieser Unterschied würde darin liegen, ob die „Bürgerlichkeit“ als Selbst- oder als Fremdzuschreibung gebraucht wird. Auf jeder Seite dieser Unterscheidung kann es mannigfaltige Formen geben, in denen sich der Bezug auf „Bürgerlichkeit“ konkretisiert. Vielleicht lassen sich aber zwei Tendenzen skizzieren, die das von dir gesagte bzw. beklagte charakterisieren. Als Selbstzuschreibung findet sich die „Bürgerlichkeit“ zuletzt wohl vor allem bei so unangenehmen Figuren wie Matthias Mattussek oder Jan Fleischhauer. Insbesondere bei ersterem wird unüberschaubar deutlich, dass die Berufung auf die „Bürgerlichkeit“ mit der Absicht auf eine Ab- und Ausgrenzung geschieht, da gebe ich dir Recht. Etwas anderes ist es doch aber, Leuten, die in Bio-Märkten einkaufen, in einem Akt der Fremdzuschreibung eine „Verbürgerlichung“ vorzuwerfen, nur weil sie – vielleicht mit verantwortungssethischem Sendungsbewusstsein, aber sicher nicht aus menschenverachtenden Motiven – versuchen, ihr komfortables Einkommen an der, wie sie glauben, richtigen Stelle auszugeben. Hilft dir diese Unterscheidung?
In Bezug auf Kracht glaube ich, dass der größte Fehler nun darin bestehen würde, die Poetikvorlesung als eine Art „Schlüssel“ dem „Werk“ gegenüberzustellen, anstatt sie als Teil desselben aufzufassen. Gerade die von dir angesprochene „Literarizität“ von Krachts Vortrag (soweit diese aus den wenigen Zitaten hervorgeht), aber auch die Tatsache, dass Kracht seine öffentliche „Offenbarung“ dadurch gleich wieder auratisiert (und vielleicht sogar ironisiert?), dass er jegliche Mitschnitte in Bild und Ton verbietet, weisen doch darauf hin, dass es sich hier – trotz oder zusätzlich zu aller Schüchternheit und Unsicherheit auf Seiten Krachts – um eine genuine Form der Inszenierung einer Offenbarung handelt. Ich bin deshalb um so gespannter, wie er in den nächsten Sitzungen fortfahren wird und lasse mich dann ggf. gerne eines Besseren belehren.
Oh man, was sagt ihr zu der Poetikvorlesung von Christian Kracht? Schlimme Geschichte, das wird jetzt sicherlich zu einer schwierigen Diskussion über das Verhältnis von Biographie und Werk führen. (Ich musste dabei übrigens an einen längeren Artikel von Julia Encke über den George-Kreis denken, den ich letzte Woche gelesen habe und den ich euch gerne empfehlen würde: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/missbrauch-im-namen-stefan-georges-15586303.html)
Wenn ich mir die Texte, die bisher zu Kracht geschrieben wurden, so durchlese, scheint mir eine allgemeine Unbeholfenheit zu herrschen. Immer wieder klingt dort eine gewisse Sensationslust an, die sich auf zwei Dinge gleichzeitig zu richten scheint: zum einen auf die Geschichte über die Misshandlung im Kontext von „MeToo“, zum anderen auf die Tatsache, dass Kracht hier scheinbar einen „Lektüreschlüssel“ für sein eigenes Werk „übergibt“, indem er diese Geschichte selbst auf konkrete Figuren und Szenen aus seinen Romanen bezieht und daraus gewissermaßen eine „Urszene“ für sein Schreiben macht. Die Verunsicherung scheint mir nun unter anderem in der Frage zu liegen, wie man diesen „Schlüssel“ annehmen soll und ob sich eine moralische Problematik daraus ergeben würde, ihn, wenn auch nicht anzuzweifeln, so doch zumindest zu kontextualisieren, indem man zum Beispiel die Sprechsituation der Poetikvorlesung historisiert, seine eigene Literarizität benennt usw. (Mir ist zum Beispiel ein bestimmter Nebensatz aufgefallen, der in Krachts Beschreibung der Misshandlung auftaucht. Da heißt es: „…ich solle nicht nur meine Hose und meine Unterhose, an deren Farbe ich mich heute nicht mehr erinnern kann, herunterziehen, sondern mich sozusagen ganz nackt ausziehen…“ Dieser Einschub – „an deren Farbe ich mich heute nicht mehr erinnern kann“ – macht mich irgendwie fertig. Ein „détail inutile“ wird in Form der Negation aufgerufen, um die gesamte Erinnerungsproblematik zu thematisieren und zwar in einem vollkommen ästhetisierten Ton (für mich klingt das übrigens wieder stark nach Sebald, auch dieses „sozusagen“, ich will mich hier aber nicht all zu sehr auf meine Sebald-Abneigung versteigen).) Wie geht man damit um? Was fängt man damit an? Drängt sich hier wieder eine moralische Betrachtungsweise von Literatur auf? Was denkt ihr?
Wenn ich mir die Texte, die bisher zu Kracht geschrieben wurden, so durchlese, scheint mir eine allgemeine Unbeholfenheit zu herrschen. Immer wieder klingt dort eine gewisse Sensationslust an, die sich auf zwei Dinge gleichzeitig zu richten scheint: zum einen auf die Geschichte über die Misshandlung im Kontext von „MeToo“, zum anderen auf die Tatsache, dass Kracht hier scheinbar einen „Lektüreschlüssel“ für sein eigenes Werk „übergibt“, indem er diese Geschichte selbst auf konkrete Figuren und Szenen aus seinen Romanen bezieht und daraus gewissermaßen eine „Urszene“ für sein Schreiben macht. Die Verunsicherung scheint mir nun unter anderem in der Frage zu liegen, wie man diesen „Schlüssel“ annehmen soll und ob sich eine moralische Problematik daraus ergeben würde, ihn, wenn auch nicht anzuzweifeln, so doch zumindest zu kontextualisieren, indem man zum Beispiel die Sprechsituation der Poetikvorlesung historisiert, seine eigene Literarizität benennt usw. (Mir ist zum Beispiel ein bestimmter Nebensatz aufgefallen, der in Krachts Beschreibung der Misshandlung auftaucht. Da heißt es: „…ich solle nicht nur meine Hose und meine Unterhose, an deren Farbe ich mich heute nicht mehr erinnern kann, herunterziehen, sondern mich sozusagen ganz nackt ausziehen…“ Dieser Einschub – „an deren Farbe ich mich heute nicht mehr erinnern kann“ – macht mich irgendwie fertig. Ein „détail inutile“ wird in Form der Negation aufgerufen, um die gesamte Erinnerungsproblematik zu thematisieren und zwar in einem vollkommen ästhetisierten Ton (für mich klingt das übrigens wieder stark nach Sebald, auch dieses „sozusagen“, ich will mich hier aber nicht all zu sehr auf meine Sebald-Abneigung versteigen).) Wie geht man damit um? Was fängt man damit an? Drängt sich hier wieder eine moralische Betrachtungsweise von Literatur auf? Was denkt ihr?
Da nun vor allem von französischen Romanen die Sprache war, zuletzt noch die Frage: habt ihr Manon Lescaut (1731) von Abbé Prévost gelesen? Der Chevalier des Grieux ist unendlich in Manon verliebt und verwirft alle seine tugendhaften Lebensprinzipien, um mit ihr zusammen sein zu können. Immer wieder geht sie ihm fremd, dennoch bleibt er seiner Liebe treu. Auch sie beteuert immer wieder ihre unsterbliche Liebe für ihn, ihr Problem liegt jedoch darin, dass sie nicht in Armut leben kann: genau wie den Exzess der Leidenschaft, braucht sie den Exzess des materiellen Luxus. Und so ergehen die beiden sich in allerlei Betrügereien sowohl im Spiel, als auch in der Liebe. Sie brechen aus dem Gefängnis aus, der Chevalier hintergeht seine Freunde und Verwandte und er tötet sogar. Bis Manon irgendwann zur Strafe nach Amerika verschifft wird und der Chevalier ihr freiwillig folgt. (Damit kommt hier noch einmal eine ganz andere Verbindung in den Blick: nämlich nicht die von amour und marriage, sondern die wesentlich spannendere von amour und crime.) Was mich an dem Roman am meisten berührt, ist die Tatsache, dass der Chevalier einen Freund hat, der trotz allem so sehr zu ihm hält, dass er ihm am Ende sogar nach New Orleans hinterher reist, um ihn zu retten. Freundschaft ist doch einfach das viel interessantere Konzept als Liebe.
Als Snob verstehe ich mich definitiv. Allerdings muss ich dazu sagen, dass ich nicht in allen Dingen ein Snob bin. Meine Faustregel lautet in etwa so: je wichtiger eine Sache für das unmittelbare Überleben ist, desto weniger snobistisch verhalte ich mich ihr gegenüber. Je unwichtiger eine Sache ist, desto snobistischer. Deshalb ist mir zum Beispiel jeglicher Snobismus in Sachen Essen völlig fremd: Hauptsache, ich werde satt und es schmeckt nicht scheiße. Bei Laufsocken hingegen kommt es für mich nicht infrage, andere Socken als diejenigen der Firma Falke zu tragen, da bin ich zu keinem Kompromiss bereit und schaue unerbittlich auf all diejenigen herab, die in Nike, Adidas oder irgendwelchem No-Name-Stoff durch die Gegend rennen.
Was die Frage der Bürgerlichkeit angeht, so kann ich gewiss nicht abstreiten, dass ich meiner Herkunft und auch einem großen Teil meiner alltäglichen Beschäftigung nach „bürgerlich“ bin. Allerdings ist es mir völlig fremd, darin irgendeine Auszeichnung, irgendetwas positives zu sehen, mit dem ich mein Selbstverständnis schmücke. Im Deutschen gibt es ja auch nicht einmal die Unterscheidung zwischen „bourgeois“ und „citoyen“, wie es sie im Französischen gibt. Wie der „citizen“ im Englischen, bezeichnet der „citoyen“ den Staatsbürger, das ist ein genuin politischer Begriff. Dem deutschen „Bürger“ hingegen haftet immer ein gewisser Privatismus an: alles Politische wird hier ins Ethische „sublimiert“ und schlägt sich dann in so brutalen Ideen wie dem Berufsgedanken, der protestantischen Arbeitsethik, Pflicht, Ehre, Sparsamkeit, Monogamie usw. nieder. Man kann in Deutschland ja nicht einmal ernsthaft von der Existenz eines Großbürgertums sprechen, das sich darüber wieder erheben würde. Deutschland ist komplett kleinbürgerlich. Damit kann doch niemand ernsthaft etwas zu tun haben wollen.
Was die Frage der Bürgerlichkeit angeht, so kann ich gewiss nicht abstreiten, dass ich meiner Herkunft und auch einem großen Teil meiner alltäglichen Beschäftigung nach „bürgerlich“ bin. Allerdings ist es mir völlig fremd, darin irgendeine Auszeichnung, irgendetwas positives zu sehen, mit dem ich mein Selbstverständnis schmücke. Im Deutschen gibt es ja auch nicht einmal die Unterscheidung zwischen „bourgeois“ und „citoyen“, wie es sie im Französischen gibt. Wie der „citizen“ im Englischen, bezeichnet der „citoyen“ den Staatsbürger, das ist ein genuin politischer Begriff. Dem deutschen „Bürger“ hingegen haftet immer ein gewisser Privatismus an: alles Politische wird hier ins Ethische „sublimiert“ und schlägt sich dann in so brutalen Ideen wie dem Berufsgedanken, der protestantischen Arbeitsethik, Pflicht, Ehre, Sparsamkeit, Monogamie usw. nieder. Man kann in Deutschland ja nicht einmal ernsthaft von der Existenz eines Großbürgertums sprechen, das sich darüber wieder erheben würde. Deutschland ist komplett kleinbürgerlich. Damit kann doch niemand ernsthaft etwas zu tun haben wollen.
Mir ist in den letzten Tagen noch einmal bewusst geworden, dass die Ehe in der Literaturgeschichte – vor allem in der französischen – in der Regel als Problem thematisch wird: als institutionalisierte Verhinderung von amour und/oder plaisir, die nur noch auf dem Wege des Ehebruchs erreicht werden können oder könnten – was dann entweder tatsächlich geschieht (z.B. La femme de trentes ans, Madame Bovary, Thérèse Raquin, auch Effi Briest) oder durch die „Tugend“ und „Entsagung“ der Heldinnen vereitelt wird (La Princesse de Clèves). (Immer geht es in diesen zumeist von Männern geschriebenen Romanen nur um Frauen, die ein Problem mit der Ehe haben. Als einziges Gegenbeispiel fällt mir gerade lediglich Fontanes Schach von Wuthenow ein, der ein junges Mädchen verführt, die ihm zu hässlich ist, um sie zu heiraten. Als dann die Moral in Person des Königs interveniert, geht er die Ehe ein, um seine Ehre zu retten, bringt sich aber direkt nach der Trauung um.) Anstelle von Glück und Selbstgenuss stehen soziale Konventionen, Kompromisse, Langeweile und Tod und selbst diejenigen Romane, die den Ehebruch moralisch verurteilen, nehmen noch an der Vermessung des (Un-)Bewusstseins darüber teil, dass die bürgerliche Ehe den Bedürfnissen der Menschen durch ihren Anspruch auf Exklusivität Gewalt antut. Dass marriage und amour in der bürgerlichen Tradition zur Deckung gebracht werden sollen, markiert ja lediglich einen Konflikt und nicht dessen Lösung.
Ich stimme deshalb mit euch darin überein, dass es angezeigt wäre, die Ehe als soziale Konvention von ihrem tradierten Normativismus zu befreien. Es spricht ja nichts dagegen, sich (ob aus Liebe oder aufgrund von Steuervergünstigungen oder warum auch immer) zu verheiraten, aber das muss ja nicht gleich mit diesem ganzen Ballast an gemeinsamer Verspießung und Verfettung und dem ja leider immer wieder zu beobachtenden Rückzug ins „Private“ einhergehen. Anders gesagt könnte die größere Herausforderung vielleicht darin bestehen, eben doch zu heiraten, dann aber eine Ehe so zu führen, dass sie allem, was „Ehe“ ist, entgegensteht. Ich habe mich übrigens gefragt – und das richtet sich vor allem an dich, Felix – warum du mit Absicht auf eine Überwindung der bürgerlichen Liebes- und Beziehungsformen ausgerechnet auf jahrhundertealte, aristokratische Modelle schielst, als gäbe es keine zeitgenössischeren Angebote. Ich weiß ja nicht, was bei euch in Jena so los ist, aber hier in Berlin (jaja, hier spricht die Hauptstadt) gibt es seit einigen Jahren auch für junge Paare vielfältige Möglichkeiten, Beziehungsformen jenseits der Monogamie gemeinsam auszuleben. (Ich rede nicht von klebrigen Swinger-Clubs mit Bordell-Atmosphäre, die ja noch komplett heteronormativ vereidigt sind, sondern eher von diesen ganzen queeren Partys, die in irgendwelchen Technoclubs stattfinden. Stand ja alles schon im Feuilleton.)
Ebenfalls im Feuilleton stand schon unzählige Male, dass „Fairtrade“ und „Bio“ Arbeit am Habitus sind, das hat mittlerweile jeder verstanden, mein lieber Alex. Aber denkst du nicht, dass solche Konsumentscheidungen am Ende eben nicht bloß einen sozialen, sondern auch einen politischen Unterschied machen? So albern dieser Satz in seiner Banalität auch sein mag, aber dass das Private politisch ist, lässt sich doch kaum bestreiten. Solange man bedenkt, dass das Politische sich umgekehrt nicht im Privaten erschöpft und noch deutlich größere Anstrengungen verlangt, ist doch nichts dagegen einzuwenden, bewusste Konsumentscheidungen zu treffen. Zumal die – bürgerliche – Unterscheidung zwischen einem vermeintlich unpolitischen Privaten und einer politischen Öffentlichkeit (siehe Habermas) doch schon längst nicht mehr aufrechterhalten werden kann. (Das ist nun vielleicht ein anderes Thema, aber das wäre für mich übrigens auch eine der zentralen Konsequenzen, die aus den jüngsten Affären um Facebook, CambridgeAnalytica, BigData im Allgemeinen, usw. zu ziehen wären: wie konnte man jemals glauben, eine „private“ Nachricht auf Facebook habe irgendetwas mit „privat“ im älteren Sinne zu tun? Darüber würde ich mich gerne noch einmal mit euch austauschen.) Jetzt aber noch eine andere Frage an dich, Alex: glaubst du, dass du dich selbst als „nicht bürgerlich“ bezeichnen könntest? (Und als Snob?)
Ich stimme deshalb mit euch darin überein, dass es angezeigt wäre, die Ehe als soziale Konvention von ihrem tradierten Normativismus zu befreien. Es spricht ja nichts dagegen, sich (ob aus Liebe oder aufgrund von Steuervergünstigungen oder warum auch immer) zu verheiraten, aber das muss ja nicht gleich mit diesem ganzen Ballast an gemeinsamer Verspießung und Verfettung und dem ja leider immer wieder zu beobachtenden Rückzug ins „Private“ einhergehen. Anders gesagt könnte die größere Herausforderung vielleicht darin bestehen, eben doch zu heiraten, dann aber eine Ehe so zu führen, dass sie allem, was „Ehe“ ist, entgegensteht. Ich habe mich übrigens gefragt – und das richtet sich vor allem an dich, Felix – warum du mit Absicht auf eine Überwindung der bürgerlichen Liebes- und Beziehungsformen ausgerechnet auf jahrhundertealte, aristokratische Modelle schielst, als gäbe es keine zeitgenössischeren Angebote. Ich weiß ja nicht, was bei euch in Jena so los ist, aber hier in Berlin (jaja, hier spricht die Hauptstadt) gibt es seit einigen Jahren auch für junge Paare vielfältige Möglichkeiten, Beziehungsformen jenseits der Monogamie gemeinsam auszuleben. (Ich rede nicht von klebrigen Swinger-Clubs mit Bordell-Atmosphäre, die ja noch komplett heteronormativ vereidigt sind, sondern eher von diesen ganzen queeren Partys, die in irgendwelchen Technoclubs stattfinden. Stand ja alles schon im Feuilleton.)
Ebenfalls im Feuilleton stand schon unzählige Male, dass „Fairtrade“ und „Bio“ Arbeit am Habitus sind, das hat mittlerweile jeder verstanden, mein lieber Alex. Aber denkst du nicht, dass solche Konsumentscheidungen am Ende eben nicht bloß einen sozialen, sondern auch einen politischen Unterschied machen? So albern dieser Satz in seiner Banalität auch sein mag, aber dass das Private politisch ist, lässt sich doch kaum bestreiten. Solange man bedenkt, dass das Politische sich umgekehrt nicht im Privaten erschöpft und noch deutlich größere Anstrengungen verlangt, ist doch nichts dagegen einzuwenden, bewusste Konsumentscheidungen zu treffen. Zumal die – bürgerliche – Unterscheidung zwischen einem vermeintlich unpolitischen Privaten und einer politischen Öffentlichkeit (siehe Habermas) doch schon längst nicht mehr aufrechterhalten werden kann. (Das ist nun vielleicht ein anderes Thema, aber das wäre für mich übrigens auch eine der zentralen Konsequenzen, die aus den jüngsten Affären um Facebook, CambridgeAnalytica, BigData im Allgemeinen, usw. zu ziehen wären: wie konnte man jemals glauben, eine „private“ Nachricht auf Facebook habe irgendetwas mit „privat“ im älteren Sinne zu tun? Darüber würde ich mich gerne noch einmal mit euch austauschen.) Jetzt aber noch eine andere Frage an dich, Alex: glaubst du, dass du dich selbst als „nicht bürgerlich“ bezeichnen könntest? (Und als Snob?)
Ja, Sidonie, ich habe Liebe als Passion gelesen und ich finde es zwar fruchtbar, aber doch auch sehr mühsam, mit Luhmann dem Interesse an irgendeinem Gegenstand nachzugehen. Es führt einen regelmäßig in die ironische Lage, mehr Arbeit in die Erklärung von Luhmanns Theorie zu investieren als in die Erforschung des eigentlichen Gegenstandes…
Eine sogenannte ‚Leitdifferenz‘ – wie diejenige von plaisir und amour – hat in der Systemtheorie ja immer eine doppelte Funktion: nicht allein die semantische Unterscheidung zu bezeichnen, sondern auch deren Einheit. Im Falle von plaisir und amour darf man deshalb nicht darauf verfallen, diese Gegenbegriffe auch als Gegenteile misszuverstehen. ‚Differenz‘ bedeutet bei Luhmann gerade nicht den Ausschluss des einen Elementes vom anderen, sondern die innige Verbindung beider in ihrer Funktion, ein und dasselbe semantische Feld zu strukturieren. Bei plaisir geht es Luhmann um die unwillkürlichen, affektiven Gehalte des Liebens, bei amour um die Herstellung einer sozialen Beziehung: plaisir ist die Selbstreferenz eines Individuums auf seinen eigenen Gefühlshaushalt, amour die Fremdreferenz von Individuen aufeinander. Für authentische amour ist plaisir eine notwendige Bedingung, ohne gelungene Selbstreferenz des eigenen Gefühls kann die Liebesbeziehung nicht aufrechterhalten werden. Dies gilt natürlich nur, solange sie überhaupt aufrichtig sein soll. Amour kann immer auch vorgetäuscht werden, plaisir nicht. Diese ‚Leitdifferenz‘ kreist deshalb schon um das zentrale Problem von Liebe als Passion, nämlich die Beglaubigung der Liebe als authentische.
Luhmann liest sein gesamtes Material, das sehr umfangreich und immer eine gute Fundgrube für Quellen ist, als Entwicklungsgeschichte der ‚Institutionalisierung einer Paradoxie‘, auf die die Semantik der Liebe hinauslaufe: Die moderne, intime Paarbeziehung, die verbindlich und spontan zugleich sein soll, vergesellschaftet und subjektzentriert, rational und sentimental, eigenverantwortlich und hingebungsvoll, kalkuliert und passioniert. Luhmann untersucht die Genese dieser unauflösbaren kommunikativen und praktischen Paradoxien, die den Problemhorizont der modernen Beziehungsform bilden. Diese Finalität seiner Untersuchung legt sich manchmal – das ist unvermeidbar – zu massiv auf seine Gegenstände. Die Beweglichkeit der ‚Differenzen‘ und die Koexistenz verschiedener semantischer Geltungsbereiche gelangen ihm gelegentlich aus dem Blick, oder sie interessieren ihn nicht sehr. Dafür gibt es eben Literaturwissenschaftler.
Der soziologischen Zielgröße einer institutionalisierten kommunikativen Paradoxie, auf die hin Luhmanns Studie genealogisch ausgerichtet ist, geht nämlich eine Latenzperiode voraus, in der die Differenzierungen sehr viel durchlässiger und ambivalenter sind, als sie sich vom Ende her gelesen darstellen. Genau darauf wollte ich mit meinem weiten Begriff von amour hinaus, der plaisir – genau wie bei Luhmann selbst – natürlich mit einbezieht. Amour umfasst semantisch recht verschiedene Elemente wie aimer, être aimable, amant, ami(e); und die interessantesten Texte der Epoche kreisen um Individuen, die die gesamte Bandbreite dieser Semantik als Verhandlungsmasse ihrer Beziehung zueinander auffassen.
Die kurze Erzählung Point de lendemain, die 1777 anonym (!) erschienen war und später Vivant Denon zugeschrieben wurde, ist exemplarisch, nicht nur für die besagten sozialen Tatbestände, sondern auch für deren literarische Repräsentation, die in den seltensten Fällen derart gelungen ist. Der Protagonist dieser Erzählung stellt sich mit lediglich drei Attributen vor: Er ist jung, arglos (ingénu) und unsterblich verliebt. Seine Liebe ist längst erhört, er ist der Favorit einer gewissen Comtesse und erwartet diese vor einer Opernaufführung in deren Privatloge. All das hält ihn allerdings nicht davon ab, auf den unwiderstehlichen Befehl einer Madame de T… hin, die sich in der benachbarten Loge gerade zu gehen anschickt, diese nach Hause zu begleiten.
Weitere Auskünfte werden weder erfragt noch erteilt und erst kurz vor der Ankunft auf einem Schloss vor der Stadt erfährt der Protagonist, dass man gemeinsam den allzeit verstimmten Gatten besuchen werde, da dieser und Mme de T… kürzlich aufgrund von Familienrücksichten, sich wieder ‚versöhnt‘ hätten. Über die Rolle, die der Protagonist in dieser Konstellation zu spielen hat, gibt es keinerlei Übereinkunft und gerade darin besteht der Test: Wird er die soziale Gelenkigkeit aufbringen, alle Anzüglichkeiten in Richtung der Madame zu vermeiden und alle Beleidigungen durch den Ehemann zu überhören? Charme, Raffinement und Zurückhaltung sind die Tugenden der Stunde und zuallererst – Diskretion.
Die ‚Nacht ohne Morgen‘ – hier kommt das plaisir wieder ins Spiel – ist die Belohnung. An deren Ende wird ein weiterer Mann auf dem Schloss erscheinen, der ‚eigentliche‘ Geliebte der Madame de T…, der die Einladung des jungen Mannes als Ablenkungsmanöver zur Verwirrung des Gatten geplant hatte. Der Protagonist begreift den Plan – und das doppelte Spiel der Madame de T… – gerade rechtzeitig, um einmal mehr im richtigen Zusammenhang nichts zu erklären. Wird er sie wiedersehen, den gehörnten Liebhaber gar ersetzen? Wird er zu seiner Comtesse zurückkehren? Wird er sie mehr oder weniger lieben als zuvor, oder besser? „Quelle aventure! quelle nuit! Je ne savais si je ne rêvais pas encore ; je doutais, puis j’étais persuadé, convaincu, et puis je ne croyais plus rien. […] je flottais dans ces incertitudes, […].“
Luhmann hat mit seiner Studie die Genese des Voraussetzung-Werdens von Liebe für Partnerschaft und Ehe untersucht und klar gesehen, was für ein schwer fixierbares Element ausgerechnet das Fundament für eine gesellschaftlich, rechtlich und moralisch verbindliche Institution bereitstellen soll. Ich selbst – ich gebe es zu – beschäftige mich gern mit der literarischen Repräsentation einer Zeit (und einer Klasse!), in der die Differenz zwischen Liebe und Partnerschaft, die aufzuheben uns heute so große Mühe abverlangt, noch intakt war und weniger als Unaufrichtigkeit missachtet denn als Freiheitsgewinn – für beide Geschlechter (!) – geschätzt wurde. Die nötigen Tugenden und die Verbindlichkeit, die wir heute in der Beziehung als Institution kodifizieren möchten, waren in den Individuen selbst zu suchen.
Eine sogenannte ‚Leitdifferenz‘ – wie diejenige von plaisir und amour – hat in der Systemtheorie ja immer eine doppelte Funktion: nicht allein die semantische Unterscheidung zu bezeichnen, sondern auch deren Einheit. Im Falle von plaisir und amour darf man deshalb nicht darauf verfallen, diese Gegenbegriffe auch als Gegenteile misszuverstehen. ‚Differenz‘ bedeutet bei Luhmann gerade nicht den Ausschluss des einen Elementes vom anderen, sondern die innige Verbindung beider in ihrer Funktion, ein und dasselbe semantische Feld zu strukturieren. Bei plaisir geht es Luhmann um die unwillkürlichen, affektiven Gehalte des Liebens, bei amour um die Herstellung einer sozialen Beziehung: plaisir ist die Selbstreferenz eines Individuums auf seinen eigenen Gefühlshaushalt, amour die Fremdreferenz von Individuen aufeinander. Für authentische amour ist plaisir eine notwendige Bedingung, ohne gelungene Selbstreferenz des eigenen Gefühls kann die Liebesbeziehung nicht aufrechterhalten werden. Dies gilt natürlich nur, solange sie überhaupt aufrichtig sein soll. Amour kann immer auch vorgetäuscht werden, plaisir nicht. Diese ‚Leitdifferenz‘ kreist deshalb schon um das zentrale Problem von Liebe als Passion, nämlich die Beglaubigung der Liebe als authentische.
Luhmann liest sein gesamtes Material, das sehr umfangreich und immer eine gute Fundgrube für Quellen ist, als Entwicklungsgeschichte der ‚Institutionalisierung einer Paradoxie‘, auf die die Semantik der Liebe hinauslaufe: Die moderne, intime Paarbeziehung, die verbindlich und spontan zugleich sein soll, vergesellschaftet und subjektzentriert, rational und sentimental, eigenverantwortlich und hingebungsvoll, kalkuliert und passioniert. Luhmann untersucht die Genese dieser unauflösbaren kommunikativen und praktischen Paradoxien, die den Problemhorizont der modernen Beziehungsform bilden. Diese Finalität seiner Untersuchung legt sich manchmal – das ist unvermeidbar – zu massiv auf seine Gegenstände. Die Beweglichkeit der ‚Differenzen‘ und die Koexistenz verschiedener semantischer Geltungsbereiche gelangen ihm gelegentlich aus dem Blick, oder sie interessieren ihn nicht sehr. Dafür gibt es eben Literaturwissenschaftler.
Der soziologischen Zielgröße einer institutionalisierten kommunikativen Paradoxie, auf die hin Luhmanns Studie genealogisch ausgerichtet ist, geht nämlich eine Latenzperiode voraus, in der die Differenzierungen sehr viel durchlässiger und ambivalenter sind, als sie sich vom Ende her gelesen darstellen. Genau darauf wollte ich mit meinem weiten Begriff von amour hinaus, der plaisir – genau wie bei Luhmann selbst – natürlich mit einbezieht. Amour umfasst semantisch recht verschiedene Elemente wie aimer, être aimable, amant, ami(e); und die interessantesten Texte der Epoche kreisen um Individuen, die die gesamte Bandbreite dieser Semantik als Verhandlungsmasse ihrer Beziehung zueinander auffassen.
Die kurze Erzählung Point de lendemain, die 1777 anonym (!) erschienen war und später Vivant Denon zugeschrieben wurde, ist exemplarisch, nicht nur für die besagten sozialen Tatbestände, sondern auch für deren literarische Repräsentation, die in den seltensten Fällen derart gelungen ist. Der Protagonist dieser Erzählung stellt sich mit lediglich drei Attributen vor: Er ist jung, arglos (ingénu) und unsterblich verliebt. Seine Liebe ist längst erhört, er ist der Favorit einer gewissen Comtesse und erwartet diese vor einer Opernaufführung in deren Privatloge. All das hält ihn allerdings nicht davon ab, auf den unwiderstehlichen Befehl einer Madame de T… hin, die sich in der benachbarten Loge gerade zu gehen anschickt, diese nach Hause zu begleiten.
Weitere Auskünfte werden weder erfragt noch erteilt und erst kurz vor der Ankunft auf einem Schloss vor der Stadt erfährt der Protagonist, dass man gemeinsam den allzeit verstimmten Gatten besuchen werde, da dieser und Mme de T… kürzlich aufgrund von Familienrücksichten, sich wieder ‚versöhnt‘ hätten. Über die Rolle, die der Protagonist in dieser Konstellation zu spielen hat, gibt es keinerlei Übereinkunft und gerade darin besteht der Test: Wird er die soziale Gelenkigkeit aufbringen, alle Anzüglichkeiten in Richtung der Madame zu vermeiden und alle Beleidigungen durch den Ehemann zu überhören? Charme, Raffinement und Zurückhaltung sind die Tugenden der Stunde und zuallererst – Diskretion.
Die ‚Nacht ohne Morgen‘ – hier kommt das plaisir wieder ins Spiel – ist die Belohnung. An deren Ende wird ein weiterer Mann auf dem Schloss erscheinen, der ‚eigentliche‘ Geliebte der Madame de T…, der die Einladung des jungen Mannes als Ablenkungsmanöver zur Verwirrung des Gatten geplant hatte. Der Protagonist begreift den Plan – und das doppelte Spiel der Madame de T… – gerade rechtzeitig, um einmal mehr im richtigen Zusammenhang nichts zu erklären. Wird er sie wiedersehen, den gehörnten Liebhaber gar ersetzen? Wird er zu seiner Comtesse zurückkehren? Wird er sie mehr oder weniger lieben als zuvor, oder besser? „Quelle aventure! quelle nuit! Je ne savais si je ne rêvais pas encore ; je doutais, puis j’étais persuadé, convaincu, et puis je ne croyais plus rien. […] je flottais dans ces incertitudes, […].“
Luhmann hat mit seiner Studie die Genese des Voraussetzung-Werdens von Liebe für Partnerschaft und Ehe untersucht und klar gesehen, was für ein schwer fixierbares Element ausgerechnet das Fundament für eine gesellschaftlich, rechtlich und moralisch verbindliche Institution bereitstellen soll. Ich selbst – ich gebe es zu – beschäftige mich gern mit der literarischen Repräsentation einer Zeit (und einer Klasse!), in der die Differenz zwischen Liebe und Partnerschaft, die aufzuheben uns heute so große Mühe abverlangt, noch intakt war und weniger als Unaufrichtigkeit missachtet denn als Freiheitsgewinn – für beide Geschlechter (!) – geschätzt wurde. Die nötigen Tugenden und die Verbindlichkeit, die wir heute in der Beziehung als Institution kodifizieren möchten, waren in den Individuen selbst zu suchen.
Danke, Sidonie, ich sehe deinen Punkt und werde weiter darüber nachdenken. Ich möchte jedoch festhalten, dass „bürgerlich“ schon immer ein Kampfbegriff war und es auch weiterhin bleibt. Das zu leugnen gehört zu der spezifischen Gestalt, die der Begriff als Kampfbegriff heutzutage angenommen hat. Ich will das kurz ausführen.
Historisch kann die Idee der Bürgerlichkeit in ihrem Kampf gegen die Adelsherrschaft als eine emanzipative, politische Idee verstanden werden: sie hat unsere heutige Gesellschaftsform hervorgebracht. Konstitutiv für diese Gesellschaftsform war es zunächst, dass das Bürgertum nicht mehr dem Adel, sondern nun dem „Proletariat“ als einer niederen Klasse entgegenstand und zwar als Unterdrücker. Heute mögen die meisten Menschen nicht mehr von einer Klassengesellschaft sprechen, was jedoch nicht bedeutet, dass diese Gewaltverhältnisse sich aufgelöst hätten (man kann dazu zum Beispiel Didier Eribon lesen). Stattdessen spricht man von einer stärkeren Ausdifferenzierung der Gesellschaft, in der eine einzelne Person – je nachdem, ob man etwa nach finanziellem oder „kulturellem Kapital“ fragt – zugleich einer höheren und einer niedrigeren „Schicht“ angehören kann. Dennoch – und das ist nun gerade der Punkt – funktioniert der Begriff „bürgerlich“ auch hier weiterhin als ein Prädikat, das eine soziale Kohäsion erzeugen soll, die zugleich Ab- und Ausgrenzung vollzieht. Das ließe sich wohl am deutlichsten an dem der Mittelschicht entwachsenen, akademischen Prekariat ablesen: wird dieses weiterhin als „bürgerlich“ bezeichnet, so mag damit zwar die Realität einer vergleichsweise guten, sozialen Absicherung durch das Elternhaus getroffen sein, gleichzeitig geht es aber auch darum, diese Kohorte von dem anderen, dem „klassischen Prekariat“ (den „Asozialen“) abzugrenzen: mit denen möchte man nicht verwechselt werden. (Es könnten sich am Ende ja Solidaritätszumutungen aufdrängen.)
Wenn Menschen heutzutage von ihrer „Bürgerlichkeit“ als etwas Positivem sprechen, dann haben sie in der Regel kein Gespür für die soziale Verachtung, die damit einhergeht. (Vielleicht gehört es zum Wesen der Verachtung, kein richtiges Bewusstsein ihrer Selbst zu haben.) Das ließe sich an so Vielem demonstrieren. Wenn zum Beispiel von Dahlem, Lichterfelde oder Steglitz – im Gegensatz zu Neukölln oder dem Wedding – als „bürgerlichen“ Stadtteilen gesprochen wird, dann ist damit – ohne es überhaupt noch auszusprechen – gemeint, dass dort eine gehobene Mittelschicht wohnt, die nicht nur mehrheitlich einen deutschen (oder EU) Pass besitzt, sondern die in diesen Pässen unter „Nationalität“ auch „deutsch“ stehen hat. Oder wenn Leute ihre Orientierung auf Fairtrade und Bio-Märkte mit einem „bürgerlichen“ Selbstverständnis verbinden und damit eine bestimmte „Ethik“ für sich in Anspruch nehmen, dann haben sie in den seltensten Fällen ein Gespür für den Klassenhass, der damit einhergeht. (An nichts manifestieren sich die „feinen Unterschiede“ heutzutage so sehr wie am Essen. Mit dessen Qualität oder Geschmack (jetzt mal im Sinne der spezifischen Stimulation des sinnlichen Apparates) oder gesundheitlichen Aspekten zumindest hat das alles eher wenig bis gar nichts zu tun.) Diesen Snobismus muss man sich erst einmal leisten können. Und auf all diejenigen, die ihn sich nicht leisten können, wird mit vermeintlich „ethischen“ Argumenten herabgeblickt. Das mangelnde Bewusstsein dafür ist das Problem dieser „Ethik“, ihr Versagen, aber auch der Punkt, an dem sie wieder politisch werden könnte. (Wie das nun wieder mit dem Verhältnis von „Ethik“ und „Politik“ zusammenhängt, den du in deiner letzten Nachricht angesprochen hast, Sidonie, weiß ich gerade nicht.)
Historisch kann die Idee der Bürgerlichkeit in ihrem Kampf gegen die Adelsherrschaft als eine emanzipative, politische Idee verstanden werden: sie hat unsere heutige Gesellschaftsform hervorgebracht. Konstitutiv für diese Gesellschaftsform war es zunächst, dass das Bürgertum nicht mehr dem Adel, sondern nun dem „Proletariat“ als einer niederen Klasse entgegenstand und zwar als Unterdrücker. Heute mögen die meisten Menschen nicht mehr von einer Klassengesellschaft sprechen, was jedoch nicht bedeutet, dass diese Gewaltverhältnisse sich aufgelöst hätten (man kann dazu zum Beispiel Didier Eribon lesen). Stattdessen spricht man von einer stärkeren Ausdifferenzierung der Gesellschaft, in der eine einzelne Person – je nachdem, ob man etwa nach finanziellem oder „kulturellem Kapital“ fragt – zugleich einer höheren und einer niedrigeren „Schicht“ angehören kann. Dennoch – und das ist nun gerade der Punkt – funktioniert der Begriff „bürgerlich“ auch hier weiterhin als ein Prädikat, das eine soziale Kohäsion erzeugen soll, die zugleich Ab- und Ausgrenzung vollzieht. Das ließe sich wohl am deutlichsten an dem der Mittelschicht entwachsenen, akademischen Prekariat ablesen: wird dieses weiterhin als „bürgerlich“ bezeichnet, so mag damit zwar die Realität einer vergleichsweise guten, sozialen Absicherung durch das Elternhaus getroffen sein, gleichzeitig geht es aber auch darum, diese Kohorte von dem anderen, dem „klassischen Prekariat“ (den „Asozialen“) abzugrenzen: mit denen möchte man nicht verwechselt werden. (Es könnten sich am Ende ja Solidaritätszumutungen aufdrängen.)
Wenn Menschen heutzutage von ihrer „Bürgerlichkeit“ als etwas Positivem sprechen, dann haben sie in der Regel kein Gespür für die soziale Verachtung, die damit einhergeht. (Vielleicht gehört es zum Wesen der Verachtung, kein richtiges Bewusstsein ihrer Selbst zu haben.) Das ließe sich an so Vielem demonstrieren. Wenn zum Beispiel von Dahlem, Lichterfelde oder Steglitz – im Gegensatz zu Neukölln oder dem Wedding – als „bürgerlichen“ Stadtteilen gesprochen wird, dann ist damit – ohne es überhaupt noch auszusprechen – gemeint, dass dort eine gehobene Mittelschicht wohnt, die nicht nur mehrheitlich einen deutschen (oder EU) Pass besitzt, sondern die in diesen Pässen unter „Nationalität“ auch „deutsch“ stehen hat. Oder wenn Leute ihre Orientierung auf Fairtrade und Bio-Märkte mit einem „bürgerlichen“ Selbstverständnis verbinden und damit eine bestimmte „Ethik“ für sich in Anspruch nehmen, dann haben sie in den seltensten Fällen ein Gespür für den Klassenhass, der damit einhergeht. (An nichts manifestieren sich die „feinen Unterschiede“ heutzutage so sehr wie am Essen. Mit dessen Qualität oder Geschmack (jetzt mal im Sinne der spezifischen Stimulation des sinnlichen Apparates) oder gesundheitlichen Aspekten zumindest hat das alles eher wenig bis gar nichts zu tun.) Diesen Snobismus muss man sich erst einmal leisten können. Und auf all diejenigen, die ihn sich nicht leisten können, wird mit vermeintlich „ethischen“ Argumenten herabgeblickt. Das mangelnde Bewusstsein dafür ist das Problem dieser „Ethik“, ihr Versagen, aber auch der Punkt, an dem sie wieder politisch werden könnte. (Wie das nun wieder mit dem Verhältnis von „Ethik“ und „Politik“ zusammenhängt, den du in deiner letzten Nachricht angesprochen hast, Sidonie, weiß ich gerade nicht.)
Mir gehen gerade viele Dinge durch den Kopf, von denen ich an dieser Stelle zumindest zwei festhalten möchte.
Zum einen, Alex, verstehe ich den Impuls, aus dem du Foucault liest. Auch finde ich es gut, dass du dir dabei Gedanken über die Frage der Appropriation machst. Dennoch möchte ich darauf hinweisen, dass die monogame, partnerschaftliche Beziehung unter schwulen und lesbischen Paaren weit verbreitet und zumindest in meinem Umfeld auch der Normalfall ist. Das mögen nun in deinen Augen alles bürgerliche Spießer sein, aber man muss das Wort ‚bürgerlich‘ ja nicht immer gleich als Kampfbegriff gebrauchen. Dazu gäbe es noch viel zu sagen, worauf ich aber gerade hinaus will ist, dass ‚Homosexualität‘ nicht notwendig als Gegensatz zu ‚bürgerlich‘ zu denken ist und deshalb auch nicht als Universalchiffre für anti-bürgerliche ‚Lebensformen‘ überbelastet werden sollte. (Bitte verstehe das nicht als Vorwurf, ich versuche lediglich, auf die Problematik hinzuweisen, möchte dir aber nichts unterstellen.)
Generell finde ich den Begriff der ‚Lebensform‘ bei Foucault dahingehend problematisch, dass er dazu verleiten kann, Foucault nur in Hinblick auf ein ethisches Projekt zu lesen und ihn dadurch tendenziell zu entpolitisieren. Damit wird verdeckt, dass Foucault über diese Fragen ja gerade in Hinblick auf ihre rechtliche Institutionalisierung nachgedacht hat. Das verbindet sich unter anderem mit der Frage des Eherechts für homosexuelle Paare – ein Modell an dem Foucault selbst zwar kein Interesse hat, dessen Legalisierung er dennoch einfordert. Gleichzeitig fordert er aber dazu auf, über andere Beziehungsformen nachzudenken, die ebenfalls institutionalisiert und rechtlich anerkannt werden sollen. So wünscht er sich zum Beispiel die Möglichkeit, einen Freund zu adoptieren. Diese Fragen, ja sogar: diesen Kampf historisch zu situieren, scheint mir hilfreich, um sich in Erinnerung zu rufen, dass Foucaults politische Forderung ihren Ausgangspunkt in einer Erfahrung der Diskriminierung hat, von der Heterosexuelle nie betroffen waren.
Jetzt habe ich schon einen halben Roman geschrieben, bevor ich überhaupt zu meinem zweiten Punkt komme. Ich halte mich deshalb noch kürzer. Felix, du schreibst, dass es im 18. Jahrhundert nur ‚marriage‘ und ‚amour‘ gab. Dazu ist mir eingefallen, dass Luhmann in Liebe als Passion doch noch eine andere, historische Leitunterscheidung bespricht, die – wie ich mir denken kann auch in deinen Ohren – erst einmal aufregender klingt, nämlich diejenige von ‚plaisir‘ und ‚amour‘. Weißt du dazu etwas? Ich müsste das selbst erst einmal nachlesen, bekomme aber gleich über das Wochenende Besuch. Würde also erst nächste Woche dazu kommen.
(Achso, da wir hier schon über Beziehungen reden: Grimes und Elon Musk, what the fuck, wie geil! https://www.youtube.com/watch?v=c2EJMd7ZN7w)
Zum einen, Alex, verstehe ich den Impuls, aus dem du Foucault liest. Auch finde ich es gut, dass du dir dabei Gedanken über die Frage der Appropriation machst. Dennoch möchte ich darauf hinweisen, dass die monogame, partnerschaftliche Beziehung unter schwulen und lesbischen Paaren weit verbreitet und zumindest in meinem Umfeld auch der Normalfall ist. Das mögen nun in deinen Augen alles bürgerliche Spießer sein, aber man muss das Wort ‚bürgerlich‘ ja nicht immer gleich als Kampfbegriff gebrauchen. Dazu gäbe es noch viel zu sagen, worauf ich aber gerade hinaus will ist, dass ‚Homosexualität‘ nicht notwendig als Gegensatz zu ‚bürgerlich‘ zu denken ist und deshalb auch nicht als Universalchiffre für anti-bürgerliche ‚Lebensformen‘ überbelastet werden sollte. (Bitte verstehe das nicht als Vorwurf, ich versuche lediglich, auf die Problematik hinzuweisen, möchte dir aber nichts unterstellen.)
Generell finde ich den Begriff der ‚Lebensform‘ bei Foucault dahingehend problematisch, dass er dazu verleiten kann, Foucault nur in Hinblick auf ein ethisches Projekt zu lesen und ihn dadurch tendenziell zu entpolitisieren. Damit wird verdeckt, dass Foucault über diese Fragen ja gerade in Hinblick auf ihre rechtliche Institutionalisierung nachgedacht hat. Das verbindet sich unter anderem mit der Frage des Eherechts für homosexuelle Paare – ein Modell an dem Foucault selbst zwar kein Interesse hat, dessen Legalisierung er dennoch einfordert. Gleichzeitig fordert er aber dazu auf, über andere Beziehungsformen nachzudenken, die ebenfalls institutionalisiert und rechtlich anerkannt werden sollen. So wünscht er sich zum Beispiel die Möglichkeit, einen Freund zu adoptieren. Diese Fragen, ja sogar: diesen Kampf historisch zu situieren, scheint mir hilfreich, um sich in Erinnerung zu rufen, dass Foucaults politische Forderung ihren Ausgangspunkt in einer Erfahrung der Diskriminierung hat, von der Heterosexuelle nie betroffen waren.
Jetzt habe ich schon einen halben Roman geschrieben, bevor ich überhaupt zu meinem zweiten Punkt komme. Ich halte mich deshalb noch kürzer. Felix, du schreibst, dass es im 18. Jahrhundert nur ‚marriage‘ und ‚amour‘ gab. Dazu ist mir eingefallen, dass Luhmann in Liebe als Passion doch noch eine andere, historische Leitunterscheidung bespricht, die – wie ich mir denken kann auch in deinen Ohren – erst einmal aufregender klingt, nämlich diejenige von ‚plaisir‘ und ‚amour‘. Weißt du dazu etwas? Ich müsste das selbst erst einmal nachlesen, bekomme aber gleich über das Wochenende Besuch. Würde also erst nächste Woche dazu kommen.
(Achso, da wir hier schon über Beziehungen reden: Grimes und Elon Musk, what the fuck, wie geil! https://www.youtube.com/watch?v=c2EJMd7ZN7w)
PS: Die beiden studieren nicht Biologie, sondern Jura.
Ich musste bei dem, was du, Felix, geschrieben hast, an ein Interview mit Michel Foucault aus dem Jahr 1981 denken, das in der deutschen Übersetzung den Titel Freundschaft als Lebensform trägt. Foucault geht es hier um homosexuelle Beziehungs- und Lebensformen, dabei stellt er eine Frage in dem Raum: „‚Welche Beziehungen lassen sich über die Homosexualität herstellen, erfinden, vermehren, gestalten?‘ Es geht nicht darum, in sich selbst die Wahrheit des eigenen Geschlechts zu entdecken, sondern die eigene Sexualität zu nutzen, um vielfältige Beziehungen herzustellen.“
Auch als ein sich als heterosexuell verstehender Mann empfinde ich diese Frage als eine ethische Herausforderung. Hier ergibt sich zwar wieder die Problematik der Appropriation, aber ich möchte zumindest sagen, dass Foucaults Frage für mich Anlass ist, über die normativen Implikationen der tradierten, heterosexuellen Partnerschaft und die Möglichkeit von Alternativen nachzudenken.
Die erste Konsequenz, die ich aus Foucaults Frage ziehen würde, wäre die, das Wort „Beziehung“ nicht mehr für die Vorstellung einer geradezu metaphysischen Vereinigung mit dem Einen „Lebensmenschen“ zu reservieren, mit dem alles nun endlich einen so genannten „Sinn“ machen soll. „Beziehung“ sollte doch viel mehr sein können, als dieses konservative Modell. Demgegenüber finde ich den Begriff der „Beziehungsform“ in seiner inhaltlichen Unbestimmtheit sehr attraktiv. Die Aufgabe, neue Beziehungsformen zu ‚erfinden‘ (das Wort ist vielleicht etwas unglücklich, da spezifische Beziehungsformen ja wohl zumeist eher durchaus unwillkürlich ‚entstehen‘), die sich nicht an der monogamen Hetero-Partnerschaft messen (als deren defizitäre Verfallsformen sie dann bloß noch erscheinen könnten) ist eine echte Herausforderung. (Die „Kennenlernphase“ ist aus den schon genannten Gründen keine solche Alternative. Meine ‚Traurigkeit‘ meinte deshalb wohl auch eine erstaunte Ratlosigkeit in Hinblick auf die wirre Orientierung meines Cousins und seiner „Freundin“ auf bürgerliche Beziehungskonventionen, deren Gültigkeit sie anerkennen und sich aneignen, die zu erfüllen sie aber – aus welchen Gründen auch immer – nicht in der Lage sind.)
Dass Foucault sein Verständnis von „Beziehungsformen“ dabei nicht über die Ausübung spezifischer, sexueller Praktiken bestimmt, sondern die im Titel des Interviews angekündigte Lebensform der „Freundschaft“ in den Mittelpunkt stellt, finde ich in dieser Hinsicht besonders reizvoll. Anstatt eine Beziehung als etwas zu denken, das in seiner vermeintlichen Einzigartigkeit über ‚bloße‘ Freundschaft hinausgeht, wären eine Vielzahl von Beziehungsformen der Freundschaft einzugehen. Auch wenn man dann von seiner „Beziehung“ im Sinne einer, meinetwegen sogar monogamen, Partnerschaft spricht, wäre diese nicht mehr über ihre Exklusivität zu denken, sondern als eine konkrete Form, die nur eine von vielen Beziehungen ausmacht, in denen man sich immer schon befindet. (Das würde übrigens auch die Erwartungshaltung an das, was eine Beziehung zu leisten hat, auf eine positive Art herabsenken: man würde einfach nicht mehr alles an der einen Person aufhängen und dadurch die Gefahr der Enttäuschung verringern. Auch diese lästige Frage: „Sind wir nun eigentlich in einer Beziehung?“ würde sich erübrigen, weil klar wäre, dass man, um sie überhaupt stellen können, immer schon in einer Beziehung sein muss.)
Auch als ein sich als heterosexuell verstehender Mann empfinde ich diese Frage als eine ethische Herausforderung. Hier ergibt sich zwar wieder die Problematik der Appropriation, aber ich möchte zumindest sagen, dass Foucaults Frage für mich Anlass ist, über die normativen Implikationen der tradierten, heterosexuellen Partnerschaft und die Möglichkeit von Alternativen nachzudenken.
Die erste Konsequenz, die ich aus Foucaults Frage ziehen würde, wäre die, das Wort „Beziehung“ nicht mehr für die Vorstellung einer geradezu metaphysischen Vereinigung mit dem Einen „Lebensmenschen“ zu reservieren, mit dem alles nun endlich einen so genannten „Sinn“ machen soll. „Beziehung“ sollte doch viel mehr sein können, als dieses konservative Modell. Demgegenüber finde ich den Begriff der „Beziehungsform“ in seiner inhaltlichen Unbestimmtheit sehr attraktiv. Die Aufgabe, neue Beziehungsformen zu ‚erfinden‘ (das Wort ist vielleicht etwas unglücklich, da spezifische Beziehungsformen ja wohl zumeist eher durchaus unwillkürlich ‚entstehen‘), die sich nicht an der monogamen Hetero-Partnerschaft messen (als deren defizitäre Verfallsformen sie dann bloß noch erscheinen könnten) ist eine echte Herausforderung. (Die „Kennenlernphase“ ist aus den schon genannten Gründen keine solche Alternative. Meine ‚Traurigkeit‘ meinte deshalb wohl auch eine erstaunte Ratlosigkeit in Hinblick auf die wirre Orientierung meines Cousins und seiner „Freundin“ auf bürgerliche Beziehungskonventionen, deren Gültigkeit sie anerkennen und sich aneignen, die zu erfüllen sie aber – aus welchen Gründen auch immer – nicht in der Lage sind.)
Dass Foucault sein Verständnis von „Beziehungsformen“ dabei nicht über die Ausübung spezifischer, sexueller Praktiken bestimmt, sondern die im Titel des Interviews angekündigte Lebensform der „Freundschaft“ in den Mittelpunkt stellt, finde ich in dieser Hinsicht besonders reizvoll. Anstatt eine Beziehung als etwas zu denken, das in seiner vermeintlichen Einzigartigkeit über ‚bloße‘ Freundschaft hinausgeht, wären eine Vielzahl von Beziehungsformen der Freundschaft einzugehen. Auch wenn man dann von seiner „Beziehung“ im Sinne einer, meinetwegen sogar monogamen, Partnerschaft spricht, wäre diese nicht mehr über ihre Exklusivität zu denken, sondern als eine konkrete Form, die nur eine von vielen Beziehungen ausmacht, in denen man sich immer schon befindet. (Das würde übrigens auch die Erwartungshaltung an das, was eine Beziehung zu leisten hat, auf eine positive Art herabsenken: man würde einfach nicht mehr alles an der einen Person aufhängen und dadurch die Gefahr der Enttäuschung verringern. Auch diese lästige Frage: „Sind wir nun eigentlich in einer Beziehung?“ würde sich erübrigen, weil klar wäre, dass man, um sie überhaupt stellen können, immer schon in einer Beziehung sein muss.)
Das ist eine Frage, die ich nicht einfach beantworten kann, Lenna. Auf psychologischer Ebene könnte ich da allerhöchstens spekulieren, habe jedoch Angst vor der Bösartigkeit, die dabei herauskommen würde. Wenn ich aber versuche, diesen Komplex auf der Ebene der hier prozessierten, sozialen Normen zu beschreiben und dem Verhalten, das sie hervorbringen„ dann müsste ich zunächst feststellen, dass die Scheu meines Cousins, seine Partnerin als seine „Freundin“ zu bezeichnen und die Ausflucht, stattdessen von einer „Kennenlernphase“ zu sprechen, das Konzept der monogamen Beziehung ja gar nicht infrage stellt, sondern als das letztendliche Ziel des Verkehrs von Mann und Frau nur um so stärker bestätigt. Die dafür vorgesehene Verbindlichkeit möchten die beiden, zumindest verbal, noch nicht eingehen, streben sie aber an. Gleichzeitig scheint mein Cousin davon auszugehen, dass mit der Einladung auf den Geburtstag unserer Großmutter die Erwartung verbunden ist, dass er eine Partnerin präsentiert. Das wäre nun erst einmal meine einfachste Erklärung. (Simple minded genug ist er. Ich halte es dabei nicht für unwahrscheinlich, dass ihm diese vermeintliche Erwartung von seiner Mutter eingeredet wurde, die noch tausendmal bürgerlicher ist als meine Großmutter.)
Wenn diese Anastasia in den Augen deines Cousins nicht seine „Freundin“ ist, warum bringt er sie dann eigentlich zum 90. Geburtstag der Großmutter auf eine Familienfeier mit?
Ich frage mich, worüber genau Du nun traurig bist, Alexander. Beziehst Du Dich darauf, dass Dein Cousin und dessen Liebschaft sich dazu genötigt gesehen haben, eine eigene, neue Sprachregelung für ihre Beziehung zu finden, die dann ziemlich fürchterlich ist? Die „Kennenlernphase“, das klingt zumindest mir nach zwei Biologen, die das eigene Paarungsverhalten untersuchen. Vorher gab es natürlich die „Werbungsphase“, in der das Männchen sich von seiner besten Seite zeigte, danach wird dann die „Brutphase“ kommen, sofern die „Kennenlernphase“ erfolgreich verläuft… Das ist ein unwürdiges, trauriges Vokabular, ja.
Ich würde aber fragen, was die beiden überhaupt dazu bewogen hat, sich nicht einfach als „Freund“ und „Freundin“ zu bezeichnen? Hätte allein dieser Begriff „Freundin“ Deiner Großmutter einiges abverlangt? In ihrer Jugend war es doch wohl kaum praktikabel, als Paar aufzutreten und diese Verbindung nicht lizenziert zu haben durch Eheversprechen, Verlobung, Heirat. Ich finde, dass die Nachkriegsjahrzehnte einen großen Freiheitsgewinn erkämpft haben, indem es sozial akzeptabel wurde intim miteinander zu sein, ohne dass irgendwelche Autoritäten diese Beziehung besiegeln mussten. Eine „Freundin“ zu haben, das war doch mal eine revolutionäre Errungenschaft, gerade weil es gleichbedeutend war, sich in einer „Kennenlernphase“ zu befinden, bevor die Angelegenheiten verbindlich werden konnten, aber nicht mussten!
Heute sind wir in der Situation, dass die „Freund(in)“ ein derartig klar markiertes Sozialkonzept ist, dass es an Verbindlichkeit der/dem einstigen „Verlobten“ kaum nachsteht. Was für Fortschritt an liberaler Gesinnung durch kleinbürgerliches Sicherheitsbedürfnis wieder aufgegeben worden ist, eine Schande! Ich hoffe, dass wir noch einmal an ein Beziehungskonzept werden anknüpfen können, in dem Leute als Paar auftreten dürfen, ohne dass das gleich mit Erwartungen überfrachtet und mit Auskunftspflichten belegt wird. Dann wären die Verliebten auch nicht gezwungen, ein Verlegenheitsvokabular zu erfinden, das ihnen wenigstens einen minimalen Spielraum verschafft.
„Kennenlernphase“, da wünsche ich mich wirklich in das 18. Jahrhundert zurück, in dem es nur zwei Termini gab: „Marriage“ und „Amour“. Ohne den Benennungsfuror der Moderne, so scheint es mir, war das Liebesleben deutlich interessanter. Dazu beizeiten einige Florilegien.
Ich würde aber fragen, was die beiden überhaupt dazu bewogen hat, sich nicht einfach als „Freund“ und „Freundin“ zu bezeichnen? Hätte allein dieser Begriff „Freundin“ Deiner Großmutter einiges abverlangt? In ihrer Jugend war es doch wohl kaum praktikabel, als Paar aufzutreten und diese Verbindung nicht lizenziert zu haben durch Eheversprechen, Verlobung, Heirat. Ich finde, dass die Nachkriegsjahrzehnte einen großen Freiheitsgewinn erkämpft haben, indem es sozial akzeptabel wurde intim miteinander zu sein, ohne dass irgendwelche Autoritäten diese Beziehung besiegeln mussten. Eine „Freundin“ zu haben, das war doch mal eine revolutionäre Errungenschaft, gerade weil es gleichbedeutend war, sich in einer „Kennenlernphase“ zu befinden, bevor die Angelegenheiten verbindlich werden konnten, aber nicht mussten!
Heute sind wir in der Situation, dass die „Freund(in)“ ein derartig klar markiertes Sozialkonzept ist, dass es an Verbindlichkeit der/dem einstigen „Verlobten“ kaum nachsteht. Was für Fortschritt an liberaler Gesinnung durch kleinbürgerliches Sicherheitsbedürfnis wieder aufgegeben worden ist, eine Schande! Ich hoffe, dass wir noch einmal an ein Beziehungskonzept werden anknüpfen können, in dem Leute als Paar auftreten dürfen, ohne dass das gleich mit Erwartungen überfrachtet und mit Auskunftspflichten belegt wird. Dann wären die Verliebten auch nicht gezwungen, ein Verlegenheitsvokabular zu erfinden, das ihnen wenigstens einen minimalen Spielraum verschafft.
„Kennenlernphase“, da wünsche ich mich wirklich in das 18. Jahrhundert zurück, in dem es nur zwei Termini gab: „Marriage“ und „Amour“. Ohne den Benennungsfuror der Moderne, so scheint es mir, war das Liebesleben deutlich interessanter. Dazu beizeiten einige Florilegien.
Ach Alex, manchmal möchte man dich einfach nur in den Arm nehmen.
Ach, ich war bloß auf dem 90. Geburtstag meiner Großmutter, hatte ich das nicht erzählt? Wir haben das Wochenende außerhalb von Paris in einem dieser seltsamen Landhotels verbracht, in denen man als Gast ständig das Gefühl hat, dem Personal im Weg zu stehen. Die Feier war nett, die Leute mitunter stressig. Einer meiner Cousins aus München hatte seine neue Freundin dabei, er wollte sie aber vor der Verwandtschaft nicht so nennen und hat deshalb immer gesagt: „Wir sind noch in der Kennenlernphase.“ Ihr hättet das Gesicht meiner Oma sehen sollen: „C’est quoi ça, une Kennelernphase?“ (Konnte ihr keiner so übersetzen, dass es für sie einen Sinn ergeben hätte.) Später standen die beiden aneinandergeschmiegt auf der Terrasse. Meine Mutter hatte die vorherige Szene nicht mitbekommen und fragte: „Wer ist denn deine neue Freundin?“ Da kam schon wieder der Satz: „Das ist Anastasia. Wir sind gerade allerdings noch in der Kennenlernphase.“ (Ich schließe daraus, dass es sich um ein im Vorfeld zwischen den beiden abgesprochenes Wording handelte. Das hat mich unendlich traurig gemacht.)
Im Grunde stimmst du mir also zu, das freut mich. Wo warst du am Wochenende? Du hattest gar nicht erzählt, dass du wegfährst.
Bitte entschuldige meine späte Antwort, Sidonie, ich war über das Wochenende verreist und musste mir jetzt erst einmal einen Weg zu meiner Wohnung bahnen (kein Witz: ich musste sogar vor den Augen der Polizei meinen Koffer öffnen und mich als Anwohner ausweisen), werde mir aber Mühe geben, auf deine Frage von letzter Woche zu antworten.
Das „schlechte Altern“ Sebalds habe ich ja zunächst bloß als Befund meiner eigenen Lesebiographie festgestellt. Aber vielleicht ist es wirklich so, dass Sebalds literarisches (moralisches, politisches) Projekt in der Zeit seines Entstehens eine Berechtigung hatte, die man ihm, von heute aus betrachtet, nicht zu leichtfertig entziehen sollte. Die Ringe des Saturn und Austerlitz entstehen Ende der 90er Jahre: es ist klar, dass Sebald mit diesen Romanen auch auf das Problem reagiert, dass eine auf Zeugenschaft beruhende Erinnerung an die Shoah unabwendbar im Erlöschen begriffen ist. Das ist erst einmal ein historischer Befund, vor dessen Hintergrund Sebalds Werk entstanden ist, ein konkretes, erinnerungspolitisches Problem, dessen er sich angenommen hat.
Es scheint mir, von heute aus betrachtet, eher die Art und Weise, wie er dieses Problem behandelt hat, die man kritisieren muss. Fragwürdig finde ich sein Bewusstsein von Zuständigkeit – als Literaturwissenschaftler und Romancier. Mittlerweile denke ich, dass er gewaltiges literarisches Kapital aus der Thematisierung der Shoah schlägt, und zwar durch eine zweifache Appropriation, nämlich des Themas selbst und der Mittel seiner literarischen Behandlung, die weitestgehend Walter Benjamin, mit seinem Selbstmord auf der Flucht vor den Nazis selbst ein Opfer des Genozids an den Juden, abgeschaut sind. Diese Appropriation ist von einer moralischen Ambivalenz, die tatsächlich noch einmal einer eigenen Problematisierung bedürfte. Das ginge dann auch über den Vorwurf der bloßen Epigonalität Sebalds hinaus. Doch gerade darauf zielt unsere Diskussion doch ab: Hatte der Versuch (positiv ausgedrückt), Benjamins mnemonische Metaphysik für den konkreten geschichtlichen Zeitpunkt von Sebalds Romanen zu re-aktualisieren, eine gewisse Berechtigung, die in der Beurteilung seines Werks berücksichtigt werden sollte?
Das „schlechte Altern“ Sebalds habe ich ja zunächst bloß als Befund meiner eigenen Lesebiographie festgestellt. Aber vielleicht ist es wirklich so, dass Sebalds literarisches (moralisches, politisches) Projekt in der Zeit seines Entstehens eine Berechtigung hatte, die man ihm, von heute aus betrachtet, nicht zu leichtfertig entziehen sollte. Die Ringe des Saturn und Austerlitz entstehen Ende der 90er Jahre: es ist klar, dass Sebald mit diesen Romanen auch auf das Problem reagiert, dass eine auf Zeugenschaft beruhende Erinnerung an die Shoah unabwendbar im Erlöschen begriffen ist. Das ist erst einmal ein historischer Befund, vor dessen Hintergrund Sebalds Werk entstanden ist, ein konkretes, erinnerungspolitisches Problem, dessen er sich angenommen hat.
Es scheint mir, von heute aus betrachtet, eher die Art und Weise, wie er dieses Problem behandelt hat, die man kritisieren muss. Fragwürdig finde ich sein Bewusstsein von Zuständigkeit – als Literaturwissenschaftler und Romancier. Mittlerweile denke ich, dass er gewaltiges literarisches Kapital aus der Thematisierung der Shoah schlägt, und zwar durch eine zweifache Appropriation, nämlich des Themas selbst und der Mittel seiner literarischen Behandlung, die weitestgehend Walter Benjamin, mit seinem Selbstmord auf der Flucht vor den Nazis selbst ein Opfer des Genozids an den Juden, abgeschaut sind. Diese Appropriation ist von einer moralischen Ambivalenz, die tatsächlich noch einmal einer eigenen Problematisierung bedürfte. Das ginge dann auch über den Vorwurf der bloßen Epigonalität Sebalds hinaus. Doch gerade darauf zielt unsere Diskussion doch ab: Hatte der Versuch (positiv ausgedrückt), Benjamins mnemonische Metaphysik für den konkreten geschichtlichen Zeitpunkt von Sebalds Romanen zu re-aktualisieren, eine gewisse Berechtigung, die in der Beurteilung seines Werks berücksichtigt werden sollte?
Ok, alles klar, es wird ja erst einmal auch so gehen.
Nein, die müsstest du manuell setzen. Ich würde euch aber ohnehin bitten, momentan darauf (und auch auf das Einbetten von YouTube-Videos o.ä.) zu verzichten, bis ich mich genauer in diese neue DSGVO eingelesen habe.
Werden URLs hier nicht automatisch in Links umgewandelt?
Wie, was, was, Holly Herndon? In einem Raum mit Jlin? Wie kannst du so gemein sein und mir das auch noch erzählen! (Für alle, die sie nicht kennen: https://www.youtube.com/watch?v=6baj34lxF4g / https://www.youtube.com/watch?v=nHujh3yA3BE / https://www.youtube.com/watch?v=DVeVa7uN2e4.)
Also: Der Freitagabend im HKW war sehr heterogen. Angefangen hat es mit einem Konzert von Canalón de Timbiquí, das ist eine kolumbianische Latin-Kombo, von der ich noch nie in meinem Leben gehört hatte. Dem Rest des Saales schien es nicht so zu gehen, ich hatte eher das Gefühl, dass ihr gesamter deutscher Fanclub angereist war, um eine riesengroße Party zu feiern. Während der Lieder wurde vom Publikum immer wieder kräftig mitgeklatscht, fast wie im Musikantenstadl. Interessanterweise hat sich das mit der wirklich sehr beeindruckenden Polyrhythmik der Percussionisten kaum gestört. Stimmung pur, die Hälfte der Anwesenden stand irgendwann und hat getanzt. Insgesamt muss ich aber sagen, dass das nicht meine Musik ist und ich gegenüber der im Publikum sichtlich verbreiteten Rezeptionshaltung ‚Weltmusik‘ gewisse Vorurteile hege (Exotisierung/Fetischierung des ‚Anderen‘ wird mit Weltoffenheit verwechselt, Typen in gebatikten Ballonhosen, selbstgedrehter Bio-Tabak usw. usf. Ist das eigentlich so ein Generationsding? Soweit ich das erkennen konnte, sahen deren Fans allesamt schon etwas älter aus und Linkssein war ja irgendwann einmal durchaus eng mit so einer verkappten „ich geb‘ mir ‘nen kritischen Anstrich, will in Wahrheit aber nur Urlaub machen“-Haltung verbunden, die ihren Sehnsuchtsort schon immer in Südamerika hatte. Die Band hat dem vielleicht auch ein bisschen in die Hände gespielt, das klang in meinen Ohren, wenn ich ehrlich sein soll, schon ziemlich nach Folklore).
Ganz anders war es am Dienstagabend bei Mulatu Astatke im Berghain. Das Konzert war grandios! Astatke hatte sein Vibraphon (Klanghölzer waren diese Woche das Ding) direkt an der vorderen Bühnenkante aufbauen lassen, zu seiner Rechten hatte er zwei Bläser, zu seiner Linken saß ein abgefahren guter Percussionist, es gab einen Pianisten, einen erstklassigen Kontrabassisten und (vermutlich einzig aus Gründen des Exzesses) auch noch einen Cellisten. Zusätzlich war sogar ein Schlagzeuger im Einsatz, sodass es zusammen mit Astatke, der auch noch ein Set Bongos spielte, und dem bereits erwähnten, drei (!) Percussionisten gab. Musikalisch haben die es wirklich auf die Spitze getrieben. Man muss das auch gar nicht irgendwie klanglich auftunen, um einen Technoclub damit bespielen zu können. Es geht um sehr komplexe harmonische Strukturen, Sound ist mindestens so wichtig wie Musik und ansonsten Beats, Beats, Beats. Wie könnte man auf die Idee kommen, Mulatu Astatke woanders als im Berghain auftreten zu lassen? Nun gut, zurück zur Ausgangsfrage: Er wird ja als „Vater des Ethio-Jazz“ bezeichnet und könnte deshalb auch unter dem Label „Weltmusik“ rubriziert werden, das war hier aber eine ganz andere Hausnummer als im HKW – und auch ein ganz anderes Publikum. Da konnte man zum Beispiel einen frühgreisen Mann in seinen Fünfzigern, der den traurigsten aller aschgrauen Bankfilialleiteranzüge trug, sehr sinnlich neben einer jungen Frau im Berghain-Kostüm (ganz in schwarz gekleidet) tanzen sehen, die der Musik eher beiwohnte, als sich ihr hinzugeben. Die Hälfte der Anwesenden (zum Beispiel ich) kannte Astatke vermutlich aus Broken Flowers von Jim Jarmusch, was seiner Musik insgesamt eine sehr außergewöhnliche und kontingente Reichweite verschafft, die sich an diesem Abend auch im Publikum abgebildet hat, das war angenehm.
Was ich damit sagen will ist: jede Band findet das zu ihr passende Publikum – und umgekehrt. Und damit komme ich auch endlich zu Jlin, bei der das Publikum schon wieder ein ganz anderes war, als beim vorangehenden Konzert: jünger, hipper, eindeutig an der Gegenwart interessiert. Was mich an ihr so fasziniert ist, dass sie es auf der einen Seite schafft, durch diese rhythmisierten Sampling-Effekte (Zerstückelung, Wiederholung, Verzerrung, usw.) einen ungeheuer paralysierenden Sog zu erzeugen, gleichzeitig aber auch sehr weite Klangräume schafft und mir dadurch als Zuhörerin ein Gefühl von Freiheit lässt. Konzentration und Weitläufigkeit dürfen nebeneinander bestehen und je länger dieser Zustand anhielt, desto schöner wurde es. Für zu Hause zum Entspannen wäre ihre Musik zwar auch nicht meine erste Wahl, im Club, und auch im ja sehr weitläufigen Foyer des HKW, hat sie aber eine ungeheure Wirkung entfaltet. Als dann Theo Parrish angefangen hat aufzulegen, war ich schon relativ müde. Er hat angenehm souligen House gespielt, sehr tanzbar, das war ein gelungener Ausklang für diesen Abend, lange bin ich dann aber nicht mehr geblieben. (Übrigens, Sidonie, Holly Herndon war auch da!)
Ganz anders war es am Dienstagabend bei Mulatu Astatke im Berghain. Das Konzert war grandios! Astatke hatte sein Vibraphon (Klanghölzer waren diese Woche das Ding) direkt an der vorderen Bühnenkante aufbauen lassen, zu seiner Rechten hatte er zwei Bläser, zu seiner Linken saß ein abgefahren guter Percussionist, es gab einen Pianisten, einen erstklassigen Kontrabassisten und (vermutlich einzig aus Gründen des Exzesses) auch noch einen Cellisten. Zusätzlich war sogar ein Schlagzeuger im Einsatz, sodass es zusammen mit Astatke, der auch noch ein Set Bongos spielte, und dem bereits erwähnten, drei (!) Percussionisten gab. Musikalisch haben die es wirklich auf die Spitze getrieben. Man muss das auch gar nicht irgendwie klanglich auftunen, um einen Technoclub damit bespielen zu können. Es geht um sehr komplexe harmonische Strukturen, Sound ist mindestens so wichtig wie Musik und ansonsten Beats, Beats, Beats. Wie könnte man auf die Idee kommen, Mulatu Astatke woanders als im Berghain auftreten zu lassen? Nun gut, zurück zur Ausgangsfrage: Er wird ja als „Vater des Ethio-Jazz“ bezeichnet und könnte deshalb auch unter dem Label „Weltmusik“ rubriziert werden, das war hier aber eine ganz andere Hausnummer als im HKW – und auch ein ganz anderes Publikum. Da konnte man zum Beispiel einen frühgreisen Mann in seinen Fünfzigern, der den traurigsten aller aschgrauen Bankfilialleiteranzüge trug, sehr sinnlich neben einer jungen Frau im Berghain-Kostüm (ganz in schwarz gekleidet) tanzen sehen, die der Musik eher beiwohnte, als sich ihr hinzugeben. Die Hälfte der Anwesenden (zum Beispiel ich) kannte Astatke vermutlich aus Broken Flowers von Jim Jarmusch, was seiner Musik insgesamt eine sehr außergewöhnliche und kontingente Reichweite verschafft, die sich an diesem Abend auch im Publikum abgebildet hat, das war angenehm.
Was ich damit sagen will ist: jede Band findet das zu ihr passende Publikum – und umgekehrt. Und damit komme ich auch endlich zu Jlin, bei der das Publikum schon wieder ein ganz anderes war, als beim vorangehenden Konzert: jünger, hipper, eindeutig an der Gegenwart interessiert. Was mich an ihr so fasziniert ist, dass sie es auf der einen Seite schafft, durch diese rhythmisierten Sampling-Effekte (Zerstückelung, Wiederholung, Verzerrung, usw.) einen ungeheuer paralysierenden Sog zu erzeugen, gleichzeitig aber auch sehr weite Klangräume schafft und mir dadurch als Zuhörerin ein Gefühl von Freiheit lässt. Konzentration und Weitläufigkeit dürfen nebeneinander bestehen und je länger dieser Zustand anhielt, desto schöner wurde es. Für zu Hause zum Entspannen wäre ihre Musik zwar auch nicht meine erste Wahl, im Club, und auch im ja sehr weitläufigen Foyer des HKW, hat sie aber eine ungeheure Wirkung entfaltet. Als dann Theo Parrish angefangen hat aufzulegen, war ich schon relativ müde. Er hat angenehm souligen House gespielt, sehr tanzbar, das war ein gelungener Ausklang für diesen Abend, lange bin ich dann aber nicht mehr geblieben. (Übrigens, Sidonie, Holly Herndon war auch da!)
(So viel für jetzt. Morgen ausführlicher!)
Ich habe Sebald nie gelesen, deshalb kann ich an dieser Stelle argumentativ nichts beisteuern, aber ich fasse eure Diskussion mal so zusammen, dass sie auf die Frage hinausläuft, ob Sebalds literarisches Werk schon immer altbacken und dadurch etwas unzeitgemäß war oder ob es einfach schlecht gealtert ist. Ließe sich von hier aus nicht auf eine entspanntere Weise (also erst einmal unter Absehung von der Höchststrafe „schlechte Literatur“) ein Urteil bilden? Und dann noch eine andere Frage: War von euch jemand gestern im HKW bei Jlin und Theo Parrish? Wie war’s?
Bei Kluge ist doch auch der Adorno-Bezug stärker. Und wir alle wissen: sobald Adorno ins Spiel kommt, wird alles besser. (Nicht nur die Stimmung.) (Ich verzeihe dir übrigens, keine Sorge.)
Jetzt traue ich mich gar nicht wirklich, es zu sagen, weil ich Angst habe, in Lennas Ansehen herabzusinken, aber ich muss gestehen, dass ich Sebald eine Zeit lang eigentlich ganz gut fand. Insbesondere Austerlitz: die Art, wie er da fremde Erfahrung durch die doppelte Zitierweise („…sagte x, sagte Austerlitz.“) als solche markiert, die Gelehrsamkeit, die Sprache usw. Irgendwann ist das aber auch bei mir gekippt, da fand ich das alles plötzlich ein wenig selbstgefällig. Ich habe in den letzten Tagen noch einmal darüber nachgedacht, warum das so ist und dabei auch noch einmal in Austerlitz reingelesen und ich glaube, dass es etwas damit zu tun hat, dass es da am Ende so eine seltsame, nämlich zugleich körperliche und metaphysische Dimension der Erinnerung geben soll, die jenseits des intellektuellen Diskurses des Gelehrten steht, nämlich in der ‚sinnlichen Erfahrung‘. Das kommt in der Erzählung von Austerlitz’ Reise nach Prag auf:
„Schon beim Herumgehen in dem Gewinkel der Gassen, durch Häuser und Höfe […] und vollends, wie ich, Schritt für Schritt bergan steigend, die unebenen Pflastersteine der Šporkova unter meinen Füßen spürte, war es mir, als sei ich auf diesen Wegen schon einmal gegangen, als eröffnete sich mir, nicht durch die Anstrengung des Nachdenkens, sondern durch meine so lange betäubt gewesenen und jetzt wiedererwachenden Sinne, die Erinnerung.“
Als Austerlitz dann sein früheres Kindermädchen trifft und diese im Gespräch unbedacht aus dem Französischen ins Tschechische wechselt, kann er plötzlich „wie ein Tauber, dem durch ein Wunder das Gehör wiederaufging, so gut wie alles, was Věra sagte“ verstehen, obwohl ihm zuvor nie der „Gedank[e] gekommen war, vom Tschechischen je berührt worden zu sein.“ Mit ein paar Jahren Abstand empfinde ich es als sehr einengend, dass die gesamte Perspektive auf Geschichte und Vergangenheit bei Sebald allein aus Melancholie besteht und die wenigen Momente des Glücks, die sich bei ihm andeuten, deshalb kaum mehr etwas anderes sein können als pure Metaphysik, die so eine ganz verkrampft-verkopfte Vorstellung von Körperlichkeit zum Vorwand nimmt. (Das ist übrigens auch der große Unterschied zwischen Sebald und Kluge, die ja manchmal zu unrecht miteinander verglichen werden. Sebalds Haltung zur Geschichte: Melancholie. Kluges Haltung zur Geschichte: Neugier und Möglichkeitssinn. Der Hauptunterschied zwischen Kluge und Sebald besteht allerdings darin, dass Kluges Ausgangspunkt eine eigene historische Erfahrung ist (Der Luftangriff auf Halberstadt), bei Sebald aber bloß die moralische Empörung darüber, dass in seinem bayrischen Dorf auch nach dem Krieg noch Nazis leben. Aus moralischer Empörung allein ist noch nie gute Literatur entstanden.)
„Schon beim Herumgehen in dem Gewinkel der Gassen, durch Häuser und Höfe […] und vollends, wie ich, Schritt für Schritt bergan steigend, die unebenen Pflastersteine der Šporkova unter meinen Füßen spürte, war es mir, als sei ich auf diesen Wegen schon einmal gegangen, als eröffnete sich mir, nicht durch die Anstrengung des Nachdenkens, sondern durch meine so lange betäubt gewesenen und jetzt wiedererwachenden Sinne, die Erinnerung.“
Als Austerlitz dann sein früheres Kindermädchen trifft und diese im Gespräch unbedacht aus dem Französischen ins Tschechische wechselt, kann er plötzlich „wie ein Tauber, dem durch ein Wunder das Gehör wiederaufging, so gut wie alles, was Věra sagte“ verstehen, obwohl ihm zuvor nie der „Gedank[e] gekommen war, vom Tschechischen je berührt worden zu sein.“ Mit ein paar Jahren Abstand empfinde ich es als sehr einengend, dass die gesamte Perspektive auf Geschichte und Vergangenheit bei Sebald allein aus Melancholie besteht und die wenigen Momente des Glücks, die sich bei ihm andeuten, deshalb kaum mehr etwas anderes sein können als pure Metaphysik, die so eine ganz verkrampft-verkopfte Vorstellung von Körperlichkeit zum Vorwand nimmt. (Das ist übrigens auch der große Unterschied zwischen Sebald und Kluge, die ja manchmal zu unrecht miteinander verglichen werden. Sebalds Haltung zur Geschichte: Melancholie. Kluges Haltung zur Geschichte: Neugier und Möglichkeitssinn. Der Hauptunterschied zwischen Kluge und Sebald besteht allerdings darin, dass Kluges Ausgangspunkt eine eigene historische Erfahrung ist (Der Luftangriff auf Halberstadt), bei Sebald aber bloß die moralische Empörung darüber, dass in seinem bayrischen Dorf auch nach dem Krieg noch Nazis leben. Aus moralischer Empörung allein ist noch nie gute Literatur entstanden.)
OK, ich gebe zu, dass Open City durch diesen späten Turn eine andere Qualität bekommt – das „peinlich“ sei in Bezug auf Cole zurückgezogen. Dennoch finde ich das Erzählmodell „Flaneur“ ein wenig aus der Zeit gefallen. Ich habe den Roman durchaus sehr gerne gelesen, der Erzählstil hat mich auch nie gestört, ganz im Gegenteil, man treibt da ja so mit. Dennoch wirkt er antiquiert und das scheint mir – genau wie bei Lerner – an dem unüberlesbaren Sebald-Einfluss zu liegen. Neben Benjamin werden bei Cole ja auch noch Roland Barthes La chambre claire und Sigmund Freud erwähnt. Benjamin + Barthes + Freud = Sebald. Das ist eine weltbekannte Formel, die schon im Moment ihres Entstehens zu ihrem eigenen Klischee geworden ist und deshalb bitte zukünftig beim Verfassen von Romanen vermieden werden sollte. (Vermutlich wisst ihr es, aber um Missverständnisse zu vermeiden, schreibe ich es noch einmal: Insbesondere Benjamin und Barthes sind zwei Autoren, die für mein eigenes Nachdenken über Kunst, Literatur und das Leben zentral sind. Gerade deshalb stößt mir ihre ständige Appropriation dermaßen auf.)
Verzeiht mir, dass ich so deutlich bin, aber Eure Argumente bezüglich Satin Island können mich in meiner Meinung nicht mehr umstimmen. Ich muss auch sagen, Lenna, dass ich Deinen Vergleich zwischen Ben Lerner und Teju Cole unangemessen finde. Deinem Urteil über Lerner stimme ich in der Tendenz (wenn auch nicht in diesem Wortlaut!) zu, Cole mit ihm in Verbindung zu bringen, bloß, weil auch in Open City Walter Benjamin erwähnt wird, ist aber eindeutig zu weit gegriffen. Zunächst einmal wäre darauf hinzuweisen, dass die Benjamin-Referenz bei Cole ganz anders angefügt wird als bei Lerner. Bei Lerner nimmt sie kommentarlos eine ganze Seite ein, bei Cole ist sie in die Begegnung mit einem ehemaligen Studenten der Komparatistik aus Marokko eingebettet, der nun in Brüssel in einem Internetcafé arbeitet und seiner gescheiterten, akademischen Karriere nachtrauert. Er studiert nebenher Übersetzung, liest Theorie und denkt über Palästina nach. Als jemand, der anti-zionistische Positionen vertritt, liest er jüdische Autoren, um Geschichte besser zu verstehen: „…I believe that his [Benjamins; F. W.] subtle revisions of Marx can help me understand the historical structure that makes difference possible.“ Gleichzeitig wird kurz zuvor vom Erzähler eine leichte Inkonsistenz seiner Positionen angedeutet, auch die Frage des Antisemitismus wird ganz klar gestellt. Das öffnet den Text für Ambivalenzen und ist keineswegs banal! Ein weiterer, zentraler Unterschied liegt darin, dass 10:04 rein selbstbezüglich ist, es Open City aber aufrichtig daran gelegen scheint, in der Erzählung des Protagonisten Julius die Geschichten der Menschen, denen er begegnet, mitzuerzählen, deren Erinnerungen aufzunehmen. Das scheinen mir keine bloßen Spiegelungen des Seelenzustands des Erzählers. Zum anderen kommt doch gerade am Ende heraus, dass Julius die ganze Zeit gegenüber einer Erinnerung, die für sein eigenes Leben zentral sein müsste, blind bleibt. Das wirft, denke ich, doch noch einmal eine ganz andere Perspektive auf den Roman und verleiht ihm eine Bedeutsamkeit, an der sich 10:04 nicht messen kann.
Cardi B kannte ich bisher auch gar nicht. Hip-Hop gegenüber und diesbezüglichen Innovationen bin ich ja eher ignorant. Diese Popcast-Ausgabe macht ja schon klar, dass man Hip-Hop, verschiedene Rap-Styles, etc. studieren muss, wenn man das innovativ betreiben will. Das fordert dann auch eine entsprechende Rezeption, wenn es über den bloß klanglichen Genuss (der mir hierbei weitestgehend fremd ist) hinausgehen soll.
Die Qualität des Popcasts schwankt beträchtlich, weil sie sehr von den Gästen abhängt. Der Gastgeber selbst hat diese penetrante amerikanische Leutseligkeit („…exactely!“), zu viel Pose verstellt zu wenig Argument. Mir fehlt oft die Geduld, das zu Ende zu hören. Gelegentlich konsultiere ich den ‚Popcast‘ einfach, um über Trends in Amerika informiert zu werden, genuin interessiert bin ich in der Regel nicht. Musikhistorische Ausgaben fand ich bisher am besten: Zu Chuck Berry und zu Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band. Das waren sehr aufschlussreiche Folgen zur Geschichte der Popmusik.
Die Qualität des Popcasts schwankt beträchtlich, weil sie sehr von den Gästen abhängt. Der Gastgeber selbst hat diese penetrante amerikanische Leutseligkeit („…exactely!“), zu viel Pose verstellt zu wenig Argument. Mir fehlt oft die Geduld, das zu Ende zu hören. Gelegentlich konsultiere ich den ‚Popcast‘ einfach, um über Trends in Amerika informiert zu werden, genuin interessiert bin ich in der Regel nicht. Musikhistorische Ausgaben fand ich bisher am besten: Zu Chuck Berry und zu Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band. Das waren sehr aufschlussreiche Folgen zur Geschichte der Popmusik.
Also, ich finde den Song von Lykke Li super. Das Deep End mit Bezug auf das hintere Ende des Swimming Pools zu entmetaphorisieren ist doch einfach nur toll. I’m in it. (So Fucking Deep.) Wer ist überhaupt Cardi B? Und lohnt sich dieser Popcast?
Ich habe mich erst gestern im Popcast der New York Times (es ging um Cardi B) darüber belehren lassen, dass der Sad Girl-Style 2018 nicht mehr zieht. Vorsicht also bei Lana Del Rey-Einflüssen. (Das gilt natürlich nicht für Lana selbst. Die sollte lieber bei ihren elegischen Hymnen bleiben, anstatt Hippie-Hip-Hop für unentschlossen politisierte Hedonisten zu machen.)
Die Brecht-Benjamin-Ausstellung habe ich leider verpasst. Oder wohl eher: „verpasst“. Habt ihr übrigens schon gesehen, dass Lykke Li zwei neue Songs veröffentlich hat? Sie klingt jetzt ein wenig wie eine Mischung aus Rihanna und Lana Del Rey (und sieht ja übrigens mittlerweile aus, als wäre sie Lady Gagas Schwester, vielleicht sogar Lady Gaga selbst). Deep End gefällt mir sehr gut. Die besten Songzeilen 2018 stehen auf jeden Fall fest:
„Swimming pool, swimming pool
Swimming pool, swimming pool“
Swimming pool, swimming pool“
Ich muss gestehen, dass ich noch nie etwas von Lerner gelesen habe. Ich bin „ihm“, also einem Video von ihm, nur einmal auf der Brecht-Benjamin-Ausstellung begegnet, die vor Kurzem in der Akademie der Künste stattgefunden hat. Mehrere Künstlerinnen und Künstler hatten zu der Ausstellung eigene Arbeiten beigesteuert, darunter auch eine größere Installation von Alexander Kluge, die aus mehreren Monitoren und Projektionen bestand. Auf einem der Monitore lief ein Gespräch mit Lerner. Keine Ahnung, worüber die geredet haben. Ich habe nur ganz kurz reingeschaut, weil ich so genervt war. Zum einen davon, dass die Ausstellung so karg war, zum anderen davon, dass Kluge mit dieser Installation so viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat. Es war nämlich so, dass die Ausstellung fast ausschließlich aus Texten, Fotografien und einigen Originaldokumenten bestand. Man konnte sich auch Aufnahmen von Radiosendungen anhören, die Benjamin geschrieben hatte, aber nur mit Kopfhörern. Bei Kluge hingegen liefen gleich zwei Tonspuren gleichzeitig über Boxen und haben den ganzen Raum beschallt. Das fand ich unpassend. Zumal Kluge, soweit ich weiß, die Ausstellung mitfinanziert hat. Dass er dann gleichzeitig mit so einem riesigen und lauten Eigenbeitrag vertreten ist, ist doch ehrlich gesagt deplatziert, könnte den falschen Eindruck erwecken. (Versteht mich nicht falsch: ich halte Kluge weiterhin für den besten und wichtigsten unter den lebenden deutschen Schriftstellern, aber was will ausgerechnet er von Lerner? Nach dem, was du schreibst, scheint da ja nicht viel zu holen zu sein.)
Ein Freund von mir hat mir neulich geschrieben, er sei von Satin Island genervt gewesen und hat in diesem Zuge nahgelegt, Ben Lerners 10:04 arbeite im Vergleich dazu auf eine wesentlich besser gelingende Art mit der (Des-)Integration multipler Narrative. Ich habe 10:04 daraufhin gelesen und muss sagen, dass ich es sterbenslangweilig und unglaublich prätentiös finde. Nicht, dass der Erzähler in Satin Island nicht prätentiös wäre. Das scheint mir aber in der Figur angelegt und angezeigt und für diese Figur, zu der der Roman selbst dann doch auch eine gewisse Distanz zulässt, passend. Bei Lerner aber ist Lerner selbst prätentiös. Unfassbar fand ich u.a., dass er Paul Klees Angelus Novus in seinem Roman abdruckt und da auch noch ein Zitat aus Benjamins Über den Begriff der Geschichte drunter setzt. Das scheint vollkommen erst gemeint, als wolle er damit eine Tradition, Höhe und Bedeutsamkeit für sich reklamieren, als könne er da irgendwie anschließen. In einem Roman aus dem Jahr 2015 ist das einfach nur peinlich. (Teju Cole erwähnt den Benjamin-Text ja auch in Open City. Ist das so ein melancholisches Männerding? Überidentifikation mit Walter Benjamin? Und ist das vielleicht die Frage der Gegenwartsliteratur? Vergangenheit und Erinnerung unpeinlich erzählen!?) Und dann so Sätze wie: „…when the snow seemed like a technology for defeating time, or like defeated time itself falling from the sky” – puh. Hier noch eine längere Passage, die ich besonders schlimm fand:
„Eventually he turned from the river and wandered back through Brooklyn Heights. On a small cobblestone street that dead-ended unexpectedly, some conspiracy of brickwork and chill air and gaslight gave him the momentary sense of having traveled back in time, or of distinct times being overlaid, temporalities interleaved. No: it was as if the little flame in the gas lamp he paused before were burning at once in the present and in various pasts, in 2012 but also in 1912 or 1883, as if it were one flame flickering simultaneously in each of those times, connecting them. He felt that anyone who had ever paused before the lamp as he was pausing was briefly coeval with him, that they were all watching the same turbulent point in their respective present tenses. Then he imagined his narrator standing before it, imagined that the gaslight cut across worlds and not just years, that the author and the narrator, while they couldn’t face each other, could intuit each other’s presence by facing the same light, a kind of correspondence.“
Das klingt doch alles falsch, als sei es einzig und allein darauf hingeschrieben, dass irgendein eifriger Undergrad eine Hausarbeit mit einem Titel wie „Remembering the Presents. Time and Memory in Proust, Sebald and Lerner“ schreibt. Überhaupt, dieses ständige gesebalde: furchtbar. 10:04 ist von vorn herein darauf hingeschrieben, „interpretiert“ zu werden, Fährten zu legen usw. In Satin Island scheint das zwar ähnlich, aber nicht durch die Eitelkeit eines nach dem „Authentischen“ suchenden Autors/Erzählers verklärt (es gibt in 10:04 zwar diese Selbstironisierungen, er weiß auch von der Entfremdung und der eigenen Uneigentlichkeit, authentisch will er aber sein), sondern komplett nach außen gekrempelt. Nicht, dass dort nicht auch alles Mögliche herbeizitiert würde, aber das wird eben auch als penetrantes Herbeizitiere sichtbar. Das kann zwar auch nervig sein, nur wirkt 10:04 in diesem seltsam naiven Restglauben an authentische Erfahrungen im Poetischen (bei dem es sich, glaube ich, im Grunde um den krampfhaften Willen zur Aufrechterhaltung eines überkommenen Habitus handelt, dessen Lächerlichkeit doch allen Beteiligten klar sein müsste) im Vergleich geradezu reaktionär. (Kitschig sowieso. In dieser Hinsicht ist er Netherland sicherlich näher als Satin Island.)
„Eventually he turned from the river and wandered back through Brooklyn Heights. On a small cobblestone street that dead-ended unexpectedly, some conspiracy of brickwork and chill air and gaslight gave him the momentary sense of having traveled back in time, or of distinct times being overlaid, temporalities interleaved. No: it was as if the little flame in the gas lamp he paused before were burning at once in the present and in various pasts, in 2012 but also in 1912 or 1883, as if it were one flame flickering simultaneously in each of those times, connecting them. He felt that anyone who had ever paused before the lamp as he was pausing was briefly coeval with him, that they were all watching the same turbulent point in their respective present tenses. Then he imagined his narrator standing before it, imagined that the gaslight cut across worlds and not just years, that the author and the narrator, while they couldn’t face each other, could intuit each other’s presence by facing the same light, a kind of correspondence.“
Das klingt doch alles falsch, als sei es einzig und allein darauf hingeschrieben, dass irgendein eifriger Undergrad eine Hausarbeit mit einem Titel wie „Remembering the Presents. Time and Memory in Proust, Sebald and Lerner“ schreibt. Überhaupt, dieses ständige gesebalde: furchtbar. 10:04 ist von vorn herein darauf hingeschrieben, „interpretiert“ zu werden, Fährten zu legen usw. In Satin Island scheint das zwar ähnlich, aber nicht durch die Eitelkeit eines nach dem „Authentischen“ suchenden Autors/Erzählers verklärt (es gibt in 10:04 zwar diese Selbstironisierungen, er weiß auch von der Entfremdung und der eigenen Uneigentlichkeit, authentisch will er aber sein), sondern komplett nach außen gekrempelt. Nicht, dass dort nicht auch alles Mögliche herbeizitiert würde, aber das wird eben auch als penetrantes Herbeizitiere sichtbar. Das kann zwar auch nervig sein, nur wirkt 10:04 in diesem seltsam naiven Restglauben an authentische Erfahrungen im Poetischen (bei dem es sich, glaube ich, im Grunde um den krampfhaften Willen zur Aufrechterhaltung eines überkommenen Habitus handelt, dessen Lächerlichkeit doch allen Beteiligten klar sein müsste) im Vergleich geradezu reaktionär. (Kitschig sowieso. In dieser Hinsicht ist er Netherland sicherlich näher als Satin Island.)
Ich habe die beiden Romane ja durchaus zusammengelesen. Gleich am Anfang von Satin Island gibt es doch diesen Rückverweis auf Remainder, wenn als Grund für die Verzögerungen am Flughafen angegeben wird, dass ein Privatflugzeug über Südengland „in idiosyncratic patterns“ fliegt und dadurch den Flugverkehr über einem großen Teil Europas blockiert.
Ich bin in dieser Perspektive aber sicherlich auch durch einen Essay von Zadie Smith beeinflusst, den sie vor einigen Jahren in der New York Review of Books veröffentlicht hat. (Wenn ich mich übrigens richtig erinnere, hat Jan auf diesen Zusammenhang in seiner Einführung zum Workshop kurz Bezug genommen, da wurden auch noch ein oder zwei Dinge zu gesagt, im Bericht taucht das komischer Weise gar nicht mehr auf.) Smith vergleicht Remainder dort mit dem Roman Netherland von Joseph O’Neill bzw. stellt sie beide als Alternativen des Romans (mit großem R) im frühen 21. Jahrhundert gegenüber. Netherland klassiert Smith dabei als Prototypen eines, wie sie es nennt, ‚lyrical realism‘, der sich in der englischsprachigen Erzählliteratur zu einem dominanten (von ihr mit Polemik belegten) Modell entwickelt habe. Remainder dagegen sieht sie in der Tradition einer ‚Avantgarde‘, die den Roman als literarische Form durch seine radikale Infragestellung erneuere. Sie macht das zum einen an der Austreibung der Psychologie aus dem Protagonisten fest. Zum anderen beobachtet sie, dass Netherland seinem Protagonisten permanent irgendwelche Epiphanien erfahren lasse, was Remainder im Gegenzug komplett verweigere. Interessant ist nun, dass die Handlung von Netherland zu großen Teilen auf Staten Island stattfindet, der Stadtteil von New York, auf den auch Satin Island anspielt. Nun endet Netherland auch noch mit einer Epiphanie, nämlich damit, dass der Erzähler und Protagonist mit seiner Frau und seinem Sohn in London im Sonnenuntergang Riesenrad fährt. Dabei erinnert er sich plötzlich an einen anderen Sonnenuntergang, den er mit seiner Mutter in New York erlebt hat: „We were sailing on the Staten Island Ferry on a September day’s end.“ Dieser Sonnenuntergang wird dann beschrieben, ist klar, bis er sich – so schlimm ist dieses Buch – daran erinnert, wie sein Blick denjenigen seiner Mutter traf, die ihn anlächelte und dann, zack, mit den Gedanken zurück in London:
„Which is how I come to face my family with the same smile.
‚Look!‘ Jake is saying, pointing wildly. ‚See, Daddy?‘
I see, I tell him, looking from him to Rachel and again to him. Then I turn to look for what it is we’re supposed to be seeing.“
ENDE DES ROMANS. Wenn man nun das Ende von Satin Island liest, wird klar, dass sowohl Netherland als auch der Essay von Zadie Smith als Intertext dienen. U. steht am Rande von Manhatten und entscheidet sich dagegen, die Fähre nach Staten Island zu nehmen: „To go to Staten Island—actually go there—would have been profoundly meaningless. […] Not to go there was, of course, profoundly meaningless as well.“ Das spielt zwar auch alles im Sonnenuntergang, eine Epiphanie ist hier aber nicht in Sicht (nur transzendentale Obdachlosigkeit). Und von da aus tritt U. dann seinen Rückweg in die Stadt an. Ich muss schon sagen, dass mir diese Form der intertextuellen Bezüge in Satin Island dann doch großen Spaß gemacht haben. Wie sich alles mögliche andeutet und dann doch nicht unbedingt realisiert, zumindest nicht so, wie gedacht. (Wobei es zu der Frage des Sonnenuntergangs noch einiges zu sagen gäbe, und zwar in Bezug auf Claude Lévi-Strauss, der in Satin Island ja auch die ganze Zeit zitiert wird und der es sich in Tristes Tropiques zur Aufgabe macht, einen Sonnenuntergang (oder war es ein Aufgang?) so genau wie möglich zu beschreiben und das dann auch über Seiten hinweg macht. Das führt jetzt aber zu weit.)
Ich bin in dieser Perspektive aber sicherlich auch durch einen Essay von Zadie Smith beeinflusst, den sie vor einigen Jahren in der New York Review of Books veröffentlicht hat. (Wenn ich mich übrigens richtig erinnere, hat Jan auf diesen Zusammenhang in seiner Einführung zum Workshop kurz Bezug genommen, da wurden auch noch ein oder zwei Dinge zu gesagt, im Bericht taucht das komischer Weise gar nicht mehr auf.) Smith vergleicht Remainder dort mit dem Roman Netherland von Joseph O’Neill bzw. stellt sie beide als Alternativen des Romans (mit großem R) im frühen 21. Jahrhundert gegenüber. Netherland klassiert Smith dabei als Prototypen eines, wie sie es nennt, ‚lyrical realism‘, der sich in der englischsprachigen Erzählliteratur zu einem dominanten (von ihr mit Polemik belegten) Modell entwickelt habe. Remainder dagegen sieht sie in der Tradition einer ‚Avantgarde‘, die den Roman als literarische Form durch seine radikale Infragestellung erneuere. Sie macht das zum einen an der Austreibung der Psychologie aus dem Protagonisten fest. Zum anderen beobachtet sie, dass Netherland seinem Protagonisten permanent irgendwelche Epiphanien erfahren lasse, was Remainder im Gegenzug komplett verweigere. Interessant ist nun, dass die Handlung von Netherland zu großen Teilen auf Staten Island stattfindet, der Stadtteil von New York, auf den auch Satin Island anspielt. Nun endet Netherland auch noch mit einer Epiphanie, nämlich damit, dass der Erzähler und Protagonist mit seiner Frau und seinem Sohn in London im Sonnenuntergang Riesenrad fährt. Dabei erinnert er sich plötzlich an einen anderen Sonnenuntergang, den er mit seiner Mutter in New York erlebt hat: „We were sailing on the Staten Island Ferry on a September day’s end.“ Dieser Sonnenuntergang wird dann beschrieben, ist klar, bis er sich – so schlimm ist dieses Buch – daran erinnert, wie sein Blick denjenigen seiner Mutter traf, die ihn anlächelte und dann, zack, mit den Gedanken zurück in London:
„Which is how I come to face my family with the same smile.
‚Look!‘ Jake is saying, pointing wildly. ‚See, Daddy?‘
I see, I tell him, looking from him to Rachel and again to him. Then I turn to look for what it is we’re supposed to be seeing.“
ENDE DES ROMANS. Wenn man nun das Ende von Satin Island liest, wird klar, dass sowohl Netherland als auch der Essay von Zadie Smith als Intertext dienen. U. steht am Rande von Manhatten und entscheidet sich dagegen, die Fähre nach Staten Island zu nehmen: „To go to Staten Island—actually go there—would have been profoundly meaningless. […] Not to go there was, of course, profoundly meaningless as well.“ Das spielt zwar auch alles im Sonnenuntergang, eine Epiphanie ist hier aber nicht in Sicht (nur transzendentale Obdachlosigkeit). Und von da aus tritt U. dann seinen Rückweg in die Stadt an. Ich muss schon sagen, dass mir diese Form der intertextuellen Bezüge in Satin Island dann doch großen Spaß gemacht haben. Wie sich alles mögliche andeutet und dann doch nicht unbedingt realisiert, zumindest nicht so, wie gedacht. (Wobei es zu der Frage des Sonnenuntergangs noch einiges zu sagen gäbe, und zwar in Bezug auf Claude Lévi-Strauss, der in Satin Island ja auch die ganze Zeit zitiert wird und der es sich in Tristes Tropiques zur Aufgabe macht, einen Sonnenuntergang (oder war es ein Aufgang?) so genau wie möglich zu beschreiben und das dann auch über Seiten hinweg macht. Das führt jetzt aber zu weit.)
Ich fand Satin Island einfach irre witzig. Bestimmt auch, weil ich mich selbst und das Milieu, in dem ich mich bewege, darin wiedererkannt habe. Daraus würde ich dem Text aber keinen Vorwurf machen, denn Zeitgenossenschaft, „recentness“ (deshalb heißt es ja ‚novel‘ im Sinne von Neuigkeit) gehört doch ganz wesentlich zum modernen Roman, findet ihr nicht? Der Text ist auch formal wahnsinnig interessant. Das kam in dem Bericht gut zur Sprache, wie die einzelnen Handlungsbögen und Motive Bezug aufeinander nehmen, wie der Text Erfahrungen verdichtet und aufschichtet. Super!
Trotzdem fand ich Remainder besser. Der Text ist formal weniger experimentell, also hinsichtlich der Romanform (mir fällt kein besseres Wort ein!) klassischer. Das hat mir aber gerade gut gefallen, weil das Innovative des Romans dadurch komplett von der Hauptfigur ausging. Satin Island ist so polymorph, während Remainder als Text sehr zentriert ist, eben auf den Protagonisten. Dessen völlige subjektive Leere gibt dem Roman nämlich sämtliche formalen Innovationen vor, sodass der Text insgesamt abgerundeter ist, literarischer und trotzdem reichlich seltsam.
Neulich habe ich zum Beispiel einer Freundin von Remainder erzählt und sie fragte mich, wie es denn sein kann, dass der Protagonist nie jemandem erklären muss, weshalb er die sehr aufwendigen und zunehmend moralisch fragwürdigen Handlungen re-enacten lässt. Sie wollte darauf hinaus, dass der Protagonist doch sicher an irgendeinem Punkt seine Handlungen anderen Figuren gegenüber erklären muss und dabei innerliche Motivationen würde benennen müssen, die ihn letztendlich doch als Subjekt authentifizieren würden. Aber genau dazu kommt es in Remainder (fast) nie. Denn die Kommunikation zwischen den Figuren findet nicht über das Medium Sinn (seine Handlungen motivieren, finalisieren, auf Ursprünge beziehen, etc.) statt, sondern über das Medium Geld. Die Begriffsprägung von Luhmann ist für diese Beobachtung echt brauchbar! Denn die Interaktion zwischen Handelnden kann mittels Geld mindestens genauso effektiv gesteuert werden wie mittels Sinn. Deshalb war es für den Roman nicht nur gut erfunden, sondern auch formal wirklich eindrucksvoll, dass der Protagonist eine Unmenge an settlement money zur Verfügung hatte, nachdem ein herabgefallenes Ding sein Gedächtnis ausgelöscht hatte. (Der Titel der deutschen Übersetzung (8½ Millionen) spielt darauf an und ist deshalb gar nicht schlecht gewählt.)
Trotzdem fand ich Remainder besser. Der Text ist formal weniger experimentell, also hinsichtlich der Romanform (mir fällt kein besseres Wort ein!) klassischer. Das hat mir aber gerade gut gefallen, weil das Innovative des Romans dadurch komplett von der Hauptfigur ausging. Satin Island ist so polymorph, während Remainder als Text sehr zentriert ist, eben auf den Protagonisten. Dessen völlige subjektive Leere gibt dem Roman nämlich sämtliche formalen Innovationen vor, sodass der Text insgesamt abgerundeter ist, literarischer und trotzdem reichlich seltsam.
Neulich habe ich zum Beispiel einer Freundin von Remainder erzählt und sie fragte mich, wie es denn sein kann, dass der Protagonist nie jemandem erklären muss, weshalb er die sehr aufwendigen und zunehmend moralisch fragwürdigen Handlungen re-enacten lässt. Sie wollte darauf hinaus, dass der Protagonist doch sicher an irgendeinem Punkt seine Handlungen anderen Figuren gegenüber erklären muss und dabei innerliche Motivationen würde benennen müssen, die ihn letztendlich doch als Subjekt authentifizieren würden. Aber genau dazu kommt es in Remainder (fast) nie. Denn die Kommunikation zwischen den Figuren findet nicht über das Medium Sinn (seine Handlungen motivieren, finalisieren, auf Ursprünge beziehen, etc.) statt, sondern über das Medium Geld. Die Begriffsprägung von Luhmann ist für diese Beobachtung echt brauchbar! Denn die Interaktion zwischen Handelnden kann mittels Geld mindestens genauso effektiv gesteuert werden wie mittels Sinn. Deshalb war es für den Roman nicht nur gut erfunden, sondern auch formal wirklich eindrucksvoll, dass der Protagonist eine Unmenge an settlement money zur Verfügung hatte, nachdem ein herabgefallenes Ding sein Gedächtnis ausgelöscht hatte. (Der Titel der deutschen Übersetzung (8½ Millionen) spielt darauf an und ist deshalb gar nicht schlecht gewählt.)
Satin Island ist bestimmt nicht Tom McCarthys bestes Buch. Ich kann deine Fundamentalkritik, Felix, aber nicht teilen. Ich finde es überhaupt schwierig, den Text von der Frage her zu beurteilen, ob es sich um eine Parodie handeln soll. So eine Beurteilung fällt doch bloß in Fragen der Autor-Intention zurück. Oder ist ein Text bereits hinreichend als Parodie-auf zu lesen, wenn, wie hier, so klare Intertextbezüge und Habitusformen den Text prägen? Du hast darüber bestimmt eingehender nachgedacht als ich, aber ein „methodologische[s] Defizit“ scheint mir ehrlich gesagt auch deine Kritik zu bedrohen.
Der Bericht hat einige interessante Perspektiven auf den Text eröffnet, die mich aufrichtig überrascht haben. Ich befürchte deshalb, dass man diesen Roman mit einer derart groß angelegten Exegese durchaus überlastet. Ich hielt Satin Island bisher im Wesentlichen für eine Parodie, geschrieben von einem Geisteswissenschaftler für Geisteswissenschaftler. Der Text appelliert doch in jeder Hinsicht an das schlechte Gewissen subventionierter Universitätsfeuilletonisten: Dem Produktivitätsdefizit des Protagonisten, einem Ethnologen (!), wird dadurch geschmeichelt, dass er eine gut bezahlte Stellung in der freien Wirtschaft einnimmt. Das methodologische Defizit des Protagonisten – ich wiederhole, es handelt sich um einen Ethnologen (!) – wird durch die Großspurigkeit seines Forschungsauftrages kompensiert, einen „Great Report“ über die Kultur der Gegenwart zu verfassen. Dabei wird dort auch noch allenthalben ‚Theorie‘ anzitiert, auf einem Niveau, dass auch wirklich jeder Bachelor-Student mitkommt. Eine ernstzunehmende Auseinandersetzung ist das nicht. Wirklich nicht. Gerade wenn man selbst redlich zu forschen bemüht ist, kann man darüber doch nur lachen. Und das Beste, was ich über Satin Island zu sagen habe, ist, dass man darüber auch lachen soll. Darum geht es in dem Buch.
Den „Rattenmann“ kenne ich nicht (Zum Glück? Klingt schrecklich!), über letzteres muss ich noch nachdenken. Eine andere Frage: habt ihr schon gesehen, dass der Bericht zum Satin Island-Workshop online ist?
Nein, du kennst den „Rattenmann“ nicht? Oder nein, Selbstgenuss ist keine Form von ethischer Wahrheit?
Nein.
Kennst du Freuds „Rattenmann“? Selbstgenuss ist übrigens eine Form von ethischer Wahrheit.
Mir fällt dazu gerade nur eine Anekdote ein: Ich habe mir einmal einen Vortrag im Tieranatomischen Theater auf dem Campus der Charité angehört, es sprach ein Mitarbeiter vom Institut für Physiologie. Nach der allgemeinen Einführung schritt der Referent zu einem Beispiel aus dem zweiten Semester des Medizinstudiums über und ich verstand kein Wort mehr: Sauerstoffpartialdruck, Humane Umbilikalvenen-Endothelzellen, Expression von Konnexon Cx40, Härmatokrit, Erythrozytenproduktion, vaskuläre Signalweiterleitung, Perfusion, Distribution, Konduktion, usw. usf. Habe mich prächtig amüsiert. Das alles hatte irgendetwas mit der Fähigkeit zur Aufnahme von Sauerstoff zu tun. Besonders gefreut hat mich aber der Satz: „Sie wundern sich, dass die Zahlen hier ganz andere sind. Das liegt daran, dass wir hier in die Ratte gegangen sind. Wir haben das Modell also auf die Ratte angepasst.“ — Ich glaube übrigens, dass es in der Auseinandersetzung mit Theorie um mehr gehen sollte als Selbstgenuss, nämlich – excuse my pathos – um Wahrheit.
Ist das nicht der Prozess, den fast jeder im Verlauf des Studiums durchläuft? Im ersten Semester ist alles noch neu und fremd und die ganze Fachterminologie, die da auf einen niederprasselt, fühlt sich wie eine Verheißung auf einen ungeahnten Wissensschatz an. Ab dem zweiten Semester kommen einem die ersten Dinge vertraut vor und man bekommt langsam ein Bewusstsein für die Kraft, die in der Auseinandersetzung mit Theorie liegt. Mir ging es zumindest so, dass ich für eine lange Zeit mit jedem neuen Theorem das Gefühl hatte, ganz neue Erfahrungswelten aufzuschließen. Daraus kann durchaus ein Gefühl der Überlegenheit entstehen. Aber dann lässt das nach. Irgendwann merkt man nämlich, dass man ein ganzes Stück weit zum Fachidioten geworden ist und empfindet die Theorie gar nicht mehr als Bereicherung, sondern als Limitierung der Sichtweise auf die Welt, fühlt sich dadurch abgeschnitten vom Leben, den ganzen Erfahrungen, die man machen könnte, würde man die Nase nicht den ganzen lieben Tag lang in Bücher stecken usw. usf. Wenn man Pech hat wird man dann traurig und traut sich am Ende gar nicht mehr, das Studium tatsächlich abzuschließen, aus Angst vor dem, was danach kommt. Dabei sollte die genuine Erfahrung, die aus jeder Auseinandersetzung mit Theorie, mit Kunst, dem Leben oder mit was auch immer hervorgeht, doch darin bestehen sich selbst im Überschreiten von Grenzen als denkenden Menschen zu genießen. (Deshalb glaube ich mittlerweile, dass eine Theorie nur dann eine gute Theorie ist, wenn sie ihre eigene Grenze mit anzeigt, also das, was sich ihr entzieht, und wenn sie den Menschen die Aufgabe erteilt, diese Grenze zu überschreiten. Wenn sie also in eine Richtung zeigt, an der die Menschen die Theorie hinter sich lassen müssen.)
Bitte seid mir nicht böse, aber immer, wenn ich Leute über ihre Erfahrungen in der Studienstiftung reden höre, muss ich an den sogenannten Dunning-Kruger-Effekt denken. Das ist ein sozialpsychologisches Konzept, demzufolge Leute, die in einem bestimmten Bereich erste Erfolge verbuchen konnten oder erste, geringe Kenntnisse erlangt haben, zu besonders großer Selbstüberschätzung neigen. Haben Menschen in einem bestimmten Bereich überhaupt keine Kenntnisse, sind sie sich dessen in der Regel auch bewusst. Wenn man aber ein wenig weiß, entsteht häufig ein sehr verzerrtes Selbstbild. Das hängt u. a. auch damit zusammen, dass mit den ersten Erfahrungen der eigenen Kompetenz noch keine Urteilsfähigkeit darüber entsteht, was man alles nicht kann und nicht weiß. So steigt etwa die Fehlerhäufigkeit von Piloten während der ersten 800 Flugstunden an, weil sie sich zunehmend für Fliegerasse halten. Erst danach bildet sich wieder Bewusstsein für die Grenzen der eigenen Fähigkeiten. Das gleiche konnte hinsichtlich einer bestimmten, sehr komplizierten Wirbelsäulenoperation beobachtet werden, bei der Chirurgen zwischen dem 16. und 20. Eingriff am ehesten zu Kunstfehlern neigen. Eben weil sie glauben, sie beherrschten die Operation jetzt bereits ohne besondere Vorsichtsmaßnahmen. Klingt vertraut, nicht wahr?
Ja, das klingt ganz nach Simon. Ich kann allerdings zu seiner Verteidigung sagen, dass er wirklich nicht faul ist. Als wir am Ende der Woche die Gruppenpräsentation für den Abschlussabend vorbereiten sollten und alle anderen sich gedrückt haben, waren wir zwei die einzigen, die noch produktiv gearbeitet haben. Nun gut, genug von ihm. Ich hoffe, ihr hattet alle ein gutes Osterfest. Seid ihr nächstes Wochenende in Berlin? Ich komme auf für zwei Nächte vorbei. Schlafe bei Lenna, vielleicht ergibt sich ja etwas.
Oh, ok, der Typ! Keine angenehme Erinnerung. Wir waren einmal zusammen auf irgendeinem Kolleg. Er hat dort ein Referat gehalten, irgendetwas über Ästhetik im 18. Jahrhundert, und es dabei nicht verpasst, alle fünf Minuten zu bemerken, wie „kompliziert“ die von ihm referierten Theorien doch seien, um auch ja seine eigene Kompetenz zu unterstreichen. Er hat dann auch mehrmals nachgefragt, ob wir das denn nun wirklich verstanden hätten. Es wurde im Verlauf der Woche viel über ihn gelacht.
Auf Facebook seid ihr befreundet…
Danke! Ich weiß allerdings nicht, wer das sein soll.
Ach, ganz schön, aber auch ein wenig anstrengend. Ich bin erst super spät dort angekommen und habe die Einführungsveranstaltung verpasst. Immerhin hatten die in der Küche etwas zu Essen für mich aufbewahrt, sonst wäre ich gestorben. Das Seminar war nicht schlecht („Kritik der Gewalt – Walter Benjamin und Judith Butler“), auch wenn die üblichen Schwätzer und Poseure dabei waren. Abends konnte man ganz gut am Wasser sitzen und Dosenbier vom Kiosk trinken (zu Kneipenpreisen, egal). Simon Lill war übrigens auch da, Alex, er hat mir erzählt, dass ihr euch von irgendeiner Veranstaltung kennt, er wusste aber auch nicht mehr genau, von welcher. Soll schön grüßen!
Und wie war es?
Schon seit Samstag!
Bist du schon von der Akademie zurück?
Dann nehme ich eben das Grün. Erinnert mich an meine alte Barbour-Jacke.
Ne, ich bleibe doch blieber beim Grau.
Parfait.
Schau mal unter User -› Settings -› Colors, da kannst du dir eine eigene Farbe einstellen.
Kann ich die Hintergrundfarbe meiner Beiträge selbst einstellen oder bleibt die so?
Test. Test.
OK Leute, wir haben das neue Message Board jetzt eingerichtet. Probiert es einfach mal aus.